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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1105–1107

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Eckholt, Margit [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gender studieren. Lernprozess für Theologie und Kirche.

Verlag:

Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag 2017. 438 S. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-7867-3090-3.

Rezensent:

Antje Roggenkamp

Dieser Sammelband ist aus einer Tagung hervorgegangen, die der Theologin Elisabeth Gößmann 2015 an der Universität Osnabrück gewidmet war. Gößmanns Arbeiten haben zu einer Neubewertung von theologie- und dogmengeschichtlichen Befunden zum Verhältnis von Mann und Frau in Kirche und Gesellschaft geführt. Der Sammelband gliedert sich in vier Teile: Begriffsklärungen und aktuelle Herausforderungen, Grundfragen theologischer Anthropologie, pastorale Handlungsfelder und Perspektiven sowie Internationale Perspektiven.
Begriffsklärungen und aktuelle Herausforderungen stellen sich dem Genderbegriff in der Gegenwart. Mit dem Begriff werden die sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktoren benannt, die Einfluss auf die Ausprägung von weiblicher und männlicher Geschlechtlichkeit haben. Regina Amnicht-Quinn be­fasst sich mit dem Gender-Trouble und stellt insbesondere die Aufgabe, die Grammatik der Geschlechterverhältnisse im Sinne von Ordnungsmomenten einer Gesellschaft neu auszutarieren, ins Zentrum ihrer Überlegungen (23–38). Marianne Heimbach-Steins ist an einer differenzierten Auseinandersetzung mit Fragen der Geschlechtergerechtigkeit interessiert, die sich als zentrale Herausforderung der Weltfrauenkonferenz von Peking 1995 ergeben. Ihr geht es um Überlappungen der Genderkategorie im Rahmen von Intersektionalität, vor allem aber auch um eine Entideologisierung von Genderdebatten (39–54). Virginia Raquel Azay beschreibt Kontexte im globalen Süden – insbesondere in Lateinamerika –, in denen Frauen unter menschenunwürdigen Verhältnissen leben. Gewalt gegen Frauen im Namen des »Machismo« ist hier ein großes Problem, wie vielfältige Protestmärsche von Frauen zeigen (55–72). Hildegard König beschäftigt sich mit Strategien des Ausblendens und der Marginalisierung von Frauen, die sich insbesondere in der Tschechoslowakei in der Zeit der Untergrundkirche bis 1989 ereigneten. Die Verwendung der Genderkategorie erwies sich als gefährlich, da sie Ideologiebildungen und Marginalisierungsstrategien, also Machtmechanismen, aufdeckte. Gleichwohl brachte sie Bewegung in verfestigte Geschlechteranthropologien: Für eine kurze Zeit konnten Frauen den Priesterdienst verrichten (73–104). Sonja Strube zeigt auf, dass mit dem Anti-Genderismus als Ideologie Verbindungen zwischen extremistischen Parteien, Teilen der katholischen Kirche sowie evangelikalen Gruppierungen aufgebaut werden. Der Genderbegriff deckt als Analyseinstrument entsprechende Beziehungen als neue Machtstrukturen auf (105–120). Das Geschlechter bilden wird von Sabine Pemsel-Meier als Zukunftsaufgabe verstanden, insofern das traditionelle Familienbild nicht selten gegen die Homosexualität ausgespielt wird. In schulischem Kontext und Erwachsenenbildung sind unter dem Aspekt des Genderbegriffs Fragen der Heterogenität und Diversität anzusprechen (121–135).
Grundfragen theologischer Anthropologie widmet sich der zweite Teil. Helen Schüngel-Straumann thematisiert die Dekonstruktion von Geschlechterzuschreibungen aus exegetischer Sicht. Sie macht auf androgyne Zuschreibungen in den Geschlechterbezeichnungen von erstem und zweitem Schöpfungsbericht aufmerksam (139–158). Dorothea Sattler befasst sich mit Geschlechterzuschreibungen aus systematisch-theologischer Sicht. Sie aktiviert zu diesem Zweck verschiedene Metaphernfelder, das medizinische, soziale, finanzielle, forensische, rituelle, kommunikative und motorische Paradigma (159–170). Bernhard Sven Anuth betrachtet Geschlechterzuschreibungen aus kirchenrechtlicher Sicht. Im Vordergrund steht die Entwicklung seit dem Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die petrinische Dimension des Amtlich-Hierarchischen steht dem marianischen Prinzip der bräutlichen Liebe gegenüber. Dies führt – langfristig betrachtet – zu einer Festschreibung der Abwertung von Frauen (171–188). Margit Eckholt aspektiert ebenfalls die systematisch-theologische Perspektive der Geschlechterzuschreibung. Sie weist darauf hin, dass die franziskanische – im Gegensatz zur thomistischen – Interpretation der Gott(eben)bildlichkeit in der Geschichte durchaus wertschätzende Perspektiven für die Frau entfalten konnte (189–228). Christine Büchner befasst sich mit Geschlechterzuschreibungen auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil und zeigt auf, wie trotz einer vorsichtigen Aufwertung der Frau aus systematisch-theologischer Sicht die Zweigeschlechtlichkeit maßgeblich blieb (229–244). Dorothea Reininger hält die ungelöste Frage nach Ämtern und Diensten von Frauen in der Kirche zwar für zentral, gibt aber zu bedenken, dass Frauen als Wissenschaftlerinnen durchaus wertgeschätzt werden (245–255).
