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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

1012–1014

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Martin, Tanja

Titel/Untertitel:

Die Sozialität des Gottesdienstes. Zur sozialen Kraft besonderer Gottesdienste.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 396 S. m. 5 Tab. = Praktische Theologie heute, 158. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-17-034966-7.

Rezensent:

Stefan Schweyer

Beim vorliegenden Werk handelt es sich um eine im Rahmen des Forschungsprojektes »Gemeinde auf Zeit« bei Kristian Fechtner in Mainz erstellte Dissertation. Tanja Martin, die zunächst im kaufmännischen Bereich tätig war und heute Pfarrerin in Eckelsheim und Wendelsheim (Rheinland-Pfalz) ist, präsentiert ihre Untersuchung zu »besonderen« Gottesdiensten. Darunter versteht die Vfn. Gottesdienste, die »spezifische Bedürfnisse von Personen(-gruppen) berücksichtigen, ggf. thematische Schwerpunkte setzen und nicht zu den regulären Sonntagmorgen- oder Kasualgottes-diensten einer Parochialgemeinde gezählt werden« (20). Die Forschungsfrage, inwiefern solche besonderen Gottesdienste als »Kris-tallisationspunkte einer ›Gemeinde auf Zeit‹ verstanden werden können« (24), ist unübersehbar mit dem übergeordneten Forschungsprojekt verbunden. Die Dissertation ist daher auch als Teil des Gesamtprojekts zu verstehen und zu würdigen (vgl. auch die beiden Dissertationen: Kühn, Jonathan, Klanggewalt und Wir-Gefühl, PTHe 157, Stuttgart 2018; Sauer, Kathrin, Unterwegs mit Gott, PTHe 159, Stuttgart 2019; sowie den Sammelband: Bubmann, Peter u. a. [Hrsg.], Gemeinde auf Zeit, PTHe 160, Stuttgart 2019).
Mit einem qualitativ-explorativen Ansatz untersucht die Vfn. drei unterschiedliche Gottesdienstformate, nämlich den »Nachtschicht« Gottesdienst in Stuttgart-Obertürkheim, den Motorradfahrer-Gottesdienst »Anlassen« sowie den Mittwochmorgen-Gottesdienst in der Heidelberger Universitätskirche.
Die empirische Studie ist mustergültig aufgebaut und in jedem Schritt problemlos nachvollziehbar. Im einleitenden Teil (Teil I, 13–77) erfolgen eine thematische Einordnung und methodologische Überlegungen. Weichenstellend für die Studie sind die den ersten Teil abschließenden Überlegungen zur Sozialität des Gottesdienstes (68–77), worunter die Vfn. die »soziale Kraft« verstanden wissen will, die sowohl durch gemeinsames Handeln den Gottesdienst hervorbringt als auch durch den Gottesdienst ausgebildet wird (72–73). Die Vfn. identifiziert vier Aspekte der sozialen Kraft: 1) ihre Entstehung und Entwicklung; 2) ihr Charakter als kollektives Phänomen; 3) ihre Beziehungsstrukturen; 4) ihre Sinnkonstruktionen und Resonanzerfahrungen (74–77). Dieses Verständnis von So­zialität als sozialer Kraft mit den genannten vier Ausprägungen bildet den Analyseraster der folgenden empirischen Untersuchungen (Teil II, 79–319). Primärquellen sind die gefeierten Gottesdienste (teilnehmende Beobachtungen), Print- und Onlinematerial zu den Gottesdiensten, Umfragebogen sowie teilnarrative Interviews. Er­hebungsinstrumente (Anhang, 363–376) und Datenmaterial (377–379) werden transparent präsentiert.
»Nachtschicht« (79–156) ist ein alternativer, einer Ortsgemeinde entwachsender Gottesdienst. Er zeichnet sich durch den Einbezug unterschiedlicher theatraler Inszenierungsformen sowie durch thematisch orientierte Interviews mit Gästen aus und kombiniert tradierte und moderne Elemente. Die soziale Kraft entwickelt »Nachtschicht« nicht zuletzt durch Pfarrer Ralf Vogel, der für die zahlreichen Ehrenamtlichen, für die Teilnehmenden und für die Gäste einen wichtigen Bezugspunkt bildet. Die Vfn. charakterisiert »Nachtschicht« stimmig als »Parochie-übergreifende Personalgemeinde« (156).
»Anlassen« (157–238) ist ein Motorradfahrergottesdienst, der jährlich zur Eröffnung der Motorradsaison in und um die Bergkirche in Niedergründau stattfindet und mit einem vom Pfarrer angeführten Motorradkorso verbunden ist. Es handelt sich in dieser Hinsicht um einen »Hybridevent«, ein »soziales Großereignis mit einem gottesdienstlichen Fokus« (178). Auch hier handelt es sich um einen Parochie-unabhängigen Gottesdienst im Verantwortungsbereich eines Funktionspfarramtes (220–221). Besonders in­teressant ist hier das Ergebnis der Analysen, dass sich die soziale Kraft des »Anlassens« nicht nur auf das gemeinsame Interesse am Motorradfahren zurückführen lässt, sondern auf das »dezidiert religiöse Profil der Veranstaltung« (238). Es ist der Gottesdienst – nicht das Motorradfahren an sich –, dem die »zentrale Vergesellungskraft« zugeschrieben werden kann (184).
