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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1120–1121

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schirr, Bertram J.

Titel/Untertitel:

Fürbitten als religiöse Performance. Eine ethnographisch-theologische Untersuchung in drei kontrastierenden Berliner Gottesdienstkulturen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 414 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 70. Geb. EUR 74,00. ISBN 978-3-374-05416-9.

Rezensent:

Thomas Klie

Die Fürbitte ist traditionell der einzige Ort im Gottesdienst, an dem im Modus des Gebets der Weltbezug des Glaubens über die konkreten Sorgen der Christengemeinschaft zum Ausdruck kommen. Wie aber verkörpert sich diese bis in die neutestamentliche Zeit zurückreichende Fürsprache gegenwärtig in den Liturgien urbaner Gemeinden? Der Akzent liegt bei dieser Göttinger Dissertation von Bertram J. Schirr weniger auf dem, was da jeweils gebetet wird, sondern vielmehr auf dem, wie die Gottesdienstgemeinde leiblich kollaboriert (in Stimmführung, Gestik, Bewegung und Klang) und was mit den Versammelten dabei geschieht. »Nicht wie aus theologischer Sicht Fürbitten sein sollten, sondern wie sie tatsächlich praktiziert werden«, soll hier rekonstruiert werden (16). Was also tut sich unter den Betenden, wenn »Körper andere Körper wahrnehmen und einander in besonderer Weise gegenwärtig werden« (71)? Wo ereignet sich jenseits von »Homiletisierung« (Meyer-Blanck) und »Pädagogisierung« (Kunz) der Fürbitten Ungeplantes und Unkontrollierbares? Und wie gestaltet sich dabei das partizipative Zusammenspiel von Liturgisierenden und Gemeinde?
Rückt man die Fürbitte (bzw. das allgemeine Kirchengebet) in diese Perspektive ein, dann tritt man natürlich in den Inszenierungsdiskurs ein, der seit gut 20 Jahren die Liturgik bestimmt. Der Vf. verfolgt hier kundig die gelegten Spuren und schreitet mutig weiter voran in Richtung auf eine Theorie der kollektiven Gebetsperformanz, bei der weniger Produktion, Skript und Wortlaut im Vordergrund stehen, sondern Ereignis, Mimesis und Emergenz. Religionskulturell befördert wird diese Perspektive durch die Pluralisierung und zunehmende Hybridisierung der evangelischen Gottesdienstlandschaft. Um das liturgische Gebetshandeln als gleichermaßen »Hand- und Kunstwerk« zu beschreiben, werden Anleihen gemacht bei den Performance-Studies (Schechner, Turner), der Performativitätstheorie (Fischer-Lichte) und bei van Eikels »Kunst des Kollektiven« mit dem Ziel, das Riskante und Experimentelle der Präsenzerzeugung abzubilden. Das postdramatische Theater (Lehmann) bleibt in diesem Konzert erstaunlicherweise unerwähnt. Methodisch rekurriert der Vf. auf Marcel Mauss’ Theorie der Körpertechniken und übernimmt von Derrida und Butler den Theoriebaustein der Zitathaftigkeit und Iterabilität für seine Konzeption des Performativen. Damit sollen die gemeindlich vorformatierten Techniken professionell angeleiteten Betens offen gehalten werden für die Möglichkeit von Irritationen, Fehlgängen und situativen Abweichungen. Es gilt empirisch herauszufinden, »wie Menschen trotz ihrer Differenzen in den Fürbitten zusammenarbeiten können« (70).
