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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1109–1111

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wegner, Gerhard [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Von Arbeit bis Zivilgesellschaft. Zur Wirkungsgeschichte der Reformation. Hrsg. im Auftrag d. Sozialwissenschaftlichen Instituts.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 400 S. m. 80 Abb. Geb. EUR 30,00. ISBN 978-3-374-04865-6.

Rezensent:

Ueli Zahnd

Jubiläen können dazu verleiten, historische Kurzschlüsse zu ziehen. Indem sie uns veranlassen, eine Brücke zwischen dem Jubilar und der Gegenwart zu schlagen, droht nicht nur die Zwischenzeit im Abgrund des Überbrückbaren zu verblassen, sondern es besteht auch die Gefahr, dass Dinge zusammengeführt werden, die in der Komplexität historischer Entwicklungen wenig miteinander zu tun haben. Das Reformationsjubiläum hat diese Gefahr einmal mehr in all ihren Facetten deutlich gemacht – doch die von Gerhard Wegner herausgegebene Sammlung sozialethischer Beiträge »zur Wirkungsgeschichte der Reformation« unterliegt ihr nicht. Zwar verfällt der Untertitel einer im Jubiläum verbreiteten Generalisierungstendenz, da es in den Beiträgen nicht um die Wirkungsgeschichte sozialethischer Konzepte der Reformation schlechthin, sondern um die Wirkungsgeschichte Luthers geht, doch ist der Band inhaltlich dann sehr bemüht, differenzierte und historisch kontextualisierende Betrachtungen möglicher Fernwirkungen der Reformation zu bieten.
Bereits im kurzen Vorwort wird dies äußerst pointiert vorgebracht, denn Luther, »ein Mensch des Mittelalters«, nutze Begriffe, die »klingen wie die unsrigen«, aber oft etwas anderes akzentuierten (5). Anstelle von »Lobhudelei« beabsichtigt der Band daher eine kritische Würdigung »nach 500 Jahren«, um zu überprüfen, ob es sich bei den mutmaßlichen Verbindungen zwischen Luthers sozialethischen Ideen und heutigen Ansätzen um tatsächliche Brückenschläge, um »säkulare Verwirklichungen« oder um »Kollateralfolgen« handle (6). Vereinigt werden dazu 30 Beiträge »von prominenten Zeitgenossen, die mit ihrem Leben für aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Ge­schehen stehen« und sich zu gesellschaftlichen Themen (»Ehe« von Friedrich-Wilhelm Lindemann, »Familie« von Cornelia Coenen-Marx oder »Religion« von Margot Käßmann), zu wirtschaftlichen Aspekten (»Geld« von Gustav Horn oder »Nachhaltigkeit« von Jörg Hübner) und politischen Schlagworten äußern (»Bildung« von Jutta Allmendinger und Lisa Schulz, »Rechtsstaatliche Demokratie« von Hans-Jürgen Papier oder »Sozialismus« von Friedrich Dieckmann).
Mit wenigen Ausnahmen sind die Beiträge zuerst als eigenständige Hefte in der Reihe »Reformation HEUTE« des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD entstanden, doch lehnen sich alle mehr oder weniger eng einer dreigliedrigen Struktur an, indem zuerst Luthers Äußerungen zu einem Stichwort, dann die Wirkungsgeschichte seines Konzepts und schließlich dessen Relevanz für die heutige Zeit untersucht werden. Besonders schön durchgezogen ist dies etwa in Michael Hüthers Beitrag »Liberalismus«, der sich wie einige weitere Beiträge (u. a. »Kapitalismus« von Christoph Deutschmann) mit der Herausforderung konfrontiert sieht, dass das Stichwort im Vokabular Luthers noch gar nicht vorhanden ist. Ausgehend von der Beobachtung, dass es zudem gerade nicht im lutherisch geprägten Mitteleuropa war, »wo die großen Revolutionen den Durchbruch zur politischen Moderne eingeläutet haben« (200), stellt er sich gegen eine vorschnelle Vereinnahmung Luthers, noch bevor er sich Luthers Ideen und vor allem dessen Freiheitsverständnis in der Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« zuwendet (eine Schrift, die wenig überraschend auch in zahlreichen weiteren Beiträgen eine zentrale Rolle spielt). Die dort angelegte Spannung zwischen Gesinnungsfreiheit und Autoritätshörigkeit hilft ihm, die Weiterführungen, aber auch die entscheidenden Veränderungen im Freiheitsbegriff der liberalen Vorstellungswelt von der Aufklärung bis ins frühe 20. Jh. aufzuzeigen, um schließlich auch Herausforderungen für liberales Denken im 21. Jh. zu formulieren, die deutlich über das hinausgehen, was Luther mit seiner Idee konzipiert haben konnte, aber dennoch im Konzept von der Obrigkeit als »Regulierungsrahmen« ihre Wurzeln bei Luther finden. Dank der klaren historischen Verortung wirken diese Bezüge deutlich plausibler als etwa in Heinrich Bedford-Strohms Beitrag zum eng verwandten Stichwort »Freiheit«, der zwar viel ausführlicher auf Luthers Freiheitsverständnis eingeht, dann aber direkt ins 20. und 21. Jh. wechselt, um nicht mehr nach Luthers (historischer) Relevanz, sondern ganz allgemein danach zu fragen, was »das Verständnis von Freiheit für uns Christenmenschen« bedeute (118).
Historisch höchst umsichtig ist hingegen auch Hans-Jürgen Goertz’ Beitrag »Revolution«: Den wirkungsgeschichtlichen Fokus des Bandes aufgreifend, hält er eingangs programmatisch fest, es könne, »was Reformation war, […] nicht am Denken eines Theologen, nicht an seinen Absichten, Losungsworten und Schriften erkannt« werden, »sondern allenfalls an dem, was sie auslösten« (290). Dies will er auch auf das direkte Wirken Luthers verstanden wissen, denn eine Bewegung brauche zwar »die Idee, die Predigt, die Propaganda, aber eine Bewegung wird daraus erst, wenn ein kollektiver Akteur, also eine Anhängerschaft entstanden ist« (295). Entsprechend interessiert er sich zuerst für den allgemeineren antiklerikalen Kontext des aus gehenden Mittelalters, um dann erneut auf der Grundlage von Luthers Freiheitsschrift den rebellisch-revolutionären Keim seines Freiheitsgedankens auszuloten. Interessant ist aus der gewählten Perspektive nun aber weniger, was Luther selbst gemeint haben dürfte, als vielmehr die unmittelbare Rezeption seiner Schrift, die in den Bauernaufständen und in Thomas Müntzers Täuferreich zu tatsächlichen revolutionären Ausbrüchen geführt hat. Aus Luthers vehementer Reaktion gegen beide Bewegungen kann Goertz beim folgenden Durchgang durch die neuzeitlichen Nachwirkungen dann aufzeigen, wie sehr sich weitere Umwälzungen im Namen der Freiheit zwar aus der Reformation, aber eben nicht aus Luther speisen konnten: »Der Weg zur Gewissens- und Religionsfreiheit der Neuzeit führte weniger über Luther, sondern eher über diejenigen, denen damals die Berufung auf das eigene Gewissen bestritten wurde und deren Bitte um Toleranz zunächst auf dem Scheiterhaufen endete« (300). Die kritische Differenziertheit dieses Urteils verdankt sich vor allem der Tatsache, dass hier nicht nur Luther in den Blick genommen wurde, und so verdeutlicht der Band auch in anderen Beiträgen vor allem dort die Vielschichtigkeit ideengeschichtlicher Rezeptionsverhältnisse, wo bereits im jeweils ersten Abschnitt zu den reformatorischen Grundlagen neben Luther auch weitere Akteure thematisiert werden. Auf der Hand liegt dies bei wirtschaftshistorischen Themen, die sich mehr oder weniger direkt mit der Weber-These auseinandersetzen und nicht umhinkommen, auch auf Calvin und die reformierte Tradition einzugehen (so etwa Traugott Jähnichen, »Soziale Marktwirtschaft«, oder Hans-Richard Reuter, »Sozialstaat«), aber auch etwa Michael Klein mit seinem Beitrag zum Stichwort »Genossenschaften« zeigt dank einer vertieften Kontextualisierung der Thematik die klaren Grenzen von Luthers Einfluss auf, der in seiner Kritik an spätmittelalterlichen Auswüchsen des Bruderschaftswesens dem parochialen statt dem genossenschaftlichen Modell zum Durchbruch verholfen hat (153).
Dank der Vielfalt und Differenziertheit solcher Beiträge ist insgesamt ein höchst spannender Band entstanden, der auch schön gestaltet und sehr angenehm zu lesen ist. Begrüßenswert wäre allenfalls gewesen, wenn die Querverbindungen zwischen den Beiträgen noch deutlicher hervorgehoben worden wären; zudem hätte ebenso, wie der einleitende Beitrag »Arbeit« von Lucas Zapf all-gemeinere und für den ganzen Band gültige Überlegungen zu Religion und Wirtschaft voranstellt, auch der abschließende Bei-trag »Zivilgesellschaft« von Fritz Erich Anhelm einige resümierende Überlegungen bieten können. Dennoch ist dank der klaren Gliederungen ein einheitliches Ganzes entstanden, dessen Teile ein bereicherndes Lesevergnügen sind und jeweils Lust auf die Lektüre weiterer Kapitel machen.