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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1086–1088

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Subklew-Jeutner, Marianne

Titel/Untertitel:

Schattenspiel. Pfarrer Eckart Giebeler zwischen Kirche, Staat und Stasi.

Verlag:

Berlin: Metropol Verlag 2019. 456 S. = Schriftenreihe der Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, 12. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-86331-498-9.

Rezensent:

Martin Fischer

Die promovierte Politikwissenschaftlerin und evangelische Theologin Marianne Subklew-Jeutner, die u. a. als Korrespondentin des Evangelischen Pressedienstes, als Pastorin sowie bei der Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur tätig war und seit 2017 an der Universität Hamburg forscht, hat eine beachtenswerte Studie über den evangelischen Pfarrer Eckart Giebeler vorgelegt, der in der DDR als Gefängnisseelsorger hauptamtlich beim Staat angestellt war und zugleich bis zum Herbst 1989 inoffiziell für das Ministerium für Staatssicherheit berichtete.
Die Arbeit ist für die Forschung in doppelter Hinsicht bedeutsam. (1.) Zum einen ist sie aus der Perspektive der Aufarbeitungsforschung von Interesse. Giebelers Tätigkeit im Zuchthaus Brandenburg-Görden und in anderen Gefängnissen der DDR war einmalig. Zwar gab es bis 1966 noch zwei weitere hauptamtliche Pastoren im Staatsdienst, doch nur er führte mit großer Staatstreue seine Aufgabe bis zum Zusammenbruch des SED-Regimes durch. Aufgrund seiner IM-Tätigkeit geht es bei Giebeler zudem um Verrat der ihm seelsorglich anvertrauten Häftlinge. Indem das Vertrauen der Gefangenen, die sich in ihrer seelischen Not an diesen Mann wandten, missbraucht wurde, war damit letztlich auch die Frage der unwürdigen Haftbedingungen berührt. Seine Person fand daher bereits am Rande verschiedener Forschungsarbeiten zum DDR-Strafvollzug entsprechende Berücksichtigung. Die vorliegende Arbeit hilft hier das bisherige fragmentäre Bild zu vervollständigen. (2.) Sie ist aber darüber hinaus auch für eine zweite Forschungsdisziplin von Bedeutung: für die kirchliche Zeitgeschichte, denn die Vfn. betritt mit dem Themenkomplex »Gefängnisseelsorge in der DDR« ein kirchenhistorisch weitestgehend unerforschtes Feld. Zwar verfasste Giebeler 1992 eine äußerst beschönigende Autobiographie und zwei Journalisten deckten zu Beginn der 1990er Jahre seine Stasi-Vergangenheit auf und veröffentlichten dies über einen Fernsehbericht hinaus auch etwas reißerisch in Buchform. Wissenschaftliche Studien zu den Formen der konfessionellen Gefängnisseelsorge in der DDR stehen jedoch noch aus. Die Vfn. leistet mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag, um diese Forschungslücke für die protestantische Seite zu schließen.
In der genannten Autobiographie kreiert Giebeler sein eigenes Narrativ, das ihn als unbeugsamen, mutigen Gefängnispfarrer darstellt, der den Zumutungen von Stasi und Staatsmacht widerstanden habe. Dieses Selbstbildnis steht jedoch in einem krassen Widerspruch zu dem Aktenbefund des MfS, der seine IM-Tätigkeit offenbart. Giebeler stellte sich nach 1990 nicht seiner Vergangenheit – oder wie die Vfn. es nennt, »seinen Schatten« –, sondern schrieb seine eigene Biographie um und nutzte nicht die Chance, die sich mit dem Ende der DDR bot, um sich von schuldhaften Bindungen zu lösen. Sein öffentlich publiziertes biographisches Narrativ passte er der neuen Zeit an und agierte damit weiter als »Schattenspieler«, der »versucht, seine Schattenbilder an die Wände der Erinnerungskultur zu projizieren« (357).
Dieses sprachliche Bild gab dem Buch nicht nur seinen Titel »Schattenspiel«, sondern zieht sich als roter Faden durch die Arbeit. So geht es zunächst in »Schatten der Vergangenheit« um den Vater Erich Giebeler, dessen Zugehörigkeit zur Waffen-SS sein Sohn bei seiner Einstellung verschweigt. In »Schattenwege« wird der Weg Giebelers zum Gefängnisseelsorger (1949) beschrieben, dem sich mit »Schattenrand« seine Übernahme in den Dienst der Volkspolizei (1953) anschließt. In »Schattenwerk« arbeitet die Vfn. die entscheidende Frage heraus, wem Giebelers Loyalität galt. War er als o rdinierter Pfarrer seiner Landeskirche verbunden oder setzte er sich auch gegen die Kirche für die Belange seines staatlichen Dienstherrn ein? So wird z. B. der geringe Stellenwert, den er der kirchlichen Amtsverschwiegenheit beimaß, besonders an seinen Berichten an das MfS über die Sitzungen der Gefängnisseelsorgerkonvente deutlich.
Nach diesen einführenden Kapiteln kommt mit »Schattenspieler – Pfarrer Eckart Giebeler alias IM ›Roland‹« sowie mit »Schattenwelten – Selbstverständnis als Seelsorger im DDR-Strafvollzug« der erste große Hauptteil, der sich ganz dessen Tätigkeit anhand der überlieferten Stasi-Unterlagen sowie dessen Seelsorgeverständnis widmet. Die IM-Akte liefert ein nahezu erdrückendes Bild. Die Vfn. hätte dies zum Anlass nehmen können und die Geschichte eines »Stasi-Schweins« schreiben können. Doch dieser Versuchung er­liegt sie nicht, sondern wählt einen methodisch besseren Weg. Sie nimmt einerseits die nach 1990 getätigte Selbstaussage Giebelers, »unwissentlich abgeschöpft« worden zu sein (96), sowie die von der EKD erlassenen Kriterien zur Beurteilung von MfS-Kontakten als Bewertungsmaßstab und untersucht die Akten ohne Vorverurteilung unter dieser Brille und hinterfragt sie. Das Ergebnis zum Schluss ist dennoch eindeutig.
Der zweite Hauptteil des Buches beschäftigt sich mit den Ereignissen nach 1990. Mit »Schattenreich« geht es um seine Enttarnung 1992 und die darauffolgende Entlassung durch das Brandenburger Justizministerium. Sehr spannende Einblicke erhält der Leser im Kapitel »Schattenseiten«, das die unterschiedlichen Reaktionen (von Giebeler selbst, die der Medien, die des Verlages seiner Autobiographie und die der Kirche) vorstellt. So nimmt die Vfn. die Abwehrreaktionen Giebelers zum Anlass, um mit Hilfe von biblischen, philosophischen und psychologischen Deutungsmustern die Grundmuster von Schuldabwehr herauszuarbeiten. Die Arbeit erhält damit eine spannende theologisch-philosophische Perspektive. Wichtig ist auch die Reaktion der evangelischen Kirche. Diese zeigte sich zunächst empört über die Entlassung und solidarisierte sich mit Giebeler, der wiederum hinter der Aufdeckung durch die Journalisten einen Komplott des katholischen Gefängnisseelsorgers Johannes Drews vermutete. Seitens der Landeskirche wurde dieses Narrativ unterstützt, da die seelsorglichen Angebote des katholischen Pfarrers deutlich mehr Zulauf hatten (302 f.). Leider lässt die Vfn. diese Aussage ohne jede Einordnung stehen. Tatsächlich wurden innerhalb der Häftlingsgesellschaft bereits vor 1989 häufiger Vermutungen über eine Stasi-Mitarbeit Giebelers laut. Vor allem war es aber Pfarrer Drews, der während der Häftlingsproteste 1989/90 zum Vermittler der Gefangenen wurde und sich damit weit über die katholischen Insassen hinaus maßgebliches Vertrauen erworben hatte, so dass sie lieber ihn aufsuchten als Giebeler.
Mit »Schattenbilder – Stasi-Überprüfung der Kirche« wird ein letztes Kapitel vor dem Fazit dargeboten, welches auch einen Ex­kurs zur Nutzung der Akten des kirchlichen Überprüfungsausschusses enthält. Ein sehr hilfreicher Service für den interessierten Leser ist der umfangreiche Dokumentenanhang, der nicht nur zahlreiche IM-Berichte transkribiert, sondern darüber hinaus mehrere Medienberichte enthält, die im Kontext der Enttarnung 1992 entstanden sind.
Zuletzt sind noch zwei formale Punkte hervorzuheben: So kommt die journalistische Schule der Vfn. der Arbeit sehr zu Gute, die es versteht mit einer gewissen Eleganz mit der deutschen Sprache umzugehen, so dass es eine Freude ist, dieses Buch zu lesen. Zum anderen leidet darunter keineswegs die wissenschaftliche Genauigkeit. Es ist beeindruckend, welch selbst entlegensten Ar­chive für diese Arbeit konsultiert wurden und wie ausführlich mögliche sich aus dem Aktenbefund ergebende Fragen gestellt und diskutiert werden. Für die Forschung ist dieser Band ein Gewinn, und es ist ihm eine breite Rezeption zu wünschen.