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Ausgabe:

November/2020

Spalte:

1029–1046

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Etienne François

Titel/Untertitel:

Eine unvergleichliche Krise?

Die weltweite Corona-Krise beeindruckt nicht nur als reales Faktum, sondern auch hinsichtlich ihrer präzisen statistischen Erfassung, mit der wir tagtäglich konfrontiert werden. Seit sie nicht nur in China auftritt, sondern auch in Europa, den Vereinigten Staaten und den meisten Ländern dieser Erde, ist sie fast das einzige Thema in den Informationsmedien. Wir begegnen ihr mit einer Mischung aus Faszination und phobischer Angst, die dem Verhalten von Tieren ähnelt, die sich von Schlangenaugen hypnotisieren lassen. Diese Krise geht einher mit der allgemein verbreiteten Überzeugung, die auch von den Medien wie von Verantwortungsträgern bekräftigt wird, es handle sich um eine nie dagewesene, eine einzigartige und unvergleichliche Krise.1

I

Als Historiker, der sich in der zweiten Hälfte seines Lebens auf die Geschichte von Gedächtniskulturen spezialisiert hat, überrascht mich die ausgeprägte emotionale und existentielle Dimension der gegenwärtigen Krise. Sie wird ja, wie Staatspräsident Macron das formuliert hat, als Krieg zwischen Leben und Tod wahrgenommen. Das erklärt auch, weshalb die Vergleiche, die uns spontan einfallen, Teil des »kommunikativen Gedächtnisses« sind, das unser eigenes Gedächtnis und das unserer Eltern, allenfalls noch das unserer Großeltern umfasst. In diesem Gedächtnis sind die herausragenden Beispiele von dramatischen Anstiegen der Sterblichkeitsrate zunächst die beiden Weltkriege (20 Millionen im Ersten und 55 Millionen im Zweiten Weltkrieg). Diese Erinnerung wird nicht zuletzt deswegen heraufbeschworen, weil das heutige Europa sich als Kontinent versteht, auf dem seit 1945 Frieden herrscht. Dagegen findet sich nur eine einzige Epidemie in unserem kommunikativen Gedächtnis, nämlich die von 1918 bis 1920 grassierende »Spanische Grippe«. Diese war eine globale Pandemie mit extrem hohen Sterblichkeitsraten. Laut Institut Pasteur forderte sie zwischen 20 und 50 Millionen Todesopfer. Andere Forscher gehen sogar von einer Mortalität von 2,5 bis 5 % der Weltbevölkerung aus. Die Besonderheit und vor allem das ganze Ausmaß dieser Pandemie traten allerdings erst im Nachhinein ins Bewusstsein der Menschen.2 Die auch schon von Asien ausgehende »Hongkong-Grippe« der Jahre 1968–1970, der mindestens eine Million Menschen zum Opfer fielen, ist mittlerweile vollständig vergessen.
Die Tatsache, dass die Corona-Epidemie als apokalyptischer Kampf zwischen Leben und Tod aufgefasst wird, liefert die Erklärung dafür, dass auch die überall ergriffenen Maßnahmen ihrerseits als »unvergleichlich« wahrgenommen werden. Zugleich wird dadurch verständlicher, weshalb so wenige Beobachter – zu denen beispielsweise die deutsche Journalistin Elisabeth von Thadden und die französische Journalistin Caroline Lachowsky zählen – sich dem Denken im unmittelbaren Präsens, in den Kategorien der »Ereignisgeschichte« (in der Begrifflichkeit Ferdinand Braudels), entziehen konnten.3
Vor dieser Krise dachte ich, die mit Epidemien in Zusammenhang stehenden großen demografischen Krisen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit gehörten einer weit entfernten, längst abgetanen Vergangenheit an und hätten deshalb nur einen sehr geringen Einfluss auf unsere Erinnerung. Doch mit dem Ausbruch der Corona-Krise in Europa ab etwa Mitte März meldete sich in meinem Bewusstsein in gewissermaßen Proustscher Weise immer drängender das zu Wort, was mich während meines Studiums begeistert hatte und was ich dann auch in den ersten beiden Jahrzehnten meiner Tätigkeit als Historiker in Frankreich und Deutschland praktiziert habe. Ich hatte ja das Glück, in einer Zeit zu studieren, in der die französische Historiografie dank der »Annales«-Schule mit ihren Idealen einer »totalen Geschichte«4 und der »langen Dauer« ausgesprochen innovativ war. Dies ging einher mit besonderer Kreativität auf zwei Gebieten, zum einen der »historischen Demografie« und zum anderen der Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Erstere war vorwiegend quantitativer Natur, die zweite eher qualitativ ausgerichtet und ebenso sehr von der Soziologie wie von der Anthropologie beeinflusst. Diese Wiederkehr meiner alten Hauptinteressensgebiete weckte in mir das Bedürfnis, in Gestalt eines Essays die Epidemien von einst, die des Mittelalters und der Neuzeit in Europa, mit der jetzigen, unmittelbar erlebten zu vergleichen, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Faktizität als auch in Bezug auf ihre Wahrnehmung und die von dieser ausgelösten Reaktionen. Dies war verbunden mit der Hoffnung, dass das »Einst« es uns erlauben würde, die »Gegenwart« besser zu verstehen, und dass das bessere Verständnis der Gegenwart wiederum helfe, das »Einst« besser zu verstehen, auch wenn mir klar ist, dass Vergleichen nicht gleich Verstehen bedeutet.