Der »Mittwochmorgen-Gottesdienst« (238–319) ist ein Universitätsgottesdienst in Heidelberg mit einer hoch-liturgischen Form, der wöchentlich gefeiert wird. Durch den starken institutionellen Bezug und den wöchentlichen Rhythmus erhält der Gottesdienst einen gruppenorientierten, Parochie-analogen Charakter (312–315). Die soziale Kraft des Gottesdienstes lässt sich auf diese Aspekte zurückführen, dabei spielen aber auch die leitenden Personen als Integrationsfiguren sowie das anschließende gesellige Frühstück eine bedeutsame Rolle.
Im dritten Teil (321–361) präsentiert die Vfn. den Ertrag der Studie. In lesefreundlicher Weise werden zu jeder analytischen Frage in einem Satz pointiert die Ergebnisse zusammengefasst, so zum sozialen und gemeindlichen Profil (321–338) sowie zu den vier Aspekten der sozialen Kraft (338–356). Die Bündelung erfolgt in neun Thesen (356–357).
Der Ertrag der Studie liegt darin, dass die Vfn. zeigen konnte, dass »besondere« Gottesdienste eine soziale Kraft jenseits traditioneller parochialer Strukturen entfalten. Bei aller Unterschiedlichkeit sind es ähnliche Kräfte, welche dabei sozial wirksam sind, nämlich die Wechselwirkungen zwischen gottesdienstlichem Format, leitenden Persönlichkeiten, vielfältigen Beteiligungsmöglichkeiten und Teilnahmeverhalten. In deskriptiver Hinsicht ist das unbestritten. Zu Fragen Anlass geben jedoch die eine oder andere Ableitung. Exemplarisch illustriert an der sechsten These: »Nicht die Gemeinde feiert einen Gottesdienst, sondern der adäquate Gottesdienst schafft aus empirischer Perspektive Gemeinde.« (356) Lässt sich das so apodiktisch formulieren? Beide Satzteile enthalten Diskussionspotential zu Themenstellungen, welche die gesamte Studie betreffen. Zum ersten Teil des Satzes: Setzt nicht jeder Gottesdienst schon in einer Weise »Gemeinde« voraus? Dabei wäre etwa an die Trägerin der Gottesdienste zu denken, an die Finanzierung der Funktionspfarrämter, an verbindliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, an Ressourcen, die bereitgestellt werden. Oder zu­gespitzt: Es braucht – auch empirisch gesehen – »Gemeinde« bzw. eine genügend große Masse an »Nicht-Distanzierten«, damit es Gottesdienste gibt, die eine Teilnahme in Distanz ermöglichen. Wäre es daher nicht geschickter und passender, »besondere Gottesdienste« als »Erweiterung von Gemeinde« zu interpretieren? Und zum zweiten Teil des Satzes: Hier scheint »soziale Kraft« mit »Ge­meinde« identifiziert zu werden. Zweifellos wird es dort, wo »Gemeinde« ist, auch zwingend »soziale Kräfte« geben. Ebenfalls unbestritten ist, dass »besondere Gottesdienste« solche sozialen Kräfte entfalten. Aber die Umkehrung der Gleichung wäre nochmals theologisch zu diskutieren: Ist jede Vergesellungskraft, die im Zusammenhang mit einem gefeierten Gottesdienst steht, als »Gemeinde« qualifizierbar? Wäre es nicht auch hier passender, mit einem differenzierteren Gemeindebegriff zu arbeiten, der sowohl die »Gemeinde« als Trägerin des Gottesdienstes als auch die »Gemeinde« als die sich ereignende gottesdienstliche Gemeinschaft zu beschreiben vermag?
Dass sich solche Fragen überhaupt stellen, zeigt, wie anregend präzise empirische Wahrnehmungen sind. Die Dissertation schärft den Blick für Gottesdienstformate, die selten im Blickfeld praktisch-theologischer Forschung liegen, und leistet damit einen wertvollen Beitrag zur praktisch-theologischen Diskussion. Die Dissertation ist auch ein Musterbeispiel, wie mit einer Forschungsarbeit ein Puzzleteil zu einem größer angelegten Forschungsprojekt beigetragen werden kann. Sie dient Nachwuchsforscherinnen und -forschern als Exempel, wie sinnvoll eine solche Begrenzung des Gegenstands und der Fragestellung in einer Forschungsarbeit ist – auch wenn manche Fragen dabei unbeantwortet bleiben müssen. Die Studie kann – und wird hoffentlich – als Anregung gelesen werden, bestehende Gottesdienstformate zu erweitern und zu ergänzen.