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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1101–1103

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Baumeister, Martin, Böhnke, Michael, Heimbach-Steins, Marianne, u. Saskia Wendel[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Menschenrechte in der katholischen Kirche. Historische, systematische und praktische Perspektiven.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018. 345 S. = Gesellschaft – Ethik – Religion, 12. Kart. EUR 89,00. ISBN 978-3-506-78891-7.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Der Band dokumentiert die Vorträge einer Tagung des Deutschen Historischen Instituts, die vom 22. bis 24.3.2017 dem Thema angemessen in Rom stattfand. Das Thema sollte gleichermaßen aus theologischen wie aus politik-, rechts- und geschichtswissenschaftlichen Perspektiven erläutert werden. Die Organisatoren der Tagung versprachen sich von den interdisziplinären Zugängen eine Erweiterung und Präzisierung des Themas, das verschiedene Konfliktlinien (10–12) aufzeigte, die in der bisherigen Diskussion umstritten waren: historisch die lange andauernde Gegnerschaft der katholischen Kirche zu den Menschenrechten und ihrer Implementierung; politikwissenschaftlich und theologisch der performative Selbstwiderspruch (10), dass die katholische Kirche einerseits für Menschenrechte eintritt, sie andererseits innerhalb ihrer eigenen Hierarchie nicht in vollem Ausmaß gewährt; systematisch-theologisch das Verhältnis von Wahrheit und Freiheit sowie praktisch-theologisch und praktisch die Rolle der katholischen Kirche als politische Akteurin bei den menschenrechtlich relevanten, globalen politischen Fragen der Gegenwart.
Der Philosoph Heiner Bielefeldt (17–37) schreibt über das Verhältnis von Menschenrechten und Religionen als einer »Kombination von beunruhigender Nähe und gleichermaßen beunruhigender Distanz« (17 f.). Weder haben die Religionen Menschenrechte ausschließlich bekämpft noch haben sie sie ausschließlich harmonisierend akzeptiert. In allen Religionen zeige sich ein Spannungsverhältnis, das je gesondert betrachtet werden müsse. Insgesamt schreibt er den Religionen eine wichtige Rolle beim empowerment (23) von Menschenrechten zu, die er keinesfalls als Zivilreligion oder als sakralisierte Anthropologie eigenen Rechts verstanden wissen will (35).
Leider können im Rahmen dieser Rezension nicht alle Beiträge charakterisiert werden, weswegen manchmal summarische Be­merkungen genügen müssen. Die historischen Essays (41 ff.) thematisieren alle auf ihre Weise den genannten performativen Selbstwiderspruch der katholischen Kirche zwischen strikter Gegnerschaft gegenüber den Menschenrechten und sehr vorsichtiger Öffnung und Rezeption.
Rainer Bucher (129–140) bestimmt in seinem pastoraltheologischen Beitrag die Kirche als »Ereignis- und Zeugnisnetzwerk gegen die Gefährdungen der Menschenwürde und für eine nicht-kapitalistisch bestimmte Kultur menschlichen Lebens: Das wäre, das ist eine Hoffnung für alle Menschen in der Welt.« (137) In solchen, leicht pathetischen Formeln redet er von der katholischen Kirche trotz des Missbrauchsskandals und vieler anderer Monita. Er bescheinigt dem gegenwärtigen Papst Franziskus einen nicht gegenkulturellen, sondern zeugnishaften und solidarischen Weg im Hinblick auf die Menschenrechte und aktuelle globale politische Probleme (138). Man muss vermutlich selbst katholisch sein, um in solchen Selbstzuschreibungen Weiterführendes zu entdecken.
Saskia Wendel (141–152) weist zu Recht darauf hin, dass vieles an der ambivalenten Haltung der katholischen Kirche zu den Menschenrechten in bestimmten ekklesiologischen Setzungen (Leib Christi, Volk Gottes etc.) begründet liegt (142 ff.). Sie wendet sich gegen eine substanzontologische Ekklesiologie mit eindeutigen Grenzen und versucht, eine solche durch eine Ethik des Vollzugs zu überwinden, in der die festen Grenzen zwischen den Glaubenden (dem Volk Gottes) und den »Anderen«, den Exkludierten aus guten Gründen transparent werden.
Wie einige andere der Beiträge bewertet die Göttinger Politikwissenschaftlerin Tine Stein (153–164) die Amtszeit von Papst Franziskus als eine deutliche Hinwendung zu einer an Armen und Schwachen orientierten Menschenrechtspolitik, die allerdings verstetigt werden müsse, spätestens wenn die Frage eines Nachfolgers für den gegenwärtigen Papst anstehe. Die institutionell fixierten Ordnungen, die die Gegnerschaft zu den Menschenrechten möglich gemacht haben, seien noch nicht überwunden: »Charisma vergeht, Kirchenrecht besteht.« (163)
Eine Reihe von Beiträgen (Heimbach-Steins/Hilpert, Bogner, Körner (165–218) beschäftigt sich mit der Religionsfreiheit. Der Beitrag von Hensel (221–236) zeigt im Anschluss daran am Beispiel des Umgangs der katholischen Kirche mit den Diktaturen in Chile und Argentinien, wie stark die Positionierung der Kirche von den jeweiligen sozialen und historischen Umständen abhängig ist.
Die Beiträge von Heyder (237–254) und Marschütz (255–266) setzen sich mit der katholischen Kirche, Menschenrechten und der Genderfrage auseinander. Zwei weitere Beiträge (Stica und Henkel, 267 ff.) stellen die Migrationsethik in den Mittelpunkt.
Mehrere kurze Tagungskommentare (313 ff.) runden den Band ab. Überzeugend wirkt das Resumée des Politikwissenschaftlers Klaus Große Kracht (313–318), der eine »entsakralisierte Sicht auf die Menschenrechte« fordert, die eben wegen der fehlenden theologischen Überhöhungen eher auf Zustimmung rechnen könne als eine »entelechisch-teleologische Betrachtungsweise« der Menschenrechte (318). Wobei zu konstatieren wäre, dass die Frage nach der Menschenwürde mindestens Grenzbereiche des Sakralen berührt. Wie man unterschiedliche Begründungsversuche der Menschenrechte in Konzepten wie dem der öffentlichen Theologie zusammenführen kann, hat ja eine Reihe von evangelischen Theologen wiederholt gezeigt.
Damit zeigt sich ein Problem der gesamten Tagungsanlage. Die meisten Beiträge, auch die der interdisziplinär eingeladenen Nicht-Theologen, sind in ihrem Kern alle auf den innerkatholischen Widerspruch zwischen Menschenrechtsopposition und -befürwortung ausgelegt. Dazu zählen die Beiträge über Kirchenrecht, über die Menschenrechtspolitik der Päpste, über Religionsfreiheit und das politische Verhalten einzelner Episkopate. Gender- und Migrationsthemen werden als globale Aufgaben angemahnt. Wenn man ak-zeptierte, dass die Menschenrechte sich auch nicht-theologischen Entstehungszusammenhängen verdanken, wäre das katholische Grundaxiom, dass evangelische Wahrheit nur aus der Schrift und ihrer Fortführung in Lehramt und Tradition kommen kann, zu revidieren. Wenn Wahrheit sich nicht nur katholischen Entstehungszusammenhängen verdanken kann, dann wäre das Weltverhältnis der katholischen Ekklesiologie und Ethik neu zu konzipieren. Einige der in diesem Band vertretenen Autoren gehen erste Schritte in dieser Richtung, diese aber müssten m. E. noch sehr viel weiter reichen, um interkonfessionellen und interreligiösen Dialog zu verstetigen und zu vertiefen. Das von den meisten Autoren verworfene Naturrecht hätte in dieser Frage auch innerkatholische Perspektiven geboten.
Große-Kracht verweist in seinem Kommentar auf das sehr wichtige Problem der Frage nach einem universalen menschenrechtlichen Konsens in den Rechten jenseits einzelner Begründungen. Diese Frage hätte m. E. nur durch mehr ›Weltoffenheit‹ beantwortet werden können. Für den Tagungsband und die Tagung selbst hätte das eine noch sehr viel mutigere Interdisziplinarität bedeutet. Die Beiträge dieses Bandes bringen die innerkatholische Diskussion voran, aber nur damit sind eben die Fragen nach der politischen, ethischen und sozialen Akzeptanz der Menschenrechte noch nicht be­antwortet. Menschenrechte sind eben nicht nur ein Problem der katholischen Kirche. Sie sind, sofern man sie akzeptiert, eine Frage, über deren Begründung und Implementierung sich die gesamte Menschheit verständigen müsste. In dem berühmten Gespräch, das der damalige Kardinal Ratzinger mit Jürgen Habermas in München führte, forderte der Kardinal, es müsse eine neue globale Verständigung von Religionen und anderen Gruppen über den anthropologischen Konsens bei den Menschenrechten geben. In dieser Richtung müsste die innerkatholische Diskussion über das Thema sich öffnen. Sobald der Kardinal Papst geworden war, zog er sich auf die alte Position des katholischen Naturrechts zurück.