Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

1005–1007

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Deeg, Alexander, u. Christian Lehnert [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Nach der Volkskirche. Gottesdienste feiern im konfessionslosen Raum.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 184 S. = Beiträge zu Liturgie und Spiritualität, 30. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-05144-1.

Rezensent:

Ralph Kunz

Das 20. Fachgespräch des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD drehte sich um die Frage, wie Gottesdienste im konfessionslosen Raum gefeiert werden können. Der Tagungsband versammelt die dort gehaltenen Vorträge als Essays, die im Vorwort von Christian Lehnert mit auffälliger Bescheidenheit und zugleich mit prophetischem Gestus eingeleitet werden:
»Natürlich ist mit diesen Beiträgen nur ein erster, vorsichtiger Schritt getan und viele neue Fragen eröffnen sich, unbeschrittene Denkwege und Aufgaben. Reflexion fällt schwer, wo wir selbst Teil einer rasanten Bewegung sind, die uns mit sich fortnimmt. So versteht sich dieses Buch als Sensor in einer verwickelten Situation, die in den nächsten Jahren alle liturgiewissenschaftliche Aufmerksamkeit verlangen wird.« (6)
Die neun Texte lassen sich in drei Bereiche gruppieren: Die ersten Beiträge traktieren die gesellschaftliche und liturgische Situation in grundsätzlicher Weise. Daniel Weidner referiert und kommentiert neuere Ansätze der Säkularisierungstheorie (9–23), Michael Meyer-Blanck skizziert den »Raum des Unbekannten« als Leitmetapher für ein prinzipiell liturgiedidaktisches und fundamentalliturgisches Konzept (25–36). Die folgenden drei Beiträge widmen sich dem Kirchenraum: Gregor Giele geht auf den Neubau der Leipziger Propsteikirche St. Trinitatis unter dem Gesichtspunkt der Heterotopie ein (37–42), Peter Zimmerling reflektiert das Ineinander und Nebeneinander von Kirche und Aula am Beispiel der neuen Universitätskirche St. Pauli in Leipzig (43–58). Was Giele und Zimmerling anhand der konkreten Kirchbauprojekte bedenken, wird von Stefan Böntert theoretisch abgehandelt. Kirchenbauten in der Gegenwart werden zum Gegenstand einer Kontroverse zwischen den theologischen Idealen eines Sakralbaus und den Erwartungen einer säkularen Öffentlichkeit (59–77). In eine ganz andere Richtung gehen die Überlegungen von Matthias Krieg, der in Form einer tentativ-analytischen Rede die Liturgiewissenschaft an ihre lebensweltliche Aufgabe erinnert. Mit »blue religion« ist das Konzept einer urbanen, postkonfessionellen Religiosität vorgestellt (79–109). Emilia Handke erkundet liturgische Transferprozesse im Kontext mehrheitlicher Konfessionslosigkeit und kommt auf ein ähnliches Fazit wie Krieg. Sie fordert Mut und Kreativität zu intermediären Ausdrucksformen, um Religion in unterschiedlichen Kontexten aus dem Bereich der »Sondergruppensemantik« zu lösen und Angebote zu entwickeln, die religiöse Suchbewegungen zu fördern vermögen (111–127). Einen Kontrapunkt setzt Konrad Müller. Der Leiter des Gottesdienst-Instituts der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern hatte die Aufgabe, die anderen Referate zu kommentieren. Seine philosophischen Ausführungen zur Pluralität münden in eine linguistische Unterscheidung, die ihn für den Gottesdienst als »Symbol der Locality« plädieren lassen (129–167). Schließlich hat Alexander Deeg als Mitherausgeber die nicht ganz einfache Aufgabe übernommen, die verwickelte Reflexion der verwickelten Situation mittels Thesen und Fragen für die weitere Diskussion zu bündeln (169–183). Dabei kommen Grundspannungen zum Tragen, die in den anderen Beiträgen zum Teil implizit und zum Teil explizit schon angesprochen wurden: die Spannung zwischen der Logik der Angebote, die den Konsumenten bewirbt, und der Mission, die zur Nachfolge ruft; die Spannungen in einer Typologie des Gottesdienstes, der den Alltag in der Welt im Blick hat, intermediäre Ausdrucksformen bereitstellt, aber auch zur Feier des Gottesgeheimnisses einlädt; die Spannung zwischen der Einheit des Gottesdienstes und der Vielfalt seiner Klanggestalten sowie die Spannung zwischen dem Eigenen der christlichen Feier und der permanenten Aushandlung des Religiösen. – Die Disparatheit der Beiträge gibt ein beredtes Zeugnis davon, wie »verwickelt« sich die Diskussion gestaltet.
Daniