Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1083–1086

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Bauer, Gisa [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Politik – Kirche – politische Kirche (1919–2019). Die evangelischen Kirchen von Hessen und Nassau im Spiegel ihrer kirchenleitenden Persönlichkeiten.

Verlag:

Tübingen: A. Francke Verlag 2019. 301 S. Geb. EUR 29,90. ISBN 978-3-7720-8696-0.

Rezensent:

Martin Hein

Das Selbstbild der heutigen Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) ist stark von dem Bewusstsein geprägt, eine »streitbare fromme und politische Kirche« zu sein. Sie stehe, so Kirchenpräsident Volker Jung im Vorwort zu dem anzuzeigenden Band, »für öffentliche Theologie« und »diakonisch-gesellschaftspolitisches Engagement« (8).
Damit verbindet sich ein Selbstanspruch, dem die Autorinnen und Autoren des Bandes mit Blick auf die jeweils Leitenden Geistlichen der Vorläuferkirchen und seit 1947 der EKHN nachgehen. Als notwendig erweist es sich dabei, den Begriff »Politisierung« genauer zu fassen. Denn spätestens seit dem Ende der 1960er Jahre verbindet sich mit ihm im allgemeinen Sprachgebrauch eine Orientierung an »linker« Gesinnung und Politik – was auch gegenwärtig noch die Außenwahrnehmung der EKHN prägt. Gleichwohl zeigt der Band, in welch eminenter Weise seit 1919 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs von einer »Politisierung« in die entgegengesetzte Richtung gesprochen werden muss. »Politisierung« sagt an sich noch nichts über die inhaltliche Bestimmtheit kirchlicher Positionen aus, sondern indiziert nur das Interesse und die Teilhabe von Kirchenleitungen und Synoden am öffentlichen Geschehen. Insofern stellte sich mit der in der Weimarer Reichsverfassung dekretierten Trennung von Staat und Kirche prinzipiell das Erfordernis, sich zu Staat und Gesellschaft verhalten zu müssen. Dem suchen die Beiträge des Bandes durch die Erhellung der Interdependenzen von Biogrammen und politischen Herausforderungen der Zeit nachzuspüren. Es kommen also – einer gewissen historiographischen Wende entsprechend – handelnde Personen und deren Motive in den Blick!
Die Entstehungsgeschichte der EKHN stellt sich ausgesprochen komplex dar (Julia Csehan/Malte Dücker: 27–88) – darin den Verhältnissen in Kurhessen-Waldeck nicht unähnlich: »Hessen« als heutiges Bundesland war ja erst 1945 ein Ergebnis amerikanischer Besatzungspolitik. Dem Titel entsprechend beziehen sich die Ausführungen zunächst auf die drei Vorgängerkirchen – die Evangelische Landeskirchen in Hessen (-Darmstadt), Nassau und Frankfurt am Main – und charakterisieren jeweils die prägenden Persönlichkeiten: Prälat Wilhelm Diehl (Darmstadt), Landesbischof August Kortheuer (Wiesbaden) und Wilhelm Bornemann und Johannes Kübel (Frankfurt). In ihren politischen wie theologischen Vorstellungen durchaus verschieden, waren alle bestrebt, auf der politischen Ebene die Interessen der Landeskirchen gegenüber dem neuen Staat zu artikulieren und damit »politisch« zu wirken (19). Insgesamt wird man urteilen müssen, dass es sich bei den genannten Kirchenleitern um Männer handelte, die letztlich noch in den alten Verhältnissen verwurzelt waren, auch wenn sie genötigt wurden, sich den gewandelten Bedingungen gegenüber zu öffnen.
