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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1061–1063

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Jeremias, Jörg

Titel/Untertitel:

Nahum.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2019. 226 S. m. Abb. = Biblischer Kommentar – Altes Testament, XIV/5.1. Geb. EUR 60,00. ISBN 978-3-7887-3369-8.

Rezensent:

Aaron Schart

Jörg Jeremias, der seit 1983 (Hosea, ATD 24,1) mehrere international herausragende Kommentare zu den Schriften des Zwölfprophetenbuchs vorgelegt hat, hat nun in der Reihe »Biblischer Kommentar«, die erschöpfende Kommentare auf dem Stand der aktuellen Wissenschaft präsentieren will, einen Band zu »Nahum« vorgelegt. Die Kapitel folgen dem Aufbau des Buches: Einleitung (S. 9-42); Überschrift (Nah 1,1; S. 43-47), Hymnus auf YHWH als »Rächer« (Nah 1,2-8; S. 48-89), Ankündigung des Endes »Belials« (Nah 1,9-2,1; S. 91-118), Schilderung der Eroberung Ninives (Nah 2,2-14; S. 119-156), Bestrafung der »Hure Ninive« (Nah 3,1-7; S. 157-181), Ankündigung des Untergangs der assyrischen Hauptstadt (Nah 3,8-19; S. 183-213). Ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Register schließen den Band ab.
Die Einleitung umfasst die üblichen Abschnitte Forschungsstand, Buch, Zeit, Botschaft und Text. Das Buch entstand nach Jeremias über mehrere Stufen: a) Das älteste Material bilden Schlachtschilderungen ohne Gottesbezug (Nah 2,4-11; 3,2-3) und davon ursprünglich unabhängige, vermutlich mündlich vorgetragene Prophetien, die sich gegen die von Sanherib prachtvoll erbaute Reichshauptstadt Ninive richteten (z. B. Nah 3,1-7* und Nah 3,8-19*). Jeremias ist damit von seiner 1970 geäußerten These abgerückt, dass in der mündlichen Verkündigung einzelne Worte auch gegen Juda und Jerusalem gerichtet waren (Kultprophetie und Gerichtsverkündigung in der späten Königszeit, WMANT 35). b) Die ältesten Texte wurden zu einem Strophengedicht erweitert und mit der ersten der beiden Überschriften (Nah 1,1a) versehen: »Auf dieses ältere Nahumbuch sind neben 1,1a und 1,11.14 (ohne 14b α) vor allem 2,2.4-13; 3,1-7 (ohne V. 6) und 3,8-19* (V. 18: ohne »König von Assur«) zurückzuführen« (S. 23). c) Eine »eschatologische« Umformung erfolgte durch die Vorschaltung des halben alphabet-akrostischen Hymnus (Nah 1,2-8, die Zeilen beginnen mit den Konsonanten Aleph bis Kaph), wobei derselbe Redaktor durch Nah 1,9-2,1 zum älteren Schriftanfang überleitete. Jeremias datiert diese Letztfassung des Buches in spätpersische oder frühhellenistische Zeit.
Einen besonderen Akzent der Einleitung stellt der Abschnitt »Das Buch als Teil des Zwölfprophetenbuchs« (S. 35-38) dar. Jeremias stellt sich in den Forschungsstrang der letzten Jahrzehnte, den er selbst mit initiiert hat, der das Zwölfprophetenbuch als eine redaktionelle Großeinheit auffasst. Er hebt die Verknüpfung von Mi 7,18-20 mit Nah 1,2-3 hervor: Während Mi 7,18-20 die Gnade YHWHs preist, betont Nah 1 das Einschreiten gegen seine Feinde. Beide Texte spielen auf die sogenannte Gnadenformel in Ex 34,7 an. Das Nebeneinander sei dazu bestimmt, »die grundlegend verschiedenen Geschicke derer darzustellen, die ihr Vertrauen auf Gott legen oder aber zu seinen Widersachern geworden sind.« (S. 37) Ein weiteres Problem der Einbindung der Nahumschrift in das Zwölfprophetenbuch ist, dass Nahum eine Vernichtung Ninives erwartet, obwohl die Erzählung von Jona darstellt, wie Ninive eine vorbildliche Reue und Buße vollzogen hatte. Im frühen Judentum wurde dazu die Erklärung entwickelt, dass Ninives Buße nur oberflächlich oder gar nur vorgetäuscht gewesen sei. Für das Verständnis Nahums gilt nach Jeremias jedenfalls, dass Ninive als »Erzfeind Gottes« (S. 37) verstanden wird, dem nicht anders als durch völlige Vernichtung beizukommen ist.
Im Kommentarteil zeigt sich Jeremias als sehr genauer und kongenialer Kommentator, der die synchrone und die diachrone Perspektive miteinander verschränkt. Als Beispiel soll die Analyse des Abschnitts Nah 1,9-2,1 dienen, in dem die Aussagen in schneller Folge »wie Kraut und Rüben durcheinander« (Duhm) gehen. In sorgfältiger Kleinarbeit tastet sich Jeremias vom Gesicherten schrittweise vor und erkennt »eine ausgeklügelte Komposition«, die »die Technik der allmählichen Enthüllung vieldeutiger Aussagen« (S. 19) einsetzt.
Der Abschnitt beginnt mit der Frage »Was für Gedanken richtet ihr gegen JHWH?« (Nah 1,9), die den Hymnus abrupt beendet. Jeremias versteht sie als direkt an die Leser gerichtet (S. 100). Ihre Schärfe gewinnt sie erst, wenn man die Anspielung auf Hos 7,15 beachtet: Schon Hosea hatte ein bestimmtes »Planen« als Abtrünnigkeit von YHWH bestimmt. Die Zweifel an YHWHs Eingreifen als Rä­cher der Ausgebeuteten sind nicht viel anders einzuschätzen. Weiter bettet der Redaktor zwei ihm vorgegebene Gottesworte in seinen Text ein: Das ältere, das ursprünglich gegen Ninive und seinen König gerichtet war (Nah 1,11.14), legt er als Rahmen um ein jüngeres (Nah 1,12-13, eingeleitet durch die nur hier gesetzte Gottesspruchformel), das eine Feindmacht der spätnachexilischen Zeit betraf. Zusätzlich dramatisiert er die Bedrohungslage, indem er, sozusagen als letzten Referenzpunkt der verschiedenen anonymen gottwidrigen Elemente, die geheimnisvolle Figur des »Belial« einführt (Nah 2,1; Exkurs S. 113-115). Er personifiziert damit erstmals einen Begriff, der sonst eine Eigenschaft bezeichnet. Jeremias wählt als Äquivalent den Begriff »Erzfeind Gottes«. Die Leitaussage »nie wieder« (Nah 1,9.12.14; 2,1) antizipiert den endgültigen Sieg Gottes. Wenn dieser vollbracht sein wird, wird »Juda wieder frei atmen und seine Festgottesdienste wie früher feiern können« (S. 20). Man mag Jeremias nicht in allem zustimmen und die Literarkritik anders beurteilen, seine Deutung bleibt aber faszinierend.
Jeremias äußert sich immer wieder auch zu hermeneutischen Fragen. Jedes Kapitel schließt mit einem Abschnitt, der das theologische »Ziel« zusammenfassend darstellt, wobei auch in das Neue Testament hinübergeblickt wird. Schon im Vorwort weist er auf den singulären Umstand hin, dass das Nahumbuch konsequent von hinten nach vorn gewachsen ist – ein Umstand, der sonst kaum bewusst wahrgenommen wird. Jeremias würdigt als theologische Leistung, dass in Nah 3,1-7 die Schuld Ninives mit den Kategorien der klassischen Propheten (besonders Hoseas, aber auch Jeremias) beschrieben wird, die diese entwickelt haben, um die Schuld Samarias und Jerusalems zu benennen. Weil sich das Nahumbuch ganz auf die Verbrechen Ninives gegenüber den Völkern insgesamt konzentriert und diese als unmittelbar gegen YHWH als den »Herrn der Welt« gerichtet sieht, ist von einer besonderen Schuld Israels keine Rede (S. 180). Dagegen haben Hosea, Amos und Jesaja die Assyrer als Strafwerkzeug für Israels gottwidriges Verhalten verstanden. Nach der Nahumschrift richtet sich Gottes Rache gegen die imperiale Großmacht, die andere Völker ausbeutet, und zwar un­abhängig davon, ob Israel darunter besonders leidet. Insbesondere die moderne feministische Rezeption hat sich an den sehr expliziten Gewaltphantasien gestört, die mit Gottes Strafhandeln verbunden werden, beispielsweise den Einsatz von entwürdigender Ge­walt gegen eine Ehebrecherin (Nah 3,5-7). Jeremias sieht seine Aufgabe als Kommentator darin, Anwalt des historischen Textsinnes zu sein: Die Entehrung der Ehebrecherin war, neben der Todesstrafe, ein Element der damaligen Rechtstradition (S. 174-176). Vorschläge zu unterbreiten, wie man heute vergleichbare Rechtsfälle regelt, übersteigt die Aufgabe des Kommentators.
Insgesamt hat Jeremias erneut einen Kommentar vorgelegt, der sehr genaue Textarbeit mit hohem theologischem Gespür verbindet. Kunstvolle Ambiguitäten im Textduktus werden genauso zur Geltung gebracht wie die literarkritische Analyse. Ohne Zweifel handelt es sich um einen Kommentar, der das Ziel der Reihe in vorbildlicher Weise erfüllt.