II


Mein erster Schluss aus diesem Langzeit-Vergleich ist die Feststellung, dass die gegenwärtige Krise verhältnismäßig wenig Todesopfer fordert. Wenn man den von den Medien gelieferten Statistiken trauen darf, hat das Corona-Virus bis zum 4. Juni 2020 etwas mehr als 386.000 Todesfälle verursacht.5 Diese Statistiken sind keineswegs endgültig, denn die Bedingungen ihrer Erhebung sind teilweise intransparent – so hat es erst vor Kurzem eine Korrektur der chinesischen Statistik nach oben gegeben – und nicht zuletzt stehen wir noch am Anfang einer Verbreitung des Virus, die im De­zember 2019 begonnen hat und deren Ende nicht absehbar ist. Doch selbst wenn wir von 500.000 Toten der gegenwärtigen Epidemie ausgehen, liegen wir damit noch weit unterhalb der Anzahl der Opfer der »Spanischen Grippe« vor einem Jahrhundert, um 50 % auch unterhalb der »Hongkong-Grippe« (1968–1970), ganz zu schweigen von der »großen Pest«, die zwischen 1348 und 1350 einem Drittel der Bevölkerung der lateinischen Christenheit den Tod gebracht haben dürfte.6
Ganz zu schweigen auch von den großen Pest-Epidemien, die Europa bis zu Beginn des 18. Jh.s immer wieder heimsuchten.7 Diese wirkten besonders verheerend, wenn sie zusammen mit Kriegen und Hungersnöten auftraten, wobei Letztere ihrerseits direkte Folgen von Kriegen waren, oder von mehreren aufeinander folgenden Missernten, aber auch einer demografischen Dichte, die die Nahrungsmittelproduktion einer Region überstieg. Eine Ursache konnten auch Klima-Veränderungen sein, wie etwa die »kleine Eiszeit«, die 1550 einsetzte und ihren Tiefpunkt in der zweiten Hälfte des 17. und im ersten Drittel des 18. Jh.s erreichte, bzw. auf der Gegenseite das »mittelalterliche Klima-Optimum« vom 10. bis 14. Jh., das besonders Nordeuropa begünstigte.8 Wir dürfen auch die latenten und sich wiederholenden Epidemien nicht vergessen, allen voran die Pocken-Epidemien, die mehr oder weniger alle zehn Jahre auftraten und einen Mortalitätsschub auslösten, den Pierre Goubert erstmals für die Stadt Beauvais und ihr Umland im 17. Jh. untersuchte.9
Die Pest dürfte zwischen 1629 und 1631 mehr als eine Million Opfer gefordert haben. Das bedeutet ein Viertel der Bevölkerung Norditaliens, mit Mortalitätsspitzen in den Städten der Lombardei und Venetiens, was dieser Epidemie den Beinamen »Große Mailänder Pest« eintrug. Vor allem in Italien ist sie deswegen bekannt, weil auf ihr Alessandro Manzonis historischer Roman I Promessi Sposi (»Die Brautleute«, bzw. »Die Verlobten«, Endfassung 1840–42) be­ruht, der als erstes Beispiel des modernen italienischen Romans gilt und dessen Bedeutung und Ausstrahlung vergleichbar mit der von Dantes Göttlicher Komödie ist.
Ein anderes Beispiel in Deutschland ist die Freie Reichsstadt Augsburg, die durch ihren Handel und ihre Textilindustrie besonders eng mit Nord-Italien verbunden war. Augsburg hatte zu Beginn des 17. Jh.s ca. 45.000 Einwohner. Damit war es aufgrund seiner wirtschaftlichen Dynamik die bei weitem größte Stadt Süddeutschlands und die viertgrößte des Heiligen Römischen Reichs, nur knapp hinter Wien, Prag und Danzig. Während des Dreißigjährigen Krieges wurde die Stadt zu einem Hauptziel der Krieg führenden Parteien und als solches in den Jahren 1627–1628, 1632–1635 und 1646–1648 Opfer von drei dramatischen demografischen Krisen, die zum Tod von 34.000 Menschen führten, was einen Bevölkerungsverlust von 60 % bedeutete. Im Oktober 1635 zählte Augsburg sogar nur noch 16.432 Einwohner und nach Kriegsende lag die Einwohnerzahl zwischen 19.000 und 20.000.
Pest und Krieg bedeuteten des Weiteren für diese Stadt einen nicht minder großen wirtschaftlichen und finanziellen Schock. Zwischen 1610 und 1650 verneunfachten sich ihre Schulden und das Steueraufkommen ging um 75 % zurück, während sich die Zahl der Steuerzahler lediglich halbierte. Im folgenden Jahrhundert erholte Augsburg sich vollständig in wirtschaftlicher Hinsicht, nicht aber in demografischer: In den Jahren 1760–1769 zählte die Stadt ca. 30.000 Einwohner, und noch bis zu Beginn des 19. Jh.s stieg diese Zahl nicht an. Grund waren weitere Krisen nach dem Dreißigjährigen Krieg in den Jahren 1693–1695 und 1703–1704 sowie weniger schlimme Epidemien in den Jahren 1728–1729 und 1741–1743 und schließlich 1771–1772.10
Ende des 18. Jh.s gab es die ersten Impfungen. Dann kamen die medizinischen Entdeckungen von Louis Pasteur, Robert Koch und Alexandre Yersin (vom Institut Pasteur), der 1894 den Pest-Bazillus identifizierte. Vor Entwicklung der Impfungen kam es außer den auf den Namen Pest getauften Mega-Krisen zu latenten und regelmäßig wiederkehrenden Epidemien wie Typhus, Ruhr und Pocken.
Die Demografie-Historiker gehen davon aus, dass die Mortalität vom 16. bis 18. Jh. in normalen Zeiten bei 40 von 1000 lag, was das Vierfache der heutigen Rate bedeutet. Nur jedes zweite Neugeborene erreichte das Erwachsenenalter, die Lebenserwartung lag bei ca. 30 Jahren. Anders gesagt: Der Tod war damals allgegenwärtig.
Der Unterschied zwischen den mittelalterlichen wie neuzeitlichen Epidemien und der gegenwärtigen Corona-Pandemie ist also beträchtlich. Das schließt freilich Gemeinsamkeiten nicht aus. Gemeinsam ist ihnen zunächst einmal, dass sie eine weltweite wie regionale Dimension aufweisen. Die »Schwarze Pest« ging von Asien aus und kam auf der Seidenstraße nach Europa. Erstmals trat sie dort in Kaffa (heute Feodossija) auf, der Hafenstadt der Genueser auf der Krim. Für ihre weitere Verbreitung sorgte zunächst einmal der maritime Austausch. Europa suchte sie vom 14. bis 18. Jh. heim, wütete aber auch in der muslimischen Welt, in der Region des »Fruchtbaren Halbmonds«, und breitete sich in allen Anrainerländern des Mittelmeers aus. Des Weiteren führten die mit der Ankunft der ersten Europäer in Amerika und mit dem Beginn der Eroberung Mittel- und Südamerikas in die Neue Welt verschleppten Krankheiten (Grippe, Pest, Pocken) zur Dezimierung von 90 % der präkolumbianischen Bevölkerung, die gegen sie nicht immunisiert war. Dieser dramatische Bevölkerungsschwund erleichterte die Eroberung Mittel- und Südamerikas durch Spanier und Portugiesen. In der Karibik, die ihrerseits von Niederländern, Engländern und Franzosen erobert wurde, ging die Bevölkerung so stark zurück, dass die Entwicklung dieser Länder, eigentlich ideale Standorte für Zuckerrohr, aber auch für Tabak und Kaffee, zunächst nicht möglich war. Da der Anbau dieser Pflanzen auf reichlich vorhandene Arbeitskräfte angewiesen ist, wurden Sklaven aus Afrika importiert, wodurch der europäische Sklavenhandel wesentliche Initialimpulse erhielt.11
Die zweite Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Pest vor allem in den dicht besiedelten, verstädterten und vom Handel geprägten Gegenden wütete, die zumindest teilweise denjenigen entsprechen, die man heute als den westeuropäischen Halbmond betrachtet. Dieses Gebiet erstreckte sich von Südengland (mit London) über die Vereinigten Provinzen (Niederlande) und Nordost-Frankreich (mit Paris), das Rheintal im weiten Wortsinn (bis hin zu Frankfurt im Osten), Süddeutschland, Tirol und die Schweiz bis nach Norditalien (Mailand, Genua und Venedig). Das deckt sich weitgehend mit dem Verbreitungsgebiet des Corona-Virus im heutigen Europa.12 Es gibt also eine Kontinuität, die zudem mit einem für das Mittelalter, die Neuzeit und unsere Gegenwart charakteristischen Phänomen verbunden ist: Für all diese Zeiten gilt, dass die geografische Verteilung der Infektions- und Sterblichkeitsraten infolge dieser Epidemien nichts mit der einstigen oder gegenwärtigen politischen Geografie Europas zu tun hat. Nationale Vergleiche der Sterblichkeitsraten, wie sie derzeit insbesondere in Europa angestellt werden, sind daher irreführend. Die Verteilung der Infektions- und Sterblichkeitsraten ist kein nationales, sondern vor allem ein regionales und lokales Phänomen. Insofern hat die sehr präzise Untersuchung der Ausbreitung des Corona-Virus im Bezirk Rheinsberg (Nordrhein-Westfalen), westlich von Köln, exemplarischen Charakter.
Die dritte Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Epidemie überall dort, wo sie sich ausbreitete, die wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze der jeweiligen Gesellschaft verschärfte, sie wie mit einer Lupe vergrößerte. Die Karte über die Verteilung der Pesttoten im Zeitraum zwischen Juli und Oktober 1668 in Pierre Deyons Habilitationsschrift über die Geschichte von Amiens im 17. Jh. verdeutlicht die Unterschiede zwischen den Vierteln der Reichen und Wohlhabenden mit ihrer unterdurchschnittlichen Sterblichkeitsrate und den dicht bevölkerten, armen und ungesunden Vierteln, in denen die Pest wütete.13 Alle halbwegs einschlägigen Un­tersuchungen, die seit Beginn dieses Jahres zu der Verbreitung und den Auswirkungen der Corona-Epidemie vorgelegt wurden, weisen in die gleiche Richtung, ob sie sich nun mit einem Vergleich von Ländern nach ihrem jeweiligen Reichtum und ihrer medizinischen bzw. Krankenhaus-Infrastruktur oder aber mit den unterschiedlichen Infektions- und Sterblichkeitsraten in Abhängigkeit von Ge­schlecht, Alter, Lebensstandard, sozioprofessioneller Zugehörigkeit oder (Über-)Gewicht befassen.

III


Ein erster Vergleich der Epidemien von einst und jetzt im Hinblick auf ihren faktischen Verlauf weist zwar einige Gemeinsamkeiten auf, vor allem aber wesentliche Unterschiede, von denen zumindest in statistischer Hinsicht der äußerst glimpfliche Verlauf der gegenwärtigen Pandemie den augenfälligsten darstellt. Dabei darf man aber nicht stehen bleiben, wenn man verstehen will, womit man es bei den Epidemien von einst und denen von heute zu tun hat. Es gilt auch, die Initiativen und Reaktionen zu berücksichtigen, die zu ihrer Eindämmung bzw. Beendigung ergriffen wurden, sowie ihre Wahrnehmung und Deutung einst und jetzt, schließlich auch ihre mittel- und langfristigen Auswirkungen. Dieser zu­sätzliche Vergleich muss vorgenommen werden, kann bislang aber lediglich ansatzweise realisiert werden. Zwar wissen wir über alle Aspekte einstiger Infektionen recht gut Bescheid, stehen derzeit aber erst am Anfang einer Epidemie, deren weitere Entwicklung sich unserer Kenntnis gänzlich entzieht. Wir sind dabei zugleich Teilnehmer und Beobachter, und vieles spricht dafür, dass – wie Marx im Hinblick auf die Französische und die 1848er Revolution festgestellt hat – das, was wir tatsächlich tun, sich unterscheidet von dem, was wir uns einbilden und vorstellen. Es heißt also, höchste Vorsicht walten zu lassen.
Ich sehe, um es vorneweg in Gestalt einer schlichten Hypothese zu formulieren, nur zwei allgemeine Gemeinsamkeiten und eine konkrete Kontinuität zwischen einst und jetzt. Die erste besteht darin, dass die früheren wie die heutigen Gesellschaften den Ausbruch von Epidemien und die ersten Todesfälle zu spät begriffen und thematisiert haben. Sie wurden dann von Angst und Schrecken, ja von Panik erfasst, und diese Reaktion hat umgehend dazu geführt, dass die Zeit und die ganze restliche Wirklichkeit ausgeklammert wurden. Die Krise wurde als plötzlicher Normalitätsbruch betrachtet und als ebenso dramatische wie tief gehende Um­wälzung der Wirtschaft, der Gesellschaft, der politischen Macht und der Kultur sowie des persönlichen und familiären Schicksals. Die zweite allgemeine – und, ehrlich gesagt, reichlich banale – Feststellung besagt, dass die betroffenen Gesellschaften, einst wie heute, auf allen Ebenen nur ein Ziel im Auge hatten bzw. haben, nämlich das, die Epidemie so rasch und so gründlich wie möglich zu stoppen. Diesem Zweck dienten zunächst einmal Ap­pelle an Sauberkeit und Hygiene, die Reinigung der Häuser, die Bekämpfung der Ratten und das Verbrennen von möglicherweise infizierten Kleidungsstücken und Gegenständen sowie eine heute wie einst angewendete Praxis, nämlich der Rückzug auf sich selbst, die Abriegelung gegenüber Nachbarregionen und vor allem die Quarantäne, also das Einschließen von potentiellen (von der Pest) Infizierten an einem separaten und hermetisch abgeriegelten Ort. Diese Quarantäne-Standorte lassen sich mit den Orten – im Wortsinne regelrechten Konzentrationslagern – vergleichen, an denen man im Europa des Mittelalters und der Neuzeit die Lepra-Kranken wegsperrte. Die auf diese Art Eingeschlossenen erhielten Nahrung von außen, die Kranken ließ man ohne Kontakt mit der Außenwelt sterben und die Überlebenden durften erst nach Ende der Epidemie wieder herauskommen.14 Im Französischen ist das Wort »Quarantaine« ab 1180 belegt und bezeichnete damals die 40 Fas­tentage. Im Zusammenhang mit der »Großen Pest« erhielt das Wort in Italien seinen heutigen Sinn und wie die Pest, die sich damit eindämmen ließ, verbreitete es sich in dieser Bedeutung in ganz Europa und darüber hinaus.15
Die Quarantäne ist meines Erachtens das stabilste der genannten Phänomene. Sie bestätigt, dass die Vergangenheit, wie Proust sagt, keine flüchtige Erscheinung ist, denn sie bleibt an Ort und Stelle. Ja, mehr noch, um weiterhin mit Proust zu sprechen: »Die Leute vergangener Zeiten kommen uns unendlich fern vor. Wir wagen nicht, tiefere geistige Richtungen bei ihnen anzunehmen außer denen, die sie förmlich ausdrücken; […] es wundert uns, wenn wir bei einem Helden Homers ein Gefühl antreffen, das den unsern annähernd gleicht, […] wir stellen uns diesen epischen Dichter […] so entfernt von uns vor, wie ein Tier, das wir in einem zoologischen Garten sehen.«16
Die fast diametralen Gegensätze zwischen »einst« und »heute« überwiegen jedenfalls deutlich. Seit dem chinesischen Neujahrsfest (25. Januar 2020) und dem Ausbruch der Pandemie in Europa und den Vereinigten Staaten gibt es überall eine alles beherrschende Priorität: »alles, was Menschen gefährden könnte, alles, was dem Einzelnen, aber auch der Gemeinschaft schaden könnte, das müssen wir jetzt reduzieren«, um aus der Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 18. März 2020 zu zitieren. Es galt also, mit größtmöglicher Effizienz die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, um so eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden. Das bedeutete das Befolgen der Empfehlungen von medizinischen und naturwissenschaftlichen Experten, eine Erweiterung der Kapazitäten der sanitären Infrastruktur, die Intensivierung der Erforschung des Virus mit dem Ziel der Entwicklung wirksamer Medikamente und eines Impfstoffs. Das Zuhause-Bleiben wurde zur allgemeinen Regel. Im Gegenzug wurden alle möglichen Kredite geradezu grenzenlos zur Verfügung gestellt, um einerseits die genannten Maßnahmen zu finanzieren und andererseits die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Krise abzufedern.
All diese Entscheidungen beruhten auf drei tief verankerten und als evident betrachteten Überzeugungen: 1. Die Rettung kommt von der Wissenschaft, 2. der wichtigste Akteur ist der Na­tionalstaat und 3. der Tod, der allem ein Ende setzt, ist ein absolutes Übel; es muss also alles getan werden, um ihn in Schranken zu halten und so lange wie möglich hinauszuschieben.
Im Mittelalter und bis zu Beginn des 18. Jh.s unterschieden sich die Wahrnehmung von Epidemien, die Gegenmaßnahmen und generell die Auffassung der weit schwereren Krisen, wie sie die Pest und andere Pandemien auslösten, grundlegend von den unseren, wenn man einmal von der Quarantäne absieht, ja sie bilden einen radikalen Gegensatz. Man ergriff durchaus medizinische Maßnahmen über die Quarantäne hinaus, wie etwa den Aderlass oder die Verabreichung von Medikamenten auf der Basis von Heilkräutern. Deren Wirksamkeit war freilich begrenzt, zumal man keine rechte Kenntnis von den Ursachen der Pest und von den Arten ihrer Übertragung hatte. Parallel zu ihnen griff man daher auch zu einer Vielzahl magischer Praktiken.17
Die Tatsache, dass sich das Wissen in so engen Grenzen hielt, erklärt, weshalb früher so unvergleichlich viel mehr Menschen an diesen Epidemien starben. Sie lässt uns auch verstehen, weshalb eine derartige Panik die Bevölkerung des von der Pest heimgesuchten christlichen Europas erfasste. Die Panik war auch deswegen so groß, weil zum einen jede einzelne Familie unmittelbar betroffen war und zum Teil durch den Tod aufgelöst wurde (etwa so, wie das in den vom Zweiten Weltkrieg besonders hart betroffenen Ländern der Fall war, also Polen, der westliche Teil der Sowjetunion, Jugoslawien und China), zum anderen, weil die Christen und die Verantwortlichen der Kirche damals überzeugt davon waren, dass die Pest und die anderen Epidemien die Strafe Gottes für ihre Sünden waren. Man bezog sich dabei auf Bibelstellen, in denen die Rede von den Dramen ist, die vor dem Jüngsten Gericht und der Wiederkehr Christi über die Menschen kommen würden, vor allem aber auf die zahlreichen Beispiele für Strafen Gottes im Alten Testament.18
Jean Delumeau hat in seinem großen Buch über die Angst im Abendland diese Paniken, die zur Suche nach Schuldigen und Sündenböcken sowie zum Ausbruch von blutigen Exzessen gegen diese führten, eingehend beschrieben, nachvollziehbar gemacht und hervorragend analysiert.19 Am meisten davon betroffen waren die Juden, denen schon die Schuld an Ausbrüchen der Lepra, erst recht aber an der Großen Pest zugeschrieben wurde. Sie hätten sich gegen die Christen verschworen und die Trinkbrunnen vergiftet. Obwohl der Papst in seiner Bulle von Juli 1348 diesen Verschwörungsvorwurf als »infam« bezeichnet und die Verfolgung von Juden aus diesem Grund untersagt hatte, nahmen die gewaltsamen Übergriffe auf sie solche Ausmaße an, dass dies zum Untergang zahlreicher jüdischer Gemeinden/Gemeinschaften in Europa führte. In Straßburg wurden am 13. Februar 1349 zwischen 900 und 2.000 Juden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. In Nürnberg wurden im Dezember 1359 562 von ihnen ermordet und ein gutes Jahrhundert später wurde das Judenviertel dieser Stadt zerstört und durch den Hauptmarkt ersetzt, an dessen Rand anstelle der früheren Synagoge eine »Unserer lieben Frau«, also der Jungfrau Maria, gewidmete Kirche errichtet wurde.20 Ab dem 16. Jh. ging die Gewalt gegen Juden in Pestzeiten stark zurück und mehrere süddeutsche Städte öffneten ihnen sogar die Tore, um jüdischen Gemeinden auf dem Lande eine Zuflucht zu bieten. Seit dem Ende des Mittelalters und bis in die zweite Hälfte des 18. Jh.s wurde der Hass auf vermeintlich Schuldige hingegen auf Hexer und vor allem auf Hexen übertragen. Ihnen warf man vor, mit dem Teufel im Bund zu stehen, um in ihrem Umkreis den Tod zu verbreiten.21
Zwar verbreitete die Furcht vor dem Tod infolge einer unkontrollierten Epidemie gestern wie heute Angst und Schrecken, doch unterscheidet sich das Bild vom Tod in Mittelalter und Neuzeit grundlegend von unserem. Dieser Gegensatz ist vor allem religiös begründet. Im heutigen Europa glaubt nur noch eine kleine Minderheit an die Auferstehung Christi, daran, dass sie »die Gemeinschaft der Heiligen, die Vergebung der Sünden, die Auferstehung der Toten und das ewige Leben« (wie es im christlichen apostolischen Glaubensbekenntnis heißt)22 bedeutet. Man darf wohl dieser Minderheit noch die Menschen hinzufügen, die laut Umfragen des »European Values Survey« an ein Leben nach dem Tod glauben, auch wenn das oft reichlich vage ist. Damit kommt man im Jahr 1990 in neun europäischen Ländern auf insgesamt 45 %, also keine Mehrheit. Dies war im einstigen christlichen Abendland ganz an­ders. Die Grundlage der Lehre der Kirche, ihrer Theologie, Liturgie und Seelsorge besteht darin, dass Jesus, dessen Leidensgeschichte besonders dramatisch war, von allen verlassen freiwillig den Tod auf dem Kreuz auf sich nahm und drei Tage später wieder auferstanden ist. Seit ihren Anfängen ist es Lehre der christlichen Kirche, dass der auferstandene Christus sich seinen Aposteln (auch Thomas, der an seiner Auferstehung zweifelte) und vielen weiteren Anhängern gezeigt hat, allen voran Maria Magdalena, dass er »durch seinen Tod […] unseren Tod vernichtet« und »durch seine Auferstehung das Leben neugeschaffen« hat,23 dass er zum Himmel aufgefahren ist, zur Rechten Gottes sitzt und dass durch sein Opfer, durch die »frohe Botschaft«, die er uns übermittelt hat, und dank seiner Kirche Tod und Teufel besiegt sind, dass alle Menschen erlöst werden und das Paradies allen offen steht (insbesondere dann, wenn man in Treue und Glauben stirbt – wobei nicht zu vergessen ist, dass beide Wörter in den romanischen Sprachen auf ein und dieselbe lateinische Wurzel zurückgehen).24
Dieser Kontext erklärt, weshalb die einstigen Bewohner von pestinfizierten Städten auf zweierlei komplementäre Weisen reagierten. Die eine bestand naturgemäß darin, so schnell wie möglich die Städte zu verlassen und außerhalb Zuflucht zu suchen, so, wie das in Boccaccios Decamerone bei den sieben jungen Frauen und den drei jungen Männern der Fall war, die im Frühjahr und Sommer 1348 Florenz verließen. Die andere bestand aus immer mehr Bußgottesdiensten, Rosenkränzen, Prozessionen, Büßer-Brüderschaften (vor allem in Südeuropa und Spanien), Gottesdiensten insbesondere zu Maria und den Heiligen (allen voran der Heilige Rochus und der Heilige Sebastian), um ihren Beistand zu erbitten und die Barmherzigkeit Gottes zu erlangen, aus Pilgerfahrten und schließlich aus Gelübden, in denen die Einwohner eines Dorfs oder einer Stadt Gott gegenüber Verpflichtungen eingingen, um im Gegenzug vor der Pest geschützt zu werden oder gar deren Ende zu erreichen.25
Dies ließe sich anhand unzähliger Beispiele exemplifizieren. Ich will mich hier auf drei besonders bekannte beschränken. Das erste ist die beeindruckende Basilika Santa Maria della Salute in Venedig, die aufgrund eines Gelübdes des Dogen der Stadt errichtet wurde, der Gott um die Beendigung der Pest bat, die seit 1630 die Stadt heimsuchte und zum Tod eines Drittels der Bevölkerung geführt hatte. Das zweite sind die zahlreichen Pestsäulen, deren Vorbild die im Jahr 1679 auf dem Stadtgraben von Wien errichtete barocke Säule ist. Sie wurde geschaffen, um der Vorsehung für das Ende der Pest zu danken. Sie ruht – wegen des Bezugs zur Drei-einigkeit – auf einem dreiteiligen Sockel und wird gekrönt von einer Marienfigur. Auf derartigen Säulen sind regelmäßig auch Darstellungen der Heiligen zu finden, zu denen man betet, um vor der Pest geschützt zu werden (der Heilige Rochus, der Heilige Se-­bastian und die Heilige Rosalie). Neben ihnen stehen oft Pestkreuze, die das Ensemble vervollständigen. Man findet sie vor allem in Gegenden, die unter Herrschaft der Habsburger standen, von Süddeutschland über Österreich, Ungarn, Böhmen, die Slowakei bis nach Rumänien. Das dritte Beispiel ist das Gelübde der Einwohner der bayerischen Gemeinde Oberammergau, die ihrerseits im Jahr 1633 von der Pest heimgesucht wurde. Sie gelobten, alle zehn Jahre ein »Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus« aufzuführen, wenn der Allmächtige das Unheil von der Gemeinde abwende. Tatsächlich führt die Gesamtheit der Einwohner Oberammergaus seither alle zehn Jahre dieses Stück auf. Dieses Jahr wurde es allerdings wegen des Coronavirus auf 2022 verschoben.26
Neben derartigen Verhaltensweisen gab es aber auch, und zwar schon seit Langem, eine Vielzahl religiöser Praktiken, die sich allmählich herausbildeten und die es ermöglichen sollten, dass die Getauften bei ihrem irdischen Tod, wie man glaubte, gerettet würden, in den Himmel aufsteigen und ins Paradies eingehen könnten. Das erste Verfahren dieser Art sind die Sakramente, angefangen mit dem der Taufe, das auf die Urkirche zurückgeht. Die Taufe wurde lange vorzugsweise den Erwachsenen erteilt, nun aber schnell den Neugeborenen unmittelbar nach ihrer Geburt (als Reaktion auf die hohe Säuglingssterblichkeit, damit die Neugeborenen, die in den ersten Tagen oder Wochen ihres Lebens sterben würden, direkt ins Paradies kämen). Ähnliches gilt für die Sakramente der Buße, folglich der Vergebung der Sünde, der Eucharistie, also der Gemeinschaft der Gläubigen mit Gott, und schließlich der Letzten Ölung, die auch den Beinamen »letztes Sakrament« trägt. Die Entstehung dieses Sakraments reicht bis ins 3. Jh. zurück, seine wesentliche Prägung erhielt es zu karolingischer Zeit. In Verbindung mit einer letzten Beichte und einer letzten Eucharistie, die den Namen »Wegzehrung« trägt, gewährleistet es das Heil der Seele nach dem Tod.27
All dies wurde jahrhundertelang durch Predigten, Lesungen, rituelle Gebete und die Liturgie verbreitet, so dass diese Glaubensinhalte für die meisten Christen des Mittelalters und der Neuzeit zu absoluten Wahrheiten geworden waren. Ihre Akzeptanz wurde durch verschiedene Ergänzungen zusätzlich erhöht. Dazu zählt etwa der Glaube, dass Neugeborene, die starben, bevor sie getauft werden konnten, unmittelbar in den Limbus, den limbus puerorum, kämen, eine Art Zwischenstadium zwischen Hölle und Paradies; auch wurden zahlreiche Kirchen, sogenannte Gnadenorte, errichtet (beispielsweise die gotische Basilika Notre Dame d’Avioth im Departement Meuse). Diese waren größtenteils der Jungfrau Maria gewidmet, der als Mutter die wichtigste Mittlerfunktion zukommt. Dort wurden auf die Altäre tote Neugeborene gelegt, die dann auf wunderbare Weise erwachten, getauft wurden und dann in einem Stand starben, in dem sie ins Paradies kommen konnten.28
Eine weitere wichtige Erweiterung der Möglichkeiten, der Hölle selbst dann zu entgehen, wenn man im Stand der Sünde starb (sofern es sich nicht um eine Todsünde handelte), stellte das Purgatorium, das Fegefeuer, dar.29 Von ganz entscheidender Bedeutung ist schließlich die Forderung, ein Leben in Beachtung der Gebote Gottes und der Kirche zu führen. Diese Forderung erreichte in Frankreich im 17. Jh. ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit betonte man ständig, dass der Sinn des Lebens darin bestünde, sich auf den Tod vorzubereiten, etwa durch die ars moriendi. Krankheiten, die zum Tod führen konnten, galten in dieser Auffassung als Proben, die halfen, dem Beispiel Hiobs zu folgen, seinen Glauben zu stärken und in jeder Lebenslage zum Sterben bereit zu sein, zumal Christus selbst ja gesagt hatte, dass er heimlich wie ein nächtlicher Dieb wiederkommen werde: »Darum seid jederzeit bereit, denn der Menschensohn wird zu einer Stunde kommen, wenn ihr es nicht erwartet.« (Mt 24,44)30
Die Sakralkunst spielte eine entscheidende Rolle auf diesem Ge­biet.31 Schon lange vor der Großen Pest waren die Passion Christi, seine Auferstehung und Glorifizierung neben Gott und dem Heiligen Geist Gegenstand bildlicher Darstellung, in Gestalt von Reliefs auf den Tympanoi (Giebelfelder) der Kathedralen und vieler Kirchen sowie in deren Innerem in Form von Fresken, Fenstern und Altären. Gleiches gilt für Tod und Auferstehung der Jungfrau Maria sowie der fünf »törichten« und der fünf »klugen Jungfrauen« des Gleichnisses im Evangelium des Matthäus, das die Christen daran erinnerte, dass sie ständig bereit sein mussten, Christus zu empfangen, wenn dieser sie heimholen würde.