Das änderte sich 1934 mit dem erzwungenen Zusammenschluss der drei Landeskirchen zur Evangelischen Kirche in Nassau-Hessen und der Ernennung von Ernst Ludwig Dietrich (seit 1932 Mitglied der NSDAP) zum »Landesbischof« (75–82). Politisch ohne Einfluss, weil gleichgeschaltet, suchte er das Führerprinzip in der vereinigten Kirche zu etablieren. Ende 1938 bemühte er sich um eine innerkirchliche Befriedung, wobei er zunehmend die Unterstützung durch die Nationalsozialisten verlor (82).
Die Darstellung der Zeit von 1919 bis 1945 umfasst nur wenig mehr als ein Viertel des Bandumfangs. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf den Jahrzehnten seit 1945. Vielleicht nicht ohne Grund: Die Zeit bis zum Kriegsende ist – was die »politische« Kirche angeht – bei einer ausschließlichen Fokussierung auf die Leitungspersönlichkeiten eher kein Ruhmesblatt. Der sogenannte »Kirchenkampf« der Bekennenden Kirche bleibt da eher unberücksichtigt.
Als Leser hat man den Eindruck, die eigentliche Geschichte der EKHN beginne erst mit dem Jahr 1947: dem erneuten, nun freiwilligen Zusammenschluss der drei Landeskirchen. Das von Jan Schubert verfasste Kapitel über den ersten Kirchenpräsidenten Martin Nie-möller (89–127) ist eines der spannendsten des ganzen Buches: nicht als Hagiographie verfasst, sondern in kritisch-wohlwollender Dis-tanz den radikalen Wandel beschreibend, den Niemöller für die EKHN bedeutete. Den durch Dietrich kontaminierten Titel »Landesbischof« lehnte Niemöller ab, um desto autokratischer und unberührt von jeglichen synodalen Befindlichkeiten – der langjährige Präses und Mitbegründer der Bekennenden Kirche in Frankfurt, Hans Wilhelmi, war CDU-Mitglied und Bundestagsabgeordneter! – als Kirchenpräsident zu agieren: »Westintegration und Wiederbewaffnung«, »Atomrüstung und Pazifismus«, »Ökumene und Versöhnung« – unter diesen Überschriften wird Niemöllers öffentlichkeitswirksames Auftreten dargestellt. Dass er bei vielen seiner Aktionen die Mehrheit seiner Kirche nicht hinter sich wusste, bereitete ihm keinerlei Probleme. Die EKHN wurde in der Außenwahrnehmung zur »Niemöller-Kirche«.
Bedauerlich ist, dass in der Darstellung der politischen Optionen Niemöllers seine vehemente Ablehnung des Staates Israel fehlt. Ob sie nicht in das inzwischen tradierte Bild hineinpasst? Eine Auseinandersetzung mit Niemöllers irritierender Position gegenüber Israel ist ein drängendes Desiderat! Bis in die Gegenwart hinein wird die Zentrierung der EKHN-Geschichte auf Niemöller unterschiedlich bewertet: Indiz dafür sind die beiden neueren, sehr divergenten Biographien des ersten Kirchenpräsidenten der EKHN ( Michael Heymel, Martin Niemöller. Vom Marineoffizier zum Friedenskämpfer, 2017, bzw. Benjamin Ziemann, Martin Niemöller. Ein Leben in Op­position, 2019).
Politisch prägend war neben Niemöller vor allem der dritte Kirchenpräsident Helmut Hild – ohne damit die Bedeutung des nur kurz amtierenden, weil früh verstorbenen Wolfgang Sucker (Gisa Bauer: 129–165) übergehen zu wollen. Hild – in der Öffentlichkeitsarbeit geschult – drängte es nicht aus persönlichem Ehrgeiz aufs politische Parkett, sondern er wurde 1969 in einer »Zeit des permanenten Umbruchs« Kirchenpräsident (so Ute Dieckhoff: 167–211).
