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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

1007–1009

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Eisenmann, Maximiliane

Titel/Untertitel:

Spannungsvolles Engagement in der Welt. Madeleine Debrêl als Inspiration für die verbandliche Caritas in Deutschland.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 296 S. = Freiburger theologische Studien, 189. Geb. EUR 55,00. ISBN 978-3-451-38472-1.

Rezensent:

Johannes Eurich

An der Pädagogischen Hochschule Freiburg wurde 2018 die Dis-sertationsschrift von Maximiliane Eisenmann zur verbandlichen Caritas in Deutschland und zu Madeleine Delbrêl als inspirierendes Beispiel für karitatives Engagement in der Welt angenommen. Der Arbeit liegt die Hypothese zugrunde, dass der Deutsche Caritasverband und Madeleine Delbrêl vergleichbare Parallelen in ihrem jeweiligen Engagement für notleidende Menschen aufweisen und dass sich trotz der unterschiedlichen historischen, kulturellen und strukturellen Kontexte Gemeinsamkeiten christlicher Sozialarbeit als Kirche in der Welt herausarbeiten lassen. Thematisch ist damit bereits das Spannungsfeld angerissen, das der Arbeit ihren Titel verleiht und um das sich die Arbeit zentral bewegt: Wie kann christliches Engagement in der Welt zugleich als Kirche in der Welt und für die Welt beschrieben werden?
Theologisch setzt E. bei den Grundlagen des Zweiten Vatikanischen Konzils an und versucht, Kirche mitten unter den Menschen als pilgernde Kirche zu verstehen. Damit werden zugleich die drängenden Fragen der Verortung karitativen Handelns und der Identität verbandlicher Strukturen aufgerufen, um die sich heute viele Diskussionen drehen. Diese Fragen werden ebenso am Lebenswerk Madeleine Delbrêls durchgegangen, weil sie hier eine praktische Veranschaulichung und Konkretisierung erfahren. Delbrêls Leben und Werk sind freilich bereits Gegenstand von vier wissenschaftlichen Arbeiten gewesen, so dass es E. nicht um eine weitere Studie zu Delbrêl geht, sondern darum, sie als »Inspiration« für die verbandliche Caritas in verschiedenen Spannungsfeldern einzuführen. Methodisch ist sich E. der Ungleichzeitigkeit der Kontexte von verbandlicher Caritas und Delbrêl bewusst, was sich aber dann doch dahingehend auswirkt, dass die Arbeit nach der Einleitung (15–24) und einführenden Überlegungen zum theologischen Verständnis der Welt (25–32) in zwei große Teile zerfällt: Im ersten Teil (Kapitel 3) wird auf gut 130 Seiten das Engagement der verbandlichen Caritas in der Welt diskutiert. Den etwas kürzeren zweiten Teil bildet mit etwas über 80 Seiten das vierte Kapitel zu Madeleine Delbrêl. Problematisch an diesem Aufbau der Arbeit ist, dass das dritte Kapitel zur verbandlichen Caritas ohne Bezug auf Delbrêl auskommt – es steht für sich und hätte gut ohne die weiteren Teile publiziert werden können. Ähnlich verhält es sich mit dem vierten Kapitel zu Delbrêl, das ihren Werdegang und die Spannungsfelder ihrer Arbeit in Frankreich durchleuchtet, ohne Bezüge zur verbandlichen Caritas in Deutschland herzustellen (an diesen Teil ist zudem noch die Frage zu stellen, welchen Erkenntnisfortschritt es gegenüber den vorliegenden Studien zu Delbrêl enthält). Vermutlich wäre eine direkte Verbindung beider Teile methodisch auch gar nicht machbar noch ratsam gewesen. Aus diesen getrennten Teilen ergibt sich dann jedoch die Frage, was das Verbindende zwischen ihnen für die Dissertationsschrift ist. E. ist dies natürlich bewusst und so werden in der Konklusion im fünften Kapitel (253–271) beide Teile zusammengeführt und Perspektiven sozial-karitativen Engagements für die verbandliche Arbeit der Caritas am Beispiel von Madeleine Delbrêl aufgezeigt. Freilich muss sich E. hier die Rückfrage gefallen lassen, welche inhaltlichen Aspekte denn nun am Beispiel von Madeleine Delbrêl den bereits diskutierten Aspekten verbandlicher Caritas noch hinzugefügt werden können. Denn »Spannung als genuin diakonisches Moment« ist bereits im Zweiten Vatikanum angelegt und wird im dritten Kapitel ausführlich behandelt. So bleibt nur die Vergewisserung der Parallelitäten zwischen verbandlicher Arbeit der Caritas in Deutschland und dem Lebenswerk von Delbrêl in Frankreich. Den Rezensenten hat dies im Blick auf die Anlage der Arbeit nicht überzeugt.