Die Große Pest und die anderen Epidemien, die die christliche Welt bis zum 18. Jh. heimsuchten, brachten andere, diesem neuen Kontext angepasste Formen sakraler Kunst hervor. Dazu zählen die Totentänze, die im 14. und 15. Jh. in großer Zahl entstanden, wie etwa derjenige, der 1424 auf einer Mauer des »Cimetière des Innocents«, des Pariser »Friedhofs der Unschuldigen (Kinder)« vollendet wurde und sich an einen Stich des selbst von der Pest dahingerafften Johan Le Fèvre anlehnt. Diese Darstellungen sollten deutlich machen, dass alle Menschen sterblich und zu einem erbärmlichen Tod verdammt sind, vom Papst über Kaiser und Könige bis zu den Ärmsten der Armen. In diesem Kontext stehen auch die zahlreichen Skulpturen, Fresken und Bilder dieser Epoche, die vor allem die Passion Christi, seine Geißelung, seine Verhöhnung mit der Dornenkrone, seinen Kreuzweg, seine Kreuzigung, seinen Tod und seine Grablegung darstellen. Dies gilt auch für Dantes Divina Commedia, für den außergewöhnlichen Genter Altar der Brüder van Eyck (1432) mit der Darstellung der Verehrung des Lamms Gottes in der Sankt-Bavo-Kathedrale, den Isenheimer Altar von Mathias Grünewald (entstanden von 1506 bis 1515), der auf der einen Seite die blutige Leidensgeschichte und den Tod Jesu darstellt, ein wenig in der Art eines Films von Scorsese, auf der anderen und im Kontrast dazu seine Auferstehung und strahlende, ja blendende Glorifizierung. Ein weiteres Beispiel sind die vier ähnlichen Bilder einer büßenden Maria Magdalena, die Georges de la Tour zwischen 1638 und 1640, also zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs und der Pest, geschaffen hat. Die Büßerin meditiert und betet hier alleine, einen Totenkopf im Schoß, vor einer in der Bildmitte platzierten Kerze, die die ganze Szene sowie die Heiligen Schriften auf dem Tisch erleuchtet. Erinnert sei auch noch an die Requiems von Mozart über Berlioz, Verdi, Dvo řák, Saint-Saëns bis Messiaen (vom Quatuor pour la fin du temps [»Quartett für das Ende der Zeit«] von 1940/41 bis zu den Éclairs sur l’Au-delà [»Streiflichter über das Jenseits«] von 1987–1991) oder zu Krzysztof Penderecki (Polnisches Requiem, 1980–1983). In ihnen wird die mittelalterliche lateinische Liturgie in Musik umgesetzt und der Dies irae dem Libera me gegenübergestellt.
Mit der Reformation – an deren Beginn die Kritik am Ablasshandel eine große Rolle spielte – ändert sich das Verhältnis zum Tod in dem Teil Europas, der zum Protestantismus übergetreten ist. Den protestantischen Kirchen war es besonders wichtig, in Heilsdingen auf der Allmacht Gottes zu insistieren und alles zu beseitigen, was den Eindruck vermittelte, ein Christ könne sich in gewisser Weise sein Seelenheil erkaufen. Sie betonten daher, dass das Heil einzig und allein von Gott und seiner Gnade abhänge. Sie unterstrichen somit den Vorrang des Glaubens. Dies bedingte das Verschwinden des Fegefeuers und der Ablass-Praktiken, der Krankensalbung (»letzte Ölung«) und recht rasch auch des Sakraments der individuellen Beichte, des Heiligenkults und die weitgehende Desakralisierung der Totengottesdienste. Als Luther 1546 starb, lag neben ihm ein Zettel, auf dem stand: »Wir sind Bettler, das ist wahr«. Dieser Entwicklung stand freilich die Entstehung zahlreicher Kirchenlieder gegenüber, nicht zuletzt von Luther selbst, in deren Mittelpunkt das Seelenheil stand und in denen Gott um seine Barmherzigkeit in der Stunde des Todes gebeten wird. In diesen Zusammenhang gehören auch die vielen Epitaphe, die vom 14. bis 17. Jh. an den Wänden der lutherischen Kirchen angebracht wurden und auf denen ganze Familien zu sehen sind, die auf Knien für ihr Heil beten. Die Kinder, die noch am Leben sind, sind dabei normal angezogen, während die bereits verstorbenen weiße Kleidung tragen. Außerdem wurden bei Leichenpredigten in der Regel Huldigungen an die verstorbene Person vorgetragen, in denen man ihren Glauben hervorhob. In eine ähnliche Richtung weisen auch die besondere Bedeutung, die dem Karfreitag zugewiesen wird, und die Einführung eines Buß- und Bettages auf Initiative der protestantischen Kirchen. Dieser war bis in die jüngste Vergangenheit offizieller Feiertag in protestantischen Gegenden. Schließlich sind noch die vielen musikalischen Passionen zu erwähnen, vor allem diejenigen von Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach, bis hin zu Brahms’ Deutschem Requiem, das seinen Namen der Tatsache verdankt, dass es sich auf Bibeltexte in der Übersetzung von Luther bezieht.32
Am Ende der zweiten Stufe unseres Vergleichs von »einst« und »heute« drängt sich eine Schlussfolgerung auf: Wenn man das mittelalterliche und neuzeitliche Europa in seiner Auseinandersetzung mit unvergleichlich verheerenderen epidemischen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen, als wir sie heutzutage erleben, betrachtet, kommt man nicht umhin festzustellen, dass es sich in beachtlicher Weise aus der Affäre gezogen hat. Es verfügte im Vergleich zu heute über nur geringe medizinische Kenntnisse und eine miserable Hygiene. Und doch erwiesen sich die ländlichen und städtischen Gemeinschaften (nicht die Staaten, die dabei nur eine untergeordnete Rolle spielten) als fähig, die Herausforderungen von Epidemien, demografischen und wirtschaftlichen Krisen in beeindruckender Weise zu meistern, ganz im Gegensatz zu unseren derzeitigen Besorgnissen. Diese deutlich größere Vitalität hängt damit zusammen, dass das Durchschnittsalter in diesen Zeiten weit unter dem unsrigen lag (wie das auch im heutigen Afrika der Fall ist), dass die demografischen und wirtschaftlichen Krisen vor allem die Alten und Schwachen trafen (wie auch heute) und dass die Überlebenden der Krisen sich in gesundheitlicher Hinsicht befreit fühlten. All das erklärt, weshalb die demografischen (und damit auch ökonomischen) Krisen in Mittelalter und Neuzeit erfolgreich bestanden wurden.
Das Ende der Epidemien verlieh den Überlebenden eine große Lebenslust und Lebensfreude sowie den Willen, aus den »Kollateralchancen« der Epidemien den größtmöglichen Vorteil zu ziehen. Man setzte voll und ganz auf die Zukunft der überlebenden Kinder und Familien, indem man sich gleich nach Ende der Krise neu verheiratete, zu günstigen Bedingungen in vakant gewordene Berufe einstieg, Häuser und Felder übernahm, für die es keine Erben gab, und in geringerer demografischer Dichte lebte, sich also leichter ernähren und ökonomische Neuerungen einführen konnte. Durch den Schwund der Bevölkerung um ein Drittel infolge der Großen Pest hat Europa wieder zu ausreichenden wirtschaftlichen Kapazitäten zurückgefunden und die Krise hat zu einer Änderung der landwirtschaftlichen Produktionstechniken geführt: Man arbeitete nunmehr mit Eisenpflügen und praktizierte ein Miteinander von Polykulturen und Tierhaltung, was bedeutet, dass die Abfälle aus dieser Tätigkeit, sprich die Exkremente der Tiere, als Dünger verwendet werden konnten.33 Auch die Händler der Stadt Augsburg fand man bereits unmittelbar nach Ende des Dreißigjährigen Kriegs wieder auf den Messen in Bozen und Venedig, Linz und Wien, Naumburg und Frankfurt, Lyon und Marseille, und die Stadt wurde wieder zum zweitbedeutendsten Banken-Standort in Süddeutschland. Dieser rasche Neustart ging einher mit einer Neujustierung der Sozialstruktur der Stadt zugunsten der Mittelschicht und der Wohlhabenden. Dies war aber auch einer Neuorientierung der Wirtschaft der Stadt zum Nutzen der fortgeschrittensten und r entabelsten Zweige in Handwerk, Industrie, Kunsthandwerk, Druck- und Verlags- sowie Finanzwesen geschuldet, also einer erfolgreichen qualitativen Umstrukturierung.34
Man darf wohl davon ausgehen, dass die Lust auf einen Neubeginn auch damit zusammenhing, dass die Überlebenden sich als mit ihrem Gott versöhnt empfanden. Dieser hatte sie gestraft, war nun aber barmherzig zu ihnen. Die Vitalität Europas zu dieser Zeit hat also auch etwas mit der Dominanz des Christentums zu tun. Das betrifft ebenso die Mentalitäten und die Weltanschauung wie die gesellschaftlichen Strukturen und Praktiken, also die Überzeugung, dass – im Unterschied zu dem, was heute die meisten denken – der physische irdische Tod kein endgültiges, skandalöses und unausweichliches Verschwinden bedeutet.
Damit wird auch das für uns so überraschende Verhalten Boccaccios verständlich, der zwischen 1349 und 1353, also während der Großen Pest, das Decamerone schrieb. Dieses Werk ist das erste seiner Art und insofern mit Dantes Dichtung La Divina Commedia vom Anfang des 14. Jh.s vergleichbar. Boccaccio lässt sieben Frauen und drei junge Männer aus den besseren Kreisen von Florenz zu Wort kommen. Diese sind im Frühjahr und Sommer 1348 aus der verpesteten Stadt auf das Land geflohen. Jeder und jede von ihnen erzählt zehn Tage lang jeweils eine Geschichte. Es ist vereinbart, darin weder von der Pest noch vom Tod zu sprechen, und so erzählen sie sich denn 100 Geschichten vorwiegend komischer, oft sehr realistischer Art mit naturgemäß optimistischer Tendenz und getragen von einer allen gemeinsamen Lebensfreude.