Kirchengeschichte wird nun für viele Leserinnen und Leser zur erlebten Zeitgeschichte: Frankfurt als ein Zentrum der studentischen »Revolution«, gesellschaftliche Aufbrüche, Aussöhnung mit Polen und der UdSSR im Zusammenhang der Ostpolitik Willy Brandts, Unterstützung des Anti-Apartheid-Fonds des Weltkirchenrats durch die EKHN als einziger Landeskirche in Deutschland, Mitgliedschaft von Pfarrern in der DKP, Reform des § 218 StGB, Bau der Startbahn West am Frankfurter Flughafen – überall musste Hild in seiner Kirche, aber auch gegenüber einer polarisierten Öffentlichkeit vermitteln und zugleich Position beziehen: ein kräftezehrendes Unterfangen, das ihn allerdings zu einem »der profiliertesten Sprecher des deutschen Protestantismus« machte, wie der damalige Präses der Kirchensynode, Otto Rudolf Kissel, urteilte (207).
Gegenüber der engagierten Darstellung der Amtszeit Helmut Hilds steht die Analyse der Jahre, in denen der ursprünglich pietistisch geprägte Helmut Spengler Kirchenpräsident war, etwas zu­rück (Gisa Bauer/Anette Neff: 213–261): Das mag zum einen an der Tatsache liegen, dass sich das Kapitel im Wesentlichen auf zwei Interviews mit Spengler stützt, die teilweise sehr ins Anekdotische gehen (z. B. 258: »[…] habe dann diese, sozusagen, ja EKD-Mafia kennen gelernt«), zum anderen auch daran, dass sich Spengler mit dem steten Anspruch, »eine vermittelnde Position vertreten« zu haben (229), weniger exponierte und dadurch weniger angreifbar machte. So lautet das Fazit seiner Amtszeit – trotz der Fülle von politischen Herausforderungen, denen sich Spengler stellen musste: Er als »eigentlich Unpolitischer« (257) wirkte politisch, »ohne konfrontativ sein zu wollen« (259).
Die Reihe der Kirchenpräsidenten der EKHN endet im Band mit Peter Steinacker und dessen Dienstzeit – also mit dem Jahr 2008 (Sarah Jäger: 263–299). Bedauerlich ist, dass trotz des Titels des Bu­ches, der suggeriert, das Jahrhundert von 1919 bis 2019 in den Blick zu nehmen, die folgenden ersten zehn Amtsjahre von Kirchenpräsident Jung nicht gewürdigt werden.
Peter Steinackers Darstellung als Kirchenpräsident unterscheidet sich von den vorangehenden im Band: Es steht weniger der Kirchenpolitiker im Mittelpunkt, der Steinacker zweifelsohne auch war. Der Fokus richtet sich vielmehr auf sein theologisches Denken und die Folgen, die das für seine politische Haltung hatte. Insofern führt dieser Beitrag in grundlegendere Dimensionen als bei seinen Vorgängern: Steinacker war und blieb als Kirchenpräsident bewusst Theologieprofessor. Insgesamt gibt es nur wenige Stellungnahmen, in denen er sich explizit politischen Themen zuwandte (294). Seine Ausführungen etwa zu einer »Theologie der Religionen« oder zu Toleranz und zum Miteinander der Religionen lesen sich daher auch weniger anlassgebunden, sind dafür aber bleibend aktuell in ihrer Zeitdiagnose und ihren Konsequenzen. Auf seine spezifische Weise verband er, was der Titel der ihm 2003 gewidmeten Festschrift aussagt: »Theologie und Kirchenleitung« – und zwar in dieser Reihenfolge!
Die Autorinnen und Autoren legen keine Gesamtdarstellung der Vorgeschichte und Geschichte der EKHN vor. In der doppelten Beschränkung auf einzelne Persönlichkeiten und die Frage ihrer politischen Urteilsbildung und Einflussnahme liegt die Chance einer Profilierung – allerdings um den Preis, dass anderes, was aus diesem Wahrnehmungsraster herausfällt (etwa die frömmigkeitliche Unterschiedlichkeit der Landeskirche), unerwähnt bleibt. Es handelt sich um erhellende Schlaglichter, die die »Streitbarkeit« der EKHN verstehen lassen. Das lohnt die Lektüre des Bandes allemal! Zudem regt er an, über »politische Kirche« als ekklesiologisches Leitbild kritisch nachzudenken.