Hingegen spricht die Ausarbeitung des dritten Kapitels für die Arbeit: Hier werden die zentralen Fragen christlichen Engagements in einer säkularisierten Welt als Kirche in und für die Welt aufgegriffen und zielführend diskutiert. Grundlegend hierfür ist Gaudium et spes, mit welchem das Zweite Vatikanische Konzil die Kirche mit ihren Wesensvollzügen in der Welt verortet und sie in Beziehung zur Welt setzt. Daraus ergeben sich zwei zentrale Fragen (102): »Welche zentralen systematisch-theologischen Größen prägen die Welt, in der die Kirche sich verortet? Und: Wie verhält sich die Kirche zur Welt? In welcher Relation verhalten sich Kirche und Welt zueinander?« Schöpfungstheologische und inkarnations-theologische Überlegungen verdeutlichen unterschiedliche Spannungsmomente (z. B. Immanenz und Transzendenz) in diesem Relationengefüge und werden anschließend in Bezug auf die Spätmoderne angewandt: Da diese vor allem die menschliche Freiheit und Selbstbestimmung im Sinne einer autarken Freiheit »von« betont, steht auch hier der Glaube an den »freiheitsverheißenden Gott« im spannungsvollen Dialog mit dieser. Für die Kirche und die ihr aufgegebene Liebe des Nächsten bedeute dies (eine gelungene Formulierung von Kreutzer aufnehmend): Sie finde »ihre innere Mitte in der Wendung nach außen« (119). Die spannungsvolle Konstellation zwischen (!) Kirche und Welt wird dann besonders am Wesensvollzug der diakonia ausgeführt. Zentral für die Arbeit verbandlicher Caritas wird somit die zeichenhafte Repräsentanz christlichen Lebens und Handelns im Sinne von Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Der Caritasverband ist Kirche, auch wenn die verbandliche Struktur keine zwingend kirchliche ist (sie deshalb aber nicht ohne Weiteres nicht-kirchlich sei). Der genuine Ort karitativen Handelns ist in der je gegenwärtigen, pluralen Welt, so dass der Verband als Teil der Kirche immer auch in sich selbst die gesell schaftliche Pluralität abbildet. Die Grundfigur der produktiven Synthesebildung zwischen den unterschiedlichen Anforderungen im Spannungsfeld von Kirche in der Welt wird anschließend an verschiedenen Praxisherausforderungen (Kirche sein mit nichtkirchlichem Personal, konfessioneller Wohlfahrtsverband im Sozialstaatsgefüge) bewährt: »Durch die bedingungslose Zuwendung zum jeweiligen Gegenüber vollzieht die Kirche höchst authentisch ihr Kirchesein, in dem sie keine Unterscheidung vornimmt, sondern ›das ›unterscheidend‹ Christliche als dasjenige identifiziert, das alle Menschen verbindet, eint und sie einander gleich macht‹: die in der Gottebenbildlichkeit begründete Würde eines jeden Menschen.« (147) Letztlich komme es dann mit Karl Gabriel darauf an, seine diakonisch-karitative Identität zu wahren, indem man nicht das Spannungsfeld auf eine Seite hin auflöse. Damit ist gut getroffen, was die diakoniewissenschaftliche Reflexion heute leitet: die der Diakonie innewohnende Spannung – christliche Impulse zur Nächstenliebe, die in einer anscheinend säkularen Praxis nach professionellen Standards vollzogen werden – offen zu halten und die diakonische Identität nicht in einer eindeutigen Kirchlichkeit (was auch immer das heißen mag) scheinbar christlich profilieren zu wollen.
Leider muss zum Schluss noch ein Aspekt im Blick auf die geschichtliche Darstellung sowohl des Caritasverbands als auch bei Delbrêl beanstandet werden: Bei Delbrêl verfängt sich die Darstellung des Lebenswerks bisweilen in einer nacherzählenden Weichzeichnung, die beinahe schon hagiographische Züge annehmen kann (vgl. 177 im Blick auf die Vermittlung zwischen Rom und der Arbeiterpriesterbewegung: »Zeit ihres Lebens, mit einer Tendenz zur Verdichtung in ihren letzten Lebensjahren, schlägt sie sich auf keine andere Seite als auf die Jesu Christi.« – Man hätte dann schon gerne gewusst, was in einem solchen Konflikt die Seite Jesu Christi denn sei mag). Schwerwiegender kommt eine historisch unkritische Herangehensweise bei der Darstellung der Geschichte des Caritasverbands in Deutschland zum Tragen: Auch wenn es sich nur um eine äußerst knappe einführende Skizze handelt, muss hier vor allem im Blick auf die Verstrickung karitativer Akteure in die NS-Verbrechen wie z. B. die T4-Aktion deutlich kritischer und dem Stand der Forschung entsprechender mit der Darstellung der Geschichte verfahren werden. Eine Glättung, wie sie hier unter Bezug auf Borgmann angedeutet wird (41: »…, ohne dabei ›immer ohne Fehl und Tadel geblieben‹ zu sein, sich (aber) in der Erfüllung seines Auftrags letztlich bewährt hat«), bagatellisiert die Ereignisse und kommt schon in den Geschmack einer »Reinwaschung«. Dies darf in einer wissenschaftlichen Arbeit nicht erfolgen! Wollasch, den E. hierzu am meisten zitiert (jedoch ohne die folgenden Angaben), beziffert die Anzahl der im Rahmen von T4 aus Caritas-Einrichtungen verlegten und später ermordeten Menschen auf 11.225 (Caritas und Euthanasie im Dritten Reich. Staatliche Lebensvernichtung in katholischen Heil- und Pflegeanstalten 1936 bis 1945, 75). Daneben gab es rund 1.500 Menschen, die aus 21 Heimen gerettet werden konnten. Ob man hier von Bewährung in der Erfüllung seines Auftrags sprechen kann? Dies übergeht die Schicksale der Opfer nun auch in der wissenschaftlichen Darstellung und ist schlicht unangemessen.