Der dritte Teil stellt unterschiedliche Praxisfelder vor. Markus Roentgen zeigt Möglichkeiten des Umgangs mit der Genderperspektive im Rahmen der kirchlichen Männerseelsorge auf. Er plädiert für eine gegenseitige wertschätzende Aufmerksamkeit der Geschlechter (259–274). Regina Heyder befasst sich mit dekonstruierenden Tendenzen des nationalsozialistischen Frauenbildes im Rahmen des Katholischen Deutschen Frauenbundes. Sie schlägt vor, den Genderbegriff in analytischer Hinsicht durch die Kategorie »soziales Geschlecht« zu ersetzen (275–291). Barbara Janz-Spaeth zeigt im Rahmen der Bibelpastoral, welche befreienden Perspektiven sich aus exegetischen Genderperspektiven entwickeln (293–304). Christine Boehl befasst sich mit der Genderperspektive in Krankheits- und Sterbeprozessen (305–322).
Der vierte Abschnitt des Sammelbandes weitet den Blick in internationale Kontexte hinein. Anna Dirksmeier beschäftigt sich mit dem kirchlichen Hilfswerk Misereor und öffnet die Genderperspektive intersektional in Hinblick auf Kriegs- und Krisengebiete. Dabei dominiert die Gerechtigkeitsperspektive (325–358). Anne Béatrice Faye verdeutlicht am Beispiel von Burkina Faso und dem Senegal, dass die westliche Perspektive auf Differenzen lokal kontextualisierte Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern nur partiell in den Blick bekommt. Die Kulturen sind stark androzentrisch geprägt (359–370). Mary John Mananzan zeigt für die Philippinen auf, dass die Lebensrealitäten von Frauen und Männern im asiatischen Raum von den europäischen erheblich divergieren. Philippinische Frauen werden zunehmend entmachtet und verelenden (371–388). Claudia Leal Luna unterstreicht für Chile die divergierenden südamerikanischen Lebenskontexte von Männern und Frauen. Frauen akzeptieren zumeist eine ihnen vorgegebene marianische Identität, deren Konsequenzen insbesondere von der Philosophin Martha Nussbaum in Frage gestellt werden (387–396). Ursula Silber befasst sich mit Genderstrukturen in Bolivien und macht darauf aufmerksam, dass nicht alles, was aus westlicher Sicht als Diskriminierung von Frauen erscheint, als Ausdruck von androzentrischer Machtförmigkeit gelesen werden muss. Vielfach erklären sich geschlechtsspezifische Muster aus der Geschichte (397–404). Luis Mario Sendoya Mejía zeigt für Kolumbien auf, dass ein Gender perspektivierter Ansatz eine Fortschreibung kritisch-befreiungstheologischer Muster ist. Die zunehmende physische Abwesenheit der Väter wirkt sich in der Gegenwart nicht entlastend, sondern in Bezug auf Gewalt- und Machtstrukturen entpersonalisierend aus (405–412). Jadranka Rebeka Anic arbeitet die Gefahr einer Aufnahme der ideologischen Genderdiskussion in der Kirche auf. Entfällt ein kritischer Umgang, so setzt sich öffentlich eine nationalistische Perspektive durch (413–433).
Der Band führt wesentliche Erträge der katholischen Genderforschung aus den letzten Jahrzehnten zusammen. Nach wie vor bzw. trotz der von vielen als Lockerungsversprechen verstandenen Er­leichterungen im Rahmen des Zweiten Vatikanum sind Frauen im Rahmen von (abwertenden) Genderkonstruktionen in der katholischen Kirche daran gehindert, vollwertige sakramentale Handlungen zu vollzuziehen. Dass nicht zuletzt aufgrund subkutaner Macht- und Ohnmachtsstrukturen ein erheblicher Handlungsbedarf be­steht, führt der Sammelband eindrucksvoll vor Augen.
Desiderate werden demgegenüber in Bezug auf die Männerforschung, aber auch auf die Internationalisierung erkennbar. Künftige Forschung wird stärker als bisher von einer eurozentrischen Perspektive absehen und sich für intersektionale Fragestellungen sensibilisieren. Angesichts der Einschränkung bzw. dem Verbot von Genderstudien in einigen Staaten des ehemaligen Ostblocks ruft der Sammelband die Verantwortung von Theologie und Kirche in Erinnerung. Gegen Desinformationskampagnen hilft nur Aufklärung durch reflektierte Information. Die intersektionale Genderforschung ist zu verstärkter Anstrengung aufgerufen.