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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1092–1093

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Vogel, Bernd

Titel/Untertitel:

»Alle Angst vor der Zukunft überwunden …«. Mit Dietrich Bonhoeffer im Gespräch.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 162 S. m. 24 Abb. Kart. EUR 19,00. ISBN 978-3-17-038671-6.

Rezensent:

Hartmut Rosenau

Aufgrund einer sensiblen Wahrnehmung unserer post- oder spätmodernen Gegenwart (11) blickt der Autor dieses lesenswerten Buches auf das Leben eines weithin bekannten und anerkannten Theologen und sein Denken zurück, um es heute für einen vertrauensvollen Blick in die Zukunft neu ins offene Gespräch zu bringen.
Bernd Vogel geht es dabei nicht darum, Bonhoeffer als »Glaubenshelden« des 20. Jh.s zu feiern. Auch nicht darum, seine sonderbare Theologie (48) zwischen Frömmigkeit und Wissenschaft als Antwort auf alle heutigen Fragen in Politik, Gesellschaft und Kultur zu empfehlen. Vielmehr ist es V.s Anliegen, das Vorläufige, Biographisch-Situative, Plurale, Unabgeschlossene und Fragmentarische von Bonhoeffers Denken zu betonen und es deswegen kommunikativ und aspektivisch stark zu machen (7).
Etablierte dogmatische oder hermeneutische Grundsätze werden auf diese Weise ihrer oft erstarrten Prinzipienstellung enthoben und im Blick auf Bonhoeffers nach wie vor umstrittene Diagnose einer »religionslosen Zeit« (48) erfrischend anders interpretiert (27). Dazu weckt V. im letzten Kapitel seines Buches (99–144) insbesondere den bisher kaum rezipierten, von E. Bethge so genannten und auf den 3.8.1944 datierten »Entwurf einer Arbeit« (DBW 8, 556 ff.) aus seinem »Dornröschenschlaf«. V. versteht diesen nur in Stichworten skizzierten, Kirche und Theologie nach wie vor provozierenden Text als Bonhoeffers »Manifest«. Sich mit diesem auseinanderzusetzen bedeutet, nicht mehr – wie Bultmann – zu f ragen, was denn heute noch geglaubt werden kann, und auch nicht mehr – wie Barth – zu fragen, was denn heute wieder ge­glaubt werden soll, sondern – wie Bonhoeffer – zu fragen, was denn heute »wirklich« geglaubt wird, und zwar so, dass es uns angeht (119).
Natürlich ist auch dies nur eine von mehreren möglichen Perspektiven, wie Bonhoeffer gelesen werden kann. Aber es ist eine, die zumindest einer sich vor allem in den USA ausbreitenden evangelikalen, ja fundamentalistischen Lesart bis hin zu konservativen politischen Vereinnahmungen den Boden entzieht (22 f.115) und stattdessen Aufklärung, Toleranz und Mündigkeit als Motive für Bonhoeffers Glauben und Denken herausstellt (16 f.90).
Frömmigkeit und Bildung (41) – »dies beides nicht als Erfahrung eines einsamen Individuums, sondern in einer tragenden Gemeinschaft von Menschen, in der Begegnung der Verschiedenen« (26) –, das macht Bonhoeffer für uns heute in »verheißungsvoller Gottlosigkeit« (49) interessant und regt zu weiterem selbstständigen Denken an. Eine solche »weltliche«, »nicht-religiöse« (nicht, wie 139 f. gesagt, »unreligiöse«) Interpretation des christlichen Glaubens schließt private »Innerlichkeit« und »Gefühl« nicht aus (so 41), sondern hebt beides in einem weisheitlichen »Warten« auf (43.47.73). Dieses zeigt, dass das Hin und Her der Vermutungen, ob wir tatsächlich in einer völlig säkularisierten Zeit ohne Religion oder nicht doch in einer Zeit wild aufblühender Religiosität auch in der Öffentlichkeit leben, an Bonhoeffers Diagnose vorbeigeht. Beides stimmt – und deswegen ist die beides zusammenfassende Erfahrung des allmächtig-ohnmächtigen Gottes in unserer Welt (86) ambivalent und ein Zeichen von Gottesferne. Dieser Verlust von Eindeutigkeit kann dann mit Bonhoeffer durchaus »religionslos« genannt werden (71.73).
Auf Gott »warten« meint jedoch nicht eine Haltung passiver Hinnahme eines Schicksals, sondern die aktive Bereitschaft zur Prüfung aller Möglichkeiten auf dem Boden »gedanklich gesicherter Zuversicht« (77) in der situativen »Nachfolge« Jesu Christi (78), im »Beten und Tun des Gerechten« (115). In einem solchen Glauben »müßte alle Angst vor der Zukunft überwunden sein« (72). Ja, »müsste« – aber wird sie auch? Diese Hoffnung, ja Gewissheit des christlichen Glaubens »müsste« allerdings noch eine existenzial-anthropologische Grundierung erhalten, um wirklich »gedanklich gesichert« zu sein. Denn, wie V. Bonhoeffer zitiert (DBW 8, 557): »Zuletzt kommt es doch auf den Menschen an« (133).