Gegenstand der hier vorliegenden »ethnographisch-theologischen Untersuchung« sind drei sehr unterschiedliche Berliner Ge­meinden: eine pfingstlerische Migrationsgemeinde (»International Christian Salvation Church«), eine postevangelikale Neupflanzung (»Kirche für Berlin«) und eine hochliturgische landeskirchliche Gemeinde (Pseudonym). Auswahlkriterium für die landeskirchliche Gemeinde war, dass in ihren Gottesdiensten »Lektoren die Fürbitten mitgestalten und Responsorien Teil der Fürbitten sind« (93). Damit sind natürlich Benchmarks gesetzt, die zu finden versprechen, wonach gesucht wird. Das Datenmaterial umfasst 32 Audioaufzeichnungen und dichte Beschreibungen von insgesamt mehr als 60 besuchten Gottesdiensten sowie 24 Interviews mit Pfarr-personen, Ehrenamtlichen und Gemeindegliedern. Darstellung und Analyse dieses Materials füllen die mit insgesamt 213 Seiten um­fangreichsten Kapitel des Buches (5.–7.). Zuvor wird der Forschungsstand (1.) erhoben, werden Theorien der Performance dargestellt (2.), Fragestellung (3.) und Methoden (4.) skizziert. Liturgiewissenschaftliche Standardliteratur zieht der Vf. hier, wenn überhaupt, allenfalls peripher hinzu. Auf den empirischen Hauptteil folgen »Vergleiche kollektivierender Techniken der drei Gemeinden« (8.) und das abschließende Ergebniskapitel (9.).
In den dichten Beschreibungen der besuchten Gottesdienste zeigt sich Stärke und Schwäche dieser Monographie am deutlichsten: Einerseits bieten sie eine Überfülle von Eindrücken, die methodisch kaum anders präsentiert werden können, auf der anderen Seite verlieren sie sich stilistisch in einer oft selbstreferentiellen Weitschweifigkeit.
Was also weiß man liturgisch, wenn man dieses Buch gelesen hat? – Zunächst drei Vermisstenanzeigen: Der Liturgiker vermisst in dieser immerhin 414 Seiten starken Qualifikationsarbeit zum Fürbittengebet eine traditionsgeschichtliche Perspektive. Was ist, ist immer auch geworden; außer Manna fällt kaum etwas vom Himmel. Die Rekonstruktion der ineinandergreifenden Rezep-tions- und Produktionsschleifen hätte die (überaus) dichten Be­schreibungen liturgisch präziser kontextualisieren können.
Die Theologin vermisst die Erörterung der systematischen Spannung, die mit Mt 6,8 angegeben ist. Was performiert sich theologisch, wenn ein gottesdienstliches Kollektiv – zumeist auf der Ebene mittlerer Informiertheit – Gott Anweisungen zur Weltregie gibt? Es hätte sich ja durchaus angeboten, in den drei besuchten Gemeinden das in den Fürbitten implizit vorausgesetzte Gottesbild mit jeweils generierten religiösen Semantiken zu korrelieren. Christenmenschen beten in der Gewissheit, dass ihre Bitten gerade nicht ad hoc hervorgebracht werden, sondern dass ihnen bereits ein göttliches Machtwort voraufgegangen ist. Die (Für-)Bitte gleicht eher einem religiösen Reflex, einer Reaktion aus der Erfahrung des Angeredet-Seins heraus.
Und schließlich vermisst der Praktische Theologe den wirkungsgeschichtlichen Abgleich der detailliert skizzierten Gebetsperformanzen mit den geprägten Formen der Fürbitten (Litanei, Ektenie, diakonisches Gebet, Preces, Prosphonese). Auch hätte eine religionskulturelle Einordnung der jeweiligen Gemeindesituation die akribisch eingefangenen Szenen aus ihrer Selbstreferentialität herausgelöst. Das gottesdienstliche Gebet offenbart immer auch eine Affinität zu einem Milieu, das hier seine religiöse Grundbefindlichkeit zur Darstellung bringt.
Trotzdem wird dieses Buch mit Gewinn lesen, wer – wach für die aktuellen liturgischen Verwerfungen – auf die Fortschreibung des theatertheoretischen Diskurses in der Praktischen Theologie wartet. Dem Vf. gelingt es, über das Paradigma der Performance-Kunst die pastoralen Routinen der Fürbitten nachhaltig zu entsichern. Denn: »Was in den Fürbitten tatsächlich geschieht, ist nicht das, was passieren sollte.« (389) So verfügt die kollaborierende Gemeinde über durchaus eigene Wissensbestände und Eigenleibgewissheiten: Sie agiert, bislang ungesehen, durch die ihr eigene »theonome Körperdiplomatie« und durch »gebetskulturelle Mikropolitiken der Körper« (392). Der mitvollziehende Zuschauer zeigt sich hierin als gleichberechtigter Ko-Kreateur seiner eigenen Gebetsperformance, eben als ein emanzipierter Zuschauer (Rancière) des kollektiven Gemeindeauftritts.