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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1079–1081

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hunt, Laura J.

Titel/Untertitel:

Jesus Caesar. A Roman Reading of the Johannine Trial Narrative.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XV, 417 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 506. Kart. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-157526-6.

Rezensent:

Wolfgang Reinbold

Das Buch ist eine überarbeitete Version der Dissertation Laura J. Hunts (Jahrgang 1961), die sie 2017 bei Catrin H. Williams an der University of Wales Trinity Saint David abgeschlossen hat.
Die Arbeit vertritt eine originelle These zur Interpretation der johanneischen Darstellung des römischen Prozesses gegen Jesus: Das Johannesevangelium enthalte unter der Oberfläche des Textes eine verborgene Botschaft für lateinisch sprechende und durch die römische Kultur geprägte Leser. Ihnen präsentiere es Jesus als einen Caesar, dem höchste Loyalität gebühre. Durch gezielt gesetzte Andeutungen, Anspielungen und Mehrdeutigkeiten gebe der Text diesen Lesern zu verstehen, dass Jesus 1. des Amtes des Caesar in höchstem Maße würdig ist, dass 2. Pilatus ihn als solchen erkennt und identifiziert, dass 3. die römischen Soldaten ihn als Caesar anerkennen und akklamieren, dass 4. Jesus Caesar am Kreuz triumphiert und dass es 5. schließlich zu seiner Apotheose kommt.
Die Arbeit ist in sieben Kapitel gegliedert: Kapitel 1 (»The Romans, Their Language, and the Gospel of John«, 1–51): Aus Sicht der Vfn. sind der Einfluss der römischen Kultur und der lateinischen Sprache auf das Joh in der bisherigen Forschung zu kurz gekommen (3). Wichtig für ein angemessenes Verständnis sei insbesondere das Konzept des »hidden transcript« (22–28), d. h. eines aus taktischen Gründen verborgenen Subtextes einer unterdrückten Minderheit. An vielen Stellen enthalte das Joh »römisch« ko­dierte »hidden transcripts«.
Kapitel 2 (»The Semiotics of Multilingual Communication«, 52–90): In methodischer Hinsicht beruft sich die Vfn. insbesondere auf semiotische Theorien, namentlich auf Umberto Eco und dessen Konzept der kulturellen »Enzyklopädie«. Von Stefan Alkier übernimmt sie den Begriff des »universe of discourse«. In der Folge unterscheidet sie für das Joh drei voneinander zu unterscheidende »Enzyklopädien«: eine jüdische, eine römische und eine griechische. Entsprechend zahlreich seien die Möglichkeiten, den Text zu interpretieren.
Kapitel 3 (»Latin Intersections in the Eastern Roman Empire and the Gospel of John«, 91–142) sucht nach den römischen »Haftpunkten«, wie die Vfn. mit Stefan Alkier gern sagt, im johanneischen Text. Zunächst geht sie der Frage nach, ob es überhaupt plausibel sei, dass die lateinische Sprache und die römische Kultur an dem Ort, an dem das Joh verfasst wurde, präsent und einflussreich waren. Das bejaht sie sowohl für Ephesus als auch für Antiochia und Alexandria, die aus ihrer Sicht als Entstehungsort in Frage kommen (91–119). Die zweite Hälfte des Kapitels widmet sich evidenten oder möglichen Latinismen im Evangelium (ursprünglich lateinische Begriffe wie πραιτώριον, Καῖσαρ u. a.; mögliche syntaktische Latinismen; mögliche Lehnübersetzungen). So fungiere etwa das Wort »Prätorium« als »Haftpunkt that signals to the hear-ers to bring the Roman encyclopaedia to bear on the description of the events that occur in this very Roman place« (123). Den fehlenden Artikel vor υἱὸν θεοῦ in Joh 19,7 deutet die Vfn. als Latinismus, als »a reference to divi filius«; der römische Kontext »blows up the Roman cultural unit of this phrase« (130).
Kapitel 4 (»Legitimizing Jesus as Caesar«, 143–186) geht dieser Spur weiter nach. Die Vfn. sucht zu zeigen, dass auch andere Elemente, die für einen Caesar konstitutiv sind, in der johanneischen Erzählung berichtet werden: 1. Eine recusatio, d. h. die bescheidene Ablehnung des angetragenen, hohen Amtes (6,15). 2. Der Konsens der Götter (1,32–34; 12,27–33 u. a.). 3. Der Konsens des Volkes (4,40–42; 12,12–19). Zwar sei die Enzyklopädie beim Einzug nach Jerusalem letztlich jüdisch – Jesus reitet auf einem Esel. »Yet […], Roman-aware auditors of the Fourth Gospel could reframe that previous narrative according to the claims of Jesus as a βασιλεύς. He is welcomed as a Roman ruler should be« (174 f.). Darüber hinaus klinge das Wort ἐξουσία in 19,10–11 für einen römischen Hörer nach potestas bzw. imperium (180–185).