IV


Wie man sieht, überwiegen die Gegensätze zwischen einst und heute, auch wenn ich einmal mehr daran erinnern will, dass alles hier Gesagte unter Vorbehalt steht. Die Corona-Krise ist ja noch nicht beendet, wir wissen nicht, wie lange sie noch dauern wird. Und die Tatsache, dass ich, so wie meine Leser, unmittelbarer Zeitzeuge bin, schärft nicht unbedingt den Blick – im Gegenteil.
Während der Kontrast zu den Krisen von einst höchst ausgeprägt ist, kann ich feststellen, dass er im Vergleich mit zwei jüngeren Krisen weniger augenfällig ist. Ich meine damit die »Große Depression« von 1929 und den Zweiten Weltkrieg. Auch aus einem solchen Vergleich lassen sich Lehren ziehen. Eine unmittelbare Folge der Großen Depression von 1929 war die völlige Einstellung aller Versuche, im Rahmen des Völkerbunds eine Aussöhnung zwischen den europäischen Staaten herbeizuführen, den Nationalismus zu überwinden und jeden Krieg auszuschließen (Brian-Kellog-Pakt von 1928). Sie führte sogleich dazu, dass sich die Staaten auf sich selbst zurückzogen, der Nationalismus anwuchs und autoritäre Regime an die Macht kamen, was schließlich zum Zweiten Weltkrieg führte.35 Ein keinesfalls nachzuahmendes Beispiel. Auch wenn wir mehrere Monate lang eine hermetische Abriegelung der nationalen Grenzen und damit das Wiederaufleben eines unterschwelligen Nationalismus erlebt haben, den von allen Ländern praktizierten Vorrang der Wahrung eigener Interessen, die Schwierigkeiten der EU-Staaten, eine gemeinsame und innovative Antwort zu finden, ein verstärktes Sicherheitsdenken und damit die (implizite) Hinnahme der Aussetzung der Grundrechte zugunsten einer Stärkung staatlicher Eingriffe und Kontrolle.36 Die extrem langsame Umsetzung der von europäischen Ländern zugesicherten Aufnahme von elternlosen Kindern und Jugendlichen aus griechischen Flüchtlingslagern (Lesbos), die Aussetzung des Asylrechts sowie die Schließung von Kirchen, Tempeln, Synagogen und Moscheen (bis hin zum Petersdom und der Grabeskirche in Jerusalem), während die Konsum- und Geschäftstempel offen blieben, weisen leider in die gleiche Richtung. Es wäre entschieden besser, wenn man sich an dem ausrichten würde, was in Europa und dem Rest der Welt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschehen ist, denn davon profitieren wir noch heute.
Diese vorläufigen Bemerkungen wollen gleichwohl nicht ausschließen, dass man auch aus den älteren hier erläuterten Beispielen Lehren ziehen könne. Der Vergleich mit einst zeigt, dass die Angst vor einer ungewissen Zukunft und der weit verbreitete Pessimismus heute wohl stärker ausgeprägt sind, als sie es einst waren. Mich überrascht auch der enorme Gegensatz zwischen der »objektiven« Begrenztheit der Corona-Epidemie und den beeindruckenden Dimensionen der Gegenmaßnahmen, die sich allenfalls mit denen vergleichen lassen, die in Europa und weltweit während des Ersten und Zweiten Weltkriegs ergriffen wurden. Mitunter erinnert mich das an Gribouille, der aus Angst vor dem Regen ins Wasser springt.
Was soll man von der anfänglichen Zögerlichkeit der chinesischen Behörden (bis zum chinesischen Neujahrsfest) halten, was davon, dass wahrscheinlich der Kampf gegen das Virus insbeson-dere dank Künstlicher Intelligenz die Kontrolle jedes einzelnen Chinesen durch Partei und Polizei gestattet hat? Welche Schlüsse sind aus einem Vergleich der unterschiedlichen Vorgehensweisen verschiedener Länder (Italien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Schweden, Südkorea, Japan, Indien, Afrika) zu ziehen?37
Was soll man von einer Gegenwart halten, in der offenbar die meisten Menschen den Tod für ein Skandalon und ein absolutes Übel halten und glauben, dass unser Heil von der Wissenschaft, allen voran von der Medizin, abhänge? Für die Mehrheit besteht das Ziel des Lebens anscheinend darin, möglichst lange und in Sicherheit zu leben, den Tod möglichst lange hinauszuschieben und ihn schmerzfrei und außer Haus stattfinden zu lassen (in Frankreich sterben 75 % der Menschen im Krankenhaus), als wäre der Tod eine völlig negative und fatale physische und irdische Realität.
Vor der Krise waren wir in Europa allesamt überzeugt, in Gesellschaften mit einer effizienten medizinischen Infrastruktur zu leben, in denen die wissenschaftliche Medizin die Krankheiten im Griff hat. Der offenkundigste Beleg dafür ist der regelmäßige An­stieg der Lebenserwartung bei Geburt: in Frankreich von 69,9 Jahren im Jahr 1960 auf 82,5 Jahre im Jahr 2018, in Deutschland von 69,3 Jahren im Jahr 1960 auf 81 Jahre im Jahr 2018. Diese weit verbrei-tete Überzeugung entspricht, wie Carl Friedrich von Weizsäcker s chon vor 60 Jahren gesagt hatte, »einem Glauben an die Wissenschaft, der die Rolle der herrschenden Religion unserer Zeit spielt«38.
Die Corona-Krise hat uns jedoch die Grenzen der Medizin und unseres Gesundheitssystems vor Augen geführt. Diese Bewusstmachung geht, so scheint mir, einher mit untergründigen Ängsten, die viel stärker sind als noch vor 50 Jahren: Zweifel am Fortschritt, aber auch das weit verbreitete Gefühl, dass uns nur fünf Minuten vom Ende der Menschheit trennen – Sichtweisen, wie sie bereits 1972 mit Nachdruck von der Schrift Die Grenzen des Wachstums des »Club of Rome« wachgerufen wurden. Dazu gehören auch die leidenschaftlichen Hinweise auf die nukleare Gefahr (seit Hiroshima und Nagasaki, vor allem aber seit Tschernobyl und Fukushima) und schließlich die nicht weniger leidenschaftlichen und pessimistischen Verweise auf die Umweltkrise zu Beginn des 21. Jh.s.39
Unter diesen Umständen ist es meines Erachtens vor allem ge­boten, einen klaren Blick zu bewahren. Es gilt, sich schlicht und einfach auf die elementaren (und banalen) Tatsachen zu besinnen, die wir gerne ausklammern möchten: dass wir alle sterblich sind, dass wir unvollkommen sind und dass auch die Wissenschaft ihre Grenzen hat. Einige Philosophen und weitere Persönlichkeiten haben das bereits vorzüglich formuliert: So etwa Slavoj Žižek (»die verstörendste Lehre, die die anhaltende Virus-Epidemie für uns bereithält: Der Mensch ist viel weniger souverän, als er denkt«), Rémi Brague (»die gegenwärtige Krise bietet uns die Gelegenheit zu einer Gewissensüberprüfung«) und schließlich Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (»Nicht alles hat sich dem Schutz des Le­bens unterzuordnen«).40
Selbstverständlich geht es vor allem darum, diese Pandemie zu beherrschen und die Zahl der zusätzlichen Toten, die sie verursacht, niedrig zu halten. Vor Kurzem sagte Robert Habeck: »Vielleicht ist es das erste Mal, dass Gesundheitsvorsorge wichtiger war als Gewinninteressen und Wachstum«. Man kann ihm nur zustimmen. Aber genauso unerlässlich ist es, uns zu fragen, was der Tod ist, wie man ihn verstehen muss, welche Haltung man ihm gegenüber einnimmt und, mehr noch, wie man sich auf ihn vorbereitet. Unter diesem Gesichtspunkt beklage ich die kontraproduktiven Maßnahmen, die man in den Altersheimen ergriffen hat, sowie die fehlende Unterstützung für die in unseren alternden Gesellschaften so wichtigen Einrichtungen, die Hospize, als Einrichtungen der Sterbebegleitung. Michel de Certeau hat es schon 1975 vollendet ausgedrückt: »Die Historiographie setzt voraus, dass es unmöglich geworden ist, an diese Anwesenheit der Toten zu glauben, die die Erfahrung ganzer Zivilisationen organisiert hat (und organisiert), und dass es gleichwohl unmöglich ist, sich damit abzufinden, den Verlust einer lebendigen Solidarität mit den Verstorbenen zu ak­zeptieren und eine unwiderrufliche Trennungslinie als endgül-tig hinzunehmen […] Die Historiographie [ist] Todesarbeit und Arbeit gegen den Tod.«41
Aus dem Vergleich von »einst« und »jetzt« ziehe ich die Schlussfolgerung, dass es früher um die Mortalität ging. Es musste also alles getan werden, um die Epidemie dadurch zu bekämpfen, dass man sich, wie die Florentiner des Decamerone anlässlich der »Schwarzen Pest« von 1348, aufs Land zurückzog, dass man die an der Pest Erkrankten in Quarantäne steckte und zu Gott betete, er möge den Sündern verzeihen, die er mit der Pest bestrafte, und schließlich dadurch, dass man mithilfe der Religion den Infizierten dabei half, so zu sterben, dass sie der Hölle entgehen konnten. Denn so schrecklich der Tod sein mochte, so glaubte man doch, dass er kein endgültiges Ende bedeute, da er ja durch das freiwillige Selbstopfer Christi überwunden wurde und dass das Heil von Gott abhing. Heutzutage dagegen geht es um den Tod. Dieser wird von den meisten von uns als definitives Ende betrachtet und darum glauben wir, dass das Heil von der Medizin und vom Geld abhängt. Daher erscheint es vorrangig, möglichst lange und bei bester Ge­sundheit zu leben, uns vor äußeren Gefahren zu schützen und am Ende einen späten und diskreten, einen sanften und freien Tod zu sterben.
Diese Sicht auf das Leben aber stellt eine Pandemie, wie wir sie gerade erleiden, in Frage. Sie erinnert uns an Dinge, die wir weitgehend verdrängt haben: dass die Wissenschaft Grenzen hat, dass Geld und Staat Mittel zum Zweck, aber nicht selbst Zwecke sind, dass wir alle sterben müssen und dass die Zukunft offen, also ungewiss ist. Doch gerdae damit spornt diese Pandemie uns an, frei und verantwortungsbewusst, solidarisch und zuversichtlich zu werden.

