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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1111–1113

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Herbst, Michael

Titel/Untertitel:

Aufbruch im Umbruch. Beiträge zu aktuellen Fragen der Kirchentheorie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2018. 229 S. m. 3 Abb. = Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung, 24. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-7887-3213-4.

Rezensent:

Ralph Kunz

Der Band der Reihe »Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung« (BEG 24) versammelt Vorträge, Vorlesungen und Aufsätze zu aktuellen Fragen der Kirchentheorie von Michael Herbst, Direktor und Spiritus Rector des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung in Greifswald. H. gehört zweifellos zu den prägenden Figuren der evangelischen Gemeinde- und Kirchenerneuerung und kann als die akademische Stimme der evangelikalen Evangelischen im deutschsprachigen Raum gelten. Der vorliegende Band bietet einen Querschnitt der Themen, die H. seit 30 Jahren beschäftigen.
Im ersten Teil werden »kirchentheoretische Grundlagen« (19–168) entfaltet. Es handelt sich um Vorlesungen und unveröffentlichte Vorträge, die mehr oder weniger systematisch Themen der Kirchentheorie abhandeln. Den Auftakt macht ein definitorischer Versuch: Was sind Kirche und Gemeinde? (19–38) H. referiert die jüngere Diskussion und greift das Hybrid-Modell von E. Hauschildt und U. Pohl-Patalong (2013) auf. Die Komplexität der Sozialgestalt(en) der Kirche lässt sich als Ineinander der Antriebslogiken der Organisation, der Institution und der Bewegung begreifen. H. bejaht die analytische Leistungsfähigkeit des Modells, setzt aber einen eigenen Akzent. Sowohl die Organisation als auch die Institution sollen dem Entstehen und Wachsen von Kirche als Bewegung dienen (35). Man könnte auch sagen: Die missionarische Perspektivierung von Kirchen- und Gemeindeentwicklung erklärt eine ideale Kirchengestalt, die im Entstehen begriffen ist, zur normativen Bezugsgröße. Diese Gestalt muss die Gemeinde Christi als Ziel einer Bewegung formulieren, weil sie sie nicht als Normalität vorfinden kann. Es ist ein Leitsatz der pietistischen Ekklesiologie, die H. durch den Rückbezug auf die Rechtfertigungslehre vor einem gesetzlichen Driften bewahren möchte. In H.s Konzeption wird die Gemeinde als »geistliches Wesen« begriffen. Alle definitorischen Versuche, die Gemeinde von den bestehenden Verhältnissen her zu beschreiben, sind diesem Kriterium nachgeordnet: Kirche soll das sein, wozu sie bestimmt ist, eine »Gemeinschaft derer, die gemeinsam Christus nachfolgen und Teil seiner Mission werden.« (37)
Was der erste Beitrag definiert, wird in weiteren Anläufen entfaltet. Die Impulse zur Erneuerung der Kirche (40–59) gehen von der These aus, dass wir uns »von einer Volkskirche im klassischen Sinn hin zu einer öffentlich wirksamen Minderheiten- und Missionskirche« (53) entwickeln – allerdings noch nicht entschieden genug! H.s Impulse, zwischen Wunsch und Feststellung wechselnd, werben für diese Entscheidung. H. greift öfters auf Martin Luther als Vorbild zurück. Sich auf die klassisch pietistische Reformationsdeutung stützend votiert er dafür, dass die angestrebte Entwicklung zur Missionskirche von Anfang an intendiert war. Zum historischen Bezug kommt der Beleg, dass auch Großkirchen eine missionsorientierte Neuausrichtung schaffen. Für H. macht die Church of England in überzeugender Weise vor, wie das gehen könnte.
Ein zentrales Thema der missionsorientierten Ekklesiologie ist das geistliche Wachstum von Einzelnen und Gemeinschaften. H. macht auf Karl Barth und das Erbe der Reformierten aufmerksam (62–65), wenn er (in einem Vortrag in Reutlingen) sagt: »Und als Lutheraner weiß ich (nicht nur im methodistischen Gästehaus), dass ich dieses reformierte Charisma im Spiel der Theologie brauche.« (65) Natürlich bleibt der Lutheraner wachsam! Wachstum ist nicht machbar, aber möglich. Man kann den Boden dafür bereiten und man kann versuchen, das, was wächst, zu verstehen. H. gibt kurze Zusammenfassungen von Studien des Instituts, die nach dem »missionarischen Fingerabdruck« (74) von Gemeinden fragen, und listet Faktoren auf, die das geistliche Wachstum fördern.
Es ist nicht weiter verwunderlich, dass die Priorisierung der Mission zu Auseinandersetzungen mit dem theologischen Mainstream führen muss. H. ist durchaus streitlustig, wenn es darum geht, eine Lanze für neue Gottesdienstformen zu brechen (126–150) oder sich für die Ausgestaltung der mittleren Ebene einzusetzen (114–125). Alles in allem zeichnen sich seine Lösungsvorschläge dadurch aus, dass sie einen Mittelweg zwischen Erhaltung und Innovation suchen. Auch in dieser Hinsicht sind ihm die Angelsachsen gute Vorbilder. Die vielgepriesene »mixed economy« ist keine Abbruchstrategie, sondern der Versuch, den nötigen Um­bruch der Kirche mit einem möglichen Aufbruch zu koppeln (79 f.158–168). Koalitionen sind daher auf beide Seiten möglich: Geht es um den Erhalt von (vitalen) Gemeinden, kann H. der Reformkritik von Isolde Karle einiges abgewinnen, geht es um eine milieusen-sible Erweiterung der Kommunikation des Evangeliums, findet sich H. im selben Boot mit traditionskritischen Theologinnen und Theologen aus dem liberalen Lager. Zur Kontroverse kommt es dort, wo H. die Ergebnisse und die Kommentare zu den Ergebnissen der fünften EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung (KMU V) interpretiert und zum Schluss kommt: »Was beim konzentrierten Lesen auffällt, ist der nahezu vollständige Ausfall einer missionarischen Perspektive.