Kapitel 5 (»Presenting Jesus as Caesar«, 187–241) enthält die zentrale These der Arbeit: Der berühmte Satz des Pilatus in 19,5 (»Siehe, der Mensch«) enthalte einen Bezug auf die Ankündigung des Caesar Augustus in Vergils Aeneis. Dort prophezeit Aeneas’ Vater Anchises: »hic vir hic est, tibi quem promitti saepius audis, Augustus Caesar, Divi genus« (6,791) (»Dieser Mann, der ist es, der dir – du hörst es immer wieder – verheißen wird, Caesar Augustus, des Göttlichen Sohn.« [Ed. Gerhard Fink, 2005, 290 f.]). Die Vfn. folgert daraus, Joh nutze »the Roman concept of imperator to describe Jesus« (230). Eine wichtige Rolle bei der Präsentation Jesu als Caesar spiele darüber hinaus die Akklamation durch die Soldaten samt Verkleidung als König in 19,2–3 (187–210).
Kapitel 6 (»Testing Loyalties: An Inferential Walk through John 18:28–19:22«, 242–297) gliedert die johanneische Erzählung und un­ternimmt einen »inferential walk« durch den Text. Die Kreuzigung interpretiert die Vfn. als finale Apotheose (consecratio) »with the cross as the means of Jesus’ elevation« (295). Der auch auf Latein geschriebene titulus vollende das Bild: »Jesus on the cross thus be­comes, with the help of a transcript hidden in the Jewish encyclopaedia, not only βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων but Jesus Caesar« (296).
Kapitel 7 (»Concluding Synthesis«, 298–302) fasst zunächst we­sentliche Ergebnisse der Arbeit zusammen. Dann folgt eine »brief discussion on plausibility« (300), die merkwürdig nachklappt und in der Luft hängt. Die Vfn. reagiert hier auf mögliche fundamentale Einwände und alternative Interpretationen, die sie offenbar noch erwähnen möchte.
Das Buch wird vervollständigt durch drei Appendizes (303–332) sowie durch ein ausführliches Literaturverzeichnis und Indizes (333–417).
Die Arbeit ist ausgesprochen materialreich. Sie enthält eine Fülle von Einzelbeobachtungen, Anmerkungen, Quellen, Literaturlisten, Exkursen, Auseinandersetzungen mit der Sekundärliteratur und Ähnliches mehr. Der erste Appendix sammelt die Evidenz für griechische Übersetzungen der Aeneis vom 1. bis 6. Jh. (303–318). Der zweite Appendix diskutiert eingehend, wer in Joh 19,13 auf dem Richtstuhl sitzt (319–331). Auch der methodische Aufwand ist hoch. Immer wieder versucht die Vfn., das Gesagte durch komplexe Schaubilder und Tabellen zu verdeutlichen.
Die Hauptthese der Arbeit wirkt demgegenüber erratisch. Sie hängt wesentlich an der These, Joh 19,5 beziehe sich auf Vergils 6. Gesang. Der von der Vfn. hergestellte »Bezug« zwischen den beiden Texten ist allerdings so vage, dass sich mit Leichtigkeit Bezüge zu einer Fülle anderer Texte herstellen ließen. Tatsächlich enthält der griechische Text kein einziges Wort, das bei einer wortgetreuen Übersetzung aus dem Lateinischen zu erwarten gewesen wäre. Hier wäre in der Tat eine »discussion on plausibility« nötig gewesen. Stattdessen notiert die Vfn. zwar ausdrücklich, dass es keinerlei wörtliche Übereinstimmung gibt, lässt sich davon aber nicht weiter beirren (215 ff.). Ich frage mich: Wenn das ein literarischer »Bezug« ist, was ist dann kein literarischer »Bezug«? Wie soll man ein solches Verfahren methodisch kontrollieren? Ist das nicht das, wovor uns Samuel Sandmel vor 60 Jahren gewarnt hat: »Parallelomania«? (S. Sandmel, Parallelomania, JBL 81, 1962, 1–13).
Auch an anderen Stellen hat mich die Analyse nicht überzeugt. M. E. gibt es in (fast) allen Fällen näherliegende, überzeugen-dere Interpretationen. Ein ursprünglich lateinisches Wort wie πραιτώριον steht etwa auch bei Markus und Matthäus (und Paulus). Wie kommt die Vfn. darauf, dass das Wort im Joh eine Bedeutung transportiert, die es bei den anderen Autoren nicht hat? Die Vfn. weist darauf hin, dass Joh das Wort mehrfach wiederholt (18,28.33; 19,9), während es in den Parallelen je nur einmal vorkommt (122 f.). Gewiss! Aber liegt das nicht schlicht daran, dass die Pilatus-Jesus-Szene bei Joh dramatisch inszeniert ist, mit einem Innen und einem Außen, zwischen dem Pilatus hin- und hergeht? Hinzu kommt: Die Vfn. hat sich entschlossen, die Frage nach den Quellen der johanneischen Darstellung außer Acht zu lassen (122). So nachvollziehbar diese Entscheidung im Blick auf die Länge und Anlage der Arbeit ist – die Quellenfrage ist kompliziert und höchst strittig –, so sehr hätte sie m. E. davon profitieren können.
Alles in allem ist der Vfn. dafür zu danken, dass sie eine originelle Perspektive in die Debatte eingebracht hat. Wer, wie ich, der These nicht zu folgen vermag, wird in der Arbeit dennoch neue und alte Argumente finden, die zur Präzisierung der Auslegung der johanneischen Darstellung des römischen Verfahrens gegen Jesus beitragen können.