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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1093–1095

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Wallmann, Johannes

Titel/Untertitel:

Von der Reformation bis zur Gegenwart. Gesammelte Aufsätze IV.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XIV, 512 S. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-157523-5.

Rezensent:

Wolfgang Sommer

Dieser 4. Band der Gesammelten Aufsätze von Johannes Wallmann umfasst zeitlich die gesamte Kirchengeschichte von der Reformation bis zur Gegenwart im Unterschied zu seinen bisherigen Aufsatzbänden, die der Lutherischen Orthodoxie und dem Pietismus gewidmet waren. Die Kirchengeschichte des 17. und 18. Jh.s ist das zentrale Forschungsgebiet W.s, und auch dieser Band macht wiederum deutlich, wie alle seine Aufsätze aus einem intensiv ausgeloteten Quellenfundament hervorgehen und in die Diskussionen der Gegenwart hineinreichen. Das macht das besondere Gewicht und die Aktualität der Aufsätze W.s aus.
In vier Teile sind die 17 Aufsätze gegliedert: Reformation und Konfessionelles Zeitalter, Pietismus und Aufklärung, 19. und 20. Jahrhundert, und Bekenntnis und Ökumene. Ihre Entstehungszeit reicht von 1970 bis 2017.
Die bekannte Studie zum Bauernkrieg »Luthers letztes Wort zum Bauernkrieg« von 1976 macht den Anfang der stattlichen Reihe. In ihr führt W. den Nachweis, dass Luthers Publikation des sogenannten Weingartner Vertrages erst nach der Schrift »Widder die stürmenden Bauern« zu datieren ist und somit ein Friedens-appell Luthers letztes Wort im Bauernkrieg ist. Das ist von der Forschung inzwischen allgemein rezipiert worden.
Der Aufsatz »Die lutherische Orthodoxie zur Zeit Ernst Salomon Cyprians (1673–1745)« macht den Vorschlag, den aus der reformierten Historiographie stammenden Begriff der sogenannten vernünftigen Orthodoxie auch auf die lutherische Orthodoxie anzuwenden, so dass die Übergangstheologen des frühen 18. Jh.s zur vernünftigen Orthodoxie gerechnet werden können. Damit flösse der Strom der Orthodoxie im 18. Jh. erheblich breiter als bisher angenommen.
Zum Pietismus sind zwei neuere Studien aufgenommen: »Comenius als Vater des Pietismus?« und »Der Pietismus an der Universität Jena«. Speners Zentralbegriff der »ecclesiola in ecclesia« bedeutet Reform der Kirche durch Förderung der Frommen statt Kirchenzucht wie in der Orthodoxie, während der Gedanke der »ecclesiola« bei Comenius Gemeindeversammlungen nach 1Kor 14 meint. In der detailreichen Untersuchung über die Anfänge des Pietismus an der Universität Jena steht der Historiker Caspar Sagittarius (1643–1694) im Mittelpunkt. Er trat als erster Professor öffentlich an der Universität Jena für den Pietismus ein, nannte Spener seinen geistlichen Vater und war doch kein Pietist.
Einen Schwerpunkt des Bandes nimmt der erst jüngst entstandene Aufsatz »Leibniz’ Beziehungen zu Philipp Jakob Spener« ein. Das von der Pietismusforschung bislang unbeachtete Thema zeigt zunächst die frühe Freundschaft zwischen Spener und Leibniz in Frankfurt und Mainz auf, wobei W. auf das große Projekt der Edition der Briefe Speners zurückgreifen kann, die er aus der Frankfurter und Dresdner Zeit Speners herausgegeben hat. Eine Gestalt, die sowohl für Spener wie für Leibniz von großer Bedeutung wurde, ist Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels (1623–1693). Dem Kontakt mit dem Landgrafen verdankt sich Speners Gutachten zur Toleranz in Glaubensfragen von 1683, das in seiner einzigartigen Bedeutung für das Konfessionelle Zeitalter bisher nicht erkannt wurde. Auch über die Bedeutung Luthers ging es in einem Brief des Landgrafen an Spener, der seit 1669 ein intensives Lutherstudium betrieb, das ihn von den Reunionsplänen des Landgrafen entfernte.
Dabei entdeckte Spener den frühen Luther als mit den Intentionen Johann Arndts und der Frömmigkeit des Pietismus konformgehend, so dass z. B. Luthers Schrift von 1523 »Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei« in den Vordergrund trat und nicht die antijüdischen Spätschriften Luthers wie bei Speners Lehrer Dannhauer. Das hatte jahrhundertelange Wirkungen im Protestantismus, worauf W. mit Recht mehrfach hingewiesen hat.