« (103) Er stellt fest, dass die Toleranz gegenüber dem »distanzierten Christentum« in eine Strategie münde, die man mit »weiter so!« zusammenfassen könnte (ebd.). Eine solche Strate-gie verkenne die Realitäten, verabschiede die Rechtfertigungsbotschaft und missachte das Kernstück des Allgemeinen Priestertums. Vor allem zeige sich darin ein »fundamentales Missverständnis missionarischer Gemeindeentwicklung« (106). H. hält der Indifferenz gegenüber den Indifferenten eine Zielpyramide entgegen, in der das oberste Ziel des lebendigen, mündigen Christseins zur ersten Priorität der Kirchenentwicklung erklärt wird (108). Es gehe darum, »in unserer Kirche die Zurückhaltung aufzugeben […] unsere getauften Mitglieder zu gewinnen, damit sie sich das, was ihnen in der Taufe zugeeignet wurde, auch persönlich aneignen können« (110).
Der zweite Teil des Bandes bespricht Anwendungen der im ersten Teil gelegten Grundsätze in kirchlichen Praxisfeldern (169–229). H. geht auf das Modell des Church Planting ein, das in der Kirche in England erfolgreich lanciert wurde (171–178), macht Vorschläge zur Steigerung der Attraktivität von Gemeinden (179–193), hält ein Plädoyer für die Priorisierung der Warum- vor der Wie-Frage (194–211) und zeigt auf, was ein gutes Change Management bewirken kann.
Wer das Buch von vorne nach hinten durchliest, hat einige Déjà-vu-Erlebnisse. H. wiederholt sich. Eine Sammlung von Aufsätzen ist kein durchkomponierter Band, in dem die Themen organisch und systematisch entwickelt werden. Der Nachteil der Wiederholung hat indes den Vorteil, dass man die Kapitel je für sich lesen bzw. andern zum Lesen geben kann. Vor allem die Texte im zweiten Teil des Buches eignen sich, um mit Kirchenältesten oder anderen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern missionale Gemeindeentwicklung zu diskutieren. Die meisten Texte sind im Stil des Vortrags gehalten, also aufgeschriebene Rede, die in der Regel mit witzigen Anekdoten beginnen und dann ein bestimmtes Thema umkreisend die Botschaft des missionarisch-prophetischen Lehrers verkünden. Mitunter kippt das Referat in eine Predigt, die Übergänge von der Analyse zur religiösen Rede sind fließend. In allem ist eine Leidenschaft für und ein Leiden an der Kirche spürbar, einer Kirche, die in H. einen Lehrer hat, der dann und wann kräftig austeilt: »Das Modell, in kasualorientierter freundlicher Distanz eine tragfähige Variante protestantischen Christseins zu sehen, ist gründlich gescheitert.« (10) Zu diesem Schluss könnte man tatsächlich kommen – und man muss sich die Frage gefallen lassen: Gilt das nicht auch für das missionsorientierte Modell?
H. gibt sich bescheiden. Der vorliegende Band sei »kein Generalschlüssel zur Lösung aller Probleme der gestressten Kirche« (11). Gleichzeitig macht er unmissverständlich klar, wo die Probleme liegen und welche Wege aus der Krise führen. Und ja, in seinen Grundsätzen ist das Programm klar und in sich konsistent! Die Ansätze einer missionarisch ausgerichteten Kirchentheorie kreisen um Axiome, die nicht zur Diskussion stehen. Statt von »aktuellen Fragen der Kirchentheorie« wäre es wohl angemessener von »Anfragen an ak-tuelle Kirchentheorien« zu reden. H. geht es um die evangelistische Sendung der Kirche, die Förderung des lebendigen, mündigen Christseins, die grundlegende Bedeutung von Gemeinschaften für einen vitalen Glauben, die Förderung des Allgemeinen Priestertums als Heilmittel gegen die Pfarrzentrierung, das Zusammenspiel von traditionellen und innovativen Formen kirchlichen Lebens, die Chancen der regiolokalen Gemeindeentwicklung (11).
Dass H. öfters auf die Church of England, aber auch auf Timothy Keller, Willow Creek und die Erneuerung in einigen Diözesen der katholischen Kirche Frankreichs verweist, ist kein Zufall. Das Engagement für eine geistliche Erneuerung der Kirche ist keine Spezialität des erwecklichen Luthertums, sondern Ausdruck einer weltweiten ökumenischen Bewegung, die sich missional und transkonfessionell versteht.
Es scheint fast so, als gebe es in der evangelischen Ekklesiologie hierzulande einen garstigen Graben, der es schwierig macht, eine konstruktive Auseinandersetzung zu den Anfragen zu führen, die eine missionarisch (oder missional) orientierte Kirchenreform, wie sie H. pointiert vertritt, völlig zu Recht stellt! Ob die evangelische Theologie ihren Beitrag zum Aufbruch im Umbruch der Kirche leisten kann, solange sie diese Anfragen ignoriert?