Abstract


The article opens with the widespread impression that the contemporary crisis of Covid-19 is seen in broader public as a com-pletely unique, incomparable crisis. But using paradigms as me-mory studies, demography and historical social sciences forgotten past becomes quite relevant for contemporary developments.
Today’s crisis compared to medieval and early modern epidemic makes quite clear that there are serious differences (e. g. in regard of mortality rates) but also commonalities (epidemic intensifies social tensions and inequalities). Also individual and common mechanisms to survive »in between times« are comparable. But the function and relevance of religion in European societies has changed dramatically in the last two centuries – and that leads to certain consequences in regard of dealing with such a pandemic.

Fussnoten:

1) Eine erste Fassung dieses Textes von Anfang April habe ich meinen sechs Geschwistern sowie vier deutschen und französischen Freunden geschickt. Sie alle haben mir bei seiner Verbesserung geholfen, wofür ich ihnen hiermit sehr herzlich danke. Mein Dank geht aber vor allen an meine Frau Beate, die seine Entwicklung von Anfang bis Ende mit ihrer kritischen Intelligenz und ihrer Sensibilität begleitet hat. Und mein Dank gilt Walter Fekl für die Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsche.
2) Laura Spinney, Pale Rider. The Spanish Flu of 1918 and How it Changed the World, London 2018. Gleiches gilt für Epidemien der jüngeren Vergangenheit, die mehr Opfer als die derzeitige verlangten, womit ich die Hongkong-Grippe von 1968 bis 1969 oder die asiatische Grippe von 1957 meine.
3) Elisabeth von Thadden, »Die Corona-Pandemie zeigt, dass wir anders mit dem Tod umgehen als früher. Die Moderne erfindet sich gerade neu«, in: Die Zeit, 8. April 2020, Nr. 16, 46; Caroline Lachowsky, »Petite et grande histoire des épidémies«, Radio-Sendung, RFI (11. April 2020). Hinweisen möchte ich auf zwei hervorragende Artikel über die historischen Dimensionen der Pandemien, die im Monat Mai erschienen sind: zuerst den Artikel über das Pestjahr 1655 in London, das Ranga Yogeshwar in der »F.A.Z.« vom 2. Mai 2020 (9) veröffentlich hat, und dann den Artikel der französischen Historikerin Françoise Hildesheimer über die Pandemien der Vergangenheit in »Le Monde« vom 16. Mai 2020 (25/25). Vgl. dazu auch die Sendung von ARTE »Mit offenen Karten« https://www.arte.tv/fr/videos/091146-015-A/le-dessous-des-cartes-epidemies-une-longue-histoire/).
4) Eine treffliche Darstellung der Komplementarität von »quantitativer« und »qualitativer« Geschichte im Dienst einer »totalen Geschichte« bietet François Furet, L’atelier de l’histoire, Paris 1982.
5) Am 2. Juni 2020 zählte man im westlichen Teil Europas 82 Todesfälle auf 100.000 Einwohner in Belgien, 58 in Spanien, 57,5 im Vereinigten Königreich, 55,4 in Italien, 44,3 in Schweden, 44,2 in Frankreich, 34,8 in den Niederlanden, 22,2 in der Schweiz, 10,3 in Deutschland. In Mittel-, Ost- und Süd-Ost-Europa sind die Todesfälle entschieden niedriger. Nach den Daten der Johns-Hopkins-University (4. Juni 2020) gibt es 2,9 Todesfälle auf 100.000 Einwohner in Polen, 3,1 in Tschechien, 1,7 in Griechenland, 0,5 in der Slowakei, 1,4 in Zypern, 1,9 in Malta, 2,1 in Bulgarien.
6) Jean-Noël Biraben, Les hommes et la peste en France et dans les pays européens et méditerranéens, Paris 1975/1976; Frédérique Audoin-Rouzeau, Les chemins de la peste: le rat, la puce et l’homme, Paris 2007. Vgl. auch den hervorragenden Artikel in deutscher Sprache, den der französische-deutsche Mediävist Pierre Monnet am 9. April 2020 vorgelegt hat und der gleichfalls in diesem Band abgedruckt ist. In ihm befasst er sich damit, inwiefern die »Große Pest« zu einer besseren Wahrnehmung der gegenwärtigen Epidemie beitragen kann: https://wbg-community.de/themen/prof-dr-pierre-monnet-pandemie-covid-19-im-lichte-des-schwarzen-todes-von-1348 (Abruf am 20. April 2020).
7) Diesen wären obendrein frühere Pest-Epidemien hinzuzufügen, wie etwa die »Justinianische Pest«, die die Mittelmeer-Anrainer im 6. Jh. heimsuchte und der Zeitschrift »Hérodote« zufolge eine Epoche der Weltgeschichte beendete: www.herodote.net/La_pandemie_qui_met_fin_à_un_monde-synthese-2700-294.php (Abruf 19. April 2020). Um nicht zu ausführlich zu werden, habe ich bewusst die Epidemien des 19. Jh.s, insbesondere die Cholera-Epidemien, nicht erwähnt – obwohl ein Ur-Ur-Großvater von mir während der vierten Cholera-Pandemie am Ende der 1860er Jahre starb.
8) Emmanuel Le Roy Ladurie, Histoire du climat depuis l’an mil, Paris 1967.
9) Pierre Goubert, Beauvais et le Beauvaisis de 1600 à 1730. Contribution à l’his-toire sociale de la France au XVIIIe siècle, Paris 1960.
10) Etienne François, Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648–1806, Sigmaringen 1991, insbesondere: »Eine entthronte Hauptstadt? Kurzer Abriss der demographischen Entwicklung Augsburgs von 1600 bis 1800« (38–44), Diagramm 1 (34) »Entwicklung der Taufen, Eheschließungen und Begräbnisse in Augsburg« und Diagramm 7, »Entwicklung der Steuerverhältnisse in Augsburg, 1558–1724« (Gesamtaufkommen, Anteil der Steuerzahler, prozentuale Verteilung der Steuerzahler nach Steuerklassen).
11) Pierre Chaunu, L’Amérique et les Amériques de la préhistoire à nos jours, Paris 1964; Jean Meyer, Les Européens et les autres, Paris 1975.
12) Vgl. hierzu die eingehende und überzeugende Darstellung von Boris Grésillon, Professor an der Universität Aix-Marseille, im Blog »Géographies en mouvement« auf der Website der Tageszeitung »Libération«.
13) Pierre Deyon, Amiens, capitale provinciale. Etude sur la société urbaine au XVIIe siècle, Paris 1967.
14) Bernd Roeck, Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität, Göttingen 1989, 641–653.
15) Diese Informationen, und übrigens auch viele weitere, stammen von Wikipedia, das ich so benutzt habe, wie man das früher mit Wörterbuch-, Enzyklopädie- und Lexika-Einträgen tat. Ein rascher Überblick über die Verbreitung des Worts Quarantäne ergab, dass es neben dem Französischen und Italienischen auch im Deutschen, Englischen, Kroatischen, Dänischen, Spanischen, Niederländischen, Polnischen, Portugiesischen, Russischen, Schwedischen und Türkischen in ähnlicher Schreibung und Aussprache existiert. Da das Wort und die von ihm bezeichnete Praxis negativ konnotiert sind, haben viele Behörden und Einrichtungen im Französischen lieber das Wort »confinement« verwendet. Im föderal aufgebauten Deutschland, in dem die Große Koalition zu Beginn der Krise in den Meinungsumfragen keine Mehrheit mehr hatte, unternahmen die Behörden in Bund und Ländern alles, um nur nicht als »autoritär« zu gelten. Um die Selbstverantwortung der Bürger zu respektieren, sprach man lieber von »nachdrücklich empfohlenen Einschränkungen« bzw. von Lockdown und Shutdown. Dieser rhetorische Trick führte in Verbindung mit der tief empfundenen Empathie und dem mütterlichen Tonfall der Kanzlerin dazu, dass die Große Koalition wieder auf solide Mehrheiten kam, während alle anderen Parteien, insbesondere die Grünen, die FDP und noch mehr die AfD, seit Beginn der Krise Rückschritte verzeichnen.
16) Marcel Proust, A la recherche du temps perdu. Le côté de Guermantes, Paris 1954, tome 2, 417 (dt.: Gesammelte Werke: Romane und Erzählungen. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Im Schatten der jungen Mädchen und Die Herzogin von Guermantes (Bd. 1 u. 2), e-artnow. Kindle-Version (Position 15.793, Abruf 14. Juni 2020).
17) Jean Vitaux, Histoire de la peste, Paris 2010.