In seiner Berliner Zeit trat eine Entfremdung zwischen Spener und Leibniz ein. Der Berliner Hof und die Nikolaikirche Speners waren unterschiedliche Welten. Dafür hatte Spener in dem Frühaufklärer Samuel Pufendorf seinen treuesten Predigtzuhörer. Auf die mögliche wechselseitige Beeinflussung beider legt W. besonderes Gewicht. Dass Spener in seinem Toleranzgutachten von 1702 erstmals in der Geschichte des Luthertums für Toleranz gegenüber den Juden im Sinne der politischen Toleranz Pufendorfs eintritt, führt W. auf seinen Einfluss zurück.
Einen weiteren Schwerpunkt bilden drei Aufsätze über die Zeit Friedrich des Großen anlässlich seines 300. Geburtstages 2012 und sein Verhältnis zur evangelischen Kirche sowie das Militärkirchenwesen. Auch diese Thematik ist von der Forschung bisher kaum bedacht worden. Friedliches Zusammenleben verschiedener Religionen und Konfessionen gab es in Brandenburg-Preußen schon bei Friedrichs Vorgängern. Sein Toleranzgedanke ist jedoch erstmals jeder religiösen Begründung entnommen, die Verbindung von regio und religio wird aufgelöst. Die Union zwischen Reformierten und Lutheranern, die Friedrich I. durch Leibniz und Jablonski intensiv betrieb, ist unter Friedrich II. zum Stillstand gekommen. Das führte zu einer Art innerprotestantischer Rekonfessionalisierung und zur Stärkung des Selbstbewusstseins der lutherischen Konfession. 1750 wurde ein lutherisches Oberkonsistorium gebildet, womit die Einheit der lutherischen Landeskirche im preußischen Staat gewährleistet war. Eingriffe in das innere Leben der Kirche hat der König nicht betrieben, außer der Einführung eines aufklärerischen neuen Gesangbuchs, des Myliusschen Gesangbuches, das zu Unruhen führte. Er benutzte die Kirche vor allem zur Förderung des staatlichen Wohls. Neben der Zivillandeskirche bestand eine Militärkirche, in deren inneres Leben Friedrich d. Gr. erheblich eingegriffen hat. Unter dem Soldatenkönig wuchs der Einfluss des Pietismus, so dass noch im Heer seines Sohnes eine Frömmigkeit herrschte, »wie man sie im 18. Jh. wohl in keiner anderen europäischen Armee fand« (160). Der dem Halleschen Pietismus zutiefst abgeneigte Friedrich d. Gr. berief Johann Christoph Decker, einen Schüler Christian Wolffs, zum Feldpropst und verlegte die Feldpropstei von Berlin nach Potsdam. Damit hörte der Einfluss Halles auf und die Trennung der Zivilkirche von der Militärkirche wurde definitiv. Im Blick auf die stark vermehrten Feldpredigerstellen in der 2. Hälfte des 18. Jh.s »ist nicht nur von Preußentum und Pietismus (Carl Hinrichs), sondern von Preußentum und Aufklärung zu reden« (162).
Eine bisher unbekannte, interessante Autobiographie eines u. a. Feldpredigers zur Zeit Friedrichs II. kommentiert W. und widmet die Studie Arndt Ruprecht zu dessen 80. Geburtstag, der diesen Johann Hermann Blume zu seinen Vorfahren zählt.
Weitere Themen der Aufsätze sind: »Johann Salomo Semler und der Humanismus«, »Ludwig Feuerbach und die theologische Tradition«, »Karl Holl und seine Schule«, »Die Wiedergründung der Zeitschrift für Theologie und Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg« und »Bekennen und Verwerfen vom 4. bis zum 19. Jahrhundert«.
Aus dem 19. Jh. erinnert W. an seinen Urgroßvater Johann Chris-tian Wallmann als einer interessanten, heute vergessenen Gestalt der Missionsgeschichte.
Im letzten Teil »Bekennen und Ökumene« beschäftigen sich fünf Aufsätze mit unserer jüngsten Gegenwart im Streit um die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. An dieser bewegten De­batte haben W. und seine Frau Dorothea Wendebourg intensiv teilgenommen, und sie wird hier detailliert und kritisch dargestellt. In dem letzten Aufsatz »Protestantismus und Ökumene« kommt die Hauptintention W.s zur Ökumene noch einmal klar zum Ausdruck: Seine kritische Haltung tritt für eine Ökumene ein, »die nicht rückwärtsgewandt die traditionellen Lehrgegensätze durch profillose gemeinsame Erklärungen abschleift, sondern die vorwärtsgewandt und die konfessionellen Differenzen als einen Reichtum ernstnehmend sich um gegenseitiges Verstehen, um wechselseitige Anerkennung und Überwindung aller Trennungen müht« (496).
Im detaillierten Inhaltsverzeichnis, was ein Sachregister ersetzt, sind einige Nummern verdreht. Nachweis der Erstveröffentlichun-gen und Register beschließen den gehaltvollen Band. – Nicht tote Gelehrsamkeit, sondern fundiertes Mitreden der Historie für die Belange der Gegenwart kennzeichnen die Aufsätze W.s.