18) Jean Delumeau, Le péché et la peur. La culpabilisation en Occident (XIIIe–XVIIIe siècles), Paris 1983.
19) Jean Delumeau, La peur en Occident (XIVe–XVIIIe siècles). Une cité assiégée, Paris 1978 (dt.: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek 1989).
20) Rolf Kießling, Jüdische Geschichte in Bayern, Berlin/Boston 2019.
21) Etienne Delcambre, Le concept de sorcellerie dans le duché de Lorraine au XVIe et XVIIe siècle, 3 vols., Nancy 1948–1951; Robert Mandrou, Magistrats et sorciers en France au XVIIe siècle. Une analyse de psychologie historique, Paris 1968; Michel de Certeau (Ed.), La Possession de Loudun, Paris 1978; Lyndal Roper, Witch Craze. Terror and Fantasy in Baroque Germany, New Haven/London 2004.
22) »La Croix«, Artikel vom 8. April 2020: Laut einer Umfrage der Wochenzeitschrift »Le Pèlerin« vom 9. April glauben lediglich 10 % der Franzosen an die »Auferstehung der Toten bei Gott«; 7 % glauben an die »Wiedergeburt auf der Erde in einem anderen Leben«, 33 % an »etwas, das ich nicht definieren kann« und 43 % an nichts.
23) So in der Oster-Präfation.
24) Jean Delumeau, Une histoire du paradis, Paris 1992.
25) Im Jahr 1628 fanden in der Stadt Augsburg, die damals mehrheitlich protestantisch war, täglich zwei Gottesdienste mit Abendmahl statt.
26) Für eine genauere Darstellung verweise ich auf meinen Beitrag »Oberammergau«, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, München 2001, 3. Bd., 274–291.
27) Auch in dieser Hinsicht ist in den letzten Jahrzehnten ein beschleunigter Rückgang zu verzeichnen. Ich kann mich erinnern, dass in meiner Studienzeit in Paris in den 1960er Jahren ein hoher Anteil der Todesanzeigen in der Tageszeitung »Le Monde« erwähnte, dass der oder die Verstorbene die letzte Ölung erhalten hatte, was heutzutage eine Ausnahme darstellt. Vgl. Guillaume Cuchet, Comment notre monde a cessé d’être chrétien, Paris 2018.
28) Jacques Gélis, L’arbre et le fruit, La naissance dans l’Occident moderne, XVIe–XIXe, Paris 1984; Ders.: Les enfants des limbes. Mort-nés et parents dans l’Europe chrétienne, Paris 2006.
29) Jacques Le Goff, La naissance du Purgatoire, Paris 1981.
30) Vgl. hierzu Pierre Chaunu, La Mort à Paris (XVIe et XVIIe siècles), Paris 1978; sowie die Studie von Michel Vovelle über den Platz, den der Bezug auf Gott, die Jungfrau Maria, die Heiligen und im Allgemeinen das Seelenheil in den Testamenten einnahm, die im 18. Jh. in Südfrankreich verfasst wurden und bei denen in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s eine größere Distanz festzustellen ist: Michel Vovelle, Piété baroque et déchristianisation en Provence au XVIIIe siècle, Paris 1973. Zur Abrundung des Bildes seien ergänzend drei weitere Charakteristika einer Seelsorge hinzugefügt, die betonte, dass der irdische Tod nur eine Etappe darstellt. An erster Stelle ist dabei das für Zeitgenossen wie künftige Generationen beeindruckende Beispiel des Heiligen Franziskus von Assisi und seines Umgangs mit den Leprakranken zu erwähnen. Des Weiteren die Gründung einer großen Anzahl von Hospitälern, wie etwa des ersten Pest-Hospitals in Venedig (1423), und schließlich die Gründung von Orden und Kongregationen, die sich dem Beistand für Kranke und Sterbende widmeten.
31) Vgl. hierzu die verschiedenen Publikationen von François Boespflug: Dieu et ses images. Une histoire de l’Eternel dans l’art, Montrouge 2008; Le regard du Christ dans l’art, Paris 2014; Crucifixion. La crucifixion dans l’art, un sujet planétaire (mit Emanuela Fogliadini), Montrouge 2019.
32) Für alles Weitere zum protestantischen Europa verweise ich auf Kaspar von Greyerz, Religion und Kultur. Europa 1500–1800, Göttingen 2000.
33) Der Bevölkerungsrückgang infolge der Großen Pest hat dazu geführt, dass die Überlebenden von Dörfern, die man zuvor in Landstrichen von geringer Ertragskraft gegründet hatte, sich nun in fruchtbareren Regionen niederließen, wo sie die Dreifelderwirtschaft betrieben. Dies hatte die Aufgabe ganzer Dörfer, die »Wüstungen« genannt wurden, zur Folge. Am Ende des Dreißigjährigen Kriegs kam es im Europa östlich der Elbe (bis nach Russland) zu einer entgegengesetzten Entwicklung: In schwach besiedelten Regionen und Ländern, in denen ein Großgrundbesitz vorherrschte, der auf dem Anbau von Getreide beruhte, das über Danzig in die westlichen Märkte exportiert wurde, führten die adligen Besitzer dieser Gutsherrschaften mit Unterstützung der jeweiligen Territorialstaaten eine neue Leibeigenschaft mit der Verpflichtung zu schwerer Fron ein.
34) Vgl. zu diesem Punkt das Kapitel »Abriss der Augsburger Wirtschaft zwischen 1650 und 1800: Eine erfolgreiche qualitative Umstrukturierung« in meinem Buch: Die unsichtbare Grenze (s. Anm. 10), 73–83.
35) Tobias Straumann, Debt, Crisis, and the Rise of Hitler, Oxford 2019.
36) Seit der panischen und übereilten Abgrenzung aller nationalstaatlichen Grenzen im Monat März haben wir in Europa eine beachtliche und manchmal heimlich nationalistische Aufwertung der Nationen erlebt. Wenn auch nicht vorgesehen, ordnen sich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Gerichtshof und die Europäische Zentralbank in diesen Kontext ein. Zwei Monate lang war die E.U. gelähmt. Wieder einmal hat sich Deutschland, wie bei der Finanzkrise von 2008, gut und zu seinen Gunsten behauptet: mit einer eher niedrigen Mortalität wie auch mit beeindruckenden Gegenwarts- und Zukunftsinitiativen, die auch deswegen möglich wurden, weil der Zustand der deutschen öffentlichen Finanzen vorbildlich ist. Zum Glück lässt die unerwartete und in mancher Hinsicht überraschende deutsch-französische Initiative hoffen, dass sich die E.U. aus der Sackgasse der letzten Monate herausholen wird.
37) Besonders aufschlussreich erscheinen mir in diesem Zusammenhang Südkorea, dem es gelungen ist, die Epidemie einzugrenzen, ohne zu autoritären Kontrollmaßnahmen wie die Volksrepublik China zu greifen, oder aber Schweden, wo mit Zustimmung der Bevölkerung, die ihre Verantwortung übernahm, fast keine Ausgangssperren verhängt wurden und die Mortalität in Verbindung mit der Epidemie keine dramatischen Höhen erreichte.
38) Carl Friedrich von Weizsäcker, zu Beginn einer Vorlesungsreihe, die er zwischen 1959 und 1961 über die »Tragweite der Wissenschaft« hielt (Artikel von Thea Dorn, in: Die Zeit, 4. Juni 2020, Nr. 24, 9). Die kompetentesten Forscher auf dem Gebiet der Medizin teilen diese Überbewertung der wissenschaftlichen Medizin nicht. Jules Romains hatte sich über sie bereits 1923 in seinem Stück Knock ou le triomphe de la médecine lustig gemacht.
39) Dabei denke ich, dass der Wandel der »Historizitätsregime« und die Konzentration unserer Zeitwahrnehmung auf die Gegenwart, wie sie François Hartog so vorzüglich analysiert hat, in diesem Zusammenhang eine beträchtliche Rolle spielen: François Hartog, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003.
40) Vgl. in diesem Zusammenhang die Beobachtung des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, wonach die übereilten Sicherungsmaßnahmen gegen die Pandemie implizit bedeuten, dass »jede Person wie ein potentieller Anstecker wahrgenommen wird, in der gleichen Art und Weise, wie die damaligen Anti-Terrorgesetze jeden Bürger juristisch und de facto zu einem potentiellen Terroristen verwandelt hatten«.
41) Bei diesem wesentlichen Thema begnüge ich mich mit zwei Referenzen, die für mich von entscheidender Bedeutung waren: Michel Vovelle, La mort et l’Occident de 1300 à nos jours, Paris 1983; und Thomas W. Laqueur, The Work of the Dead. A Cultural History of Mortal Remains, Princeton 2015. Letzterem danke ich für unseren Austausch zu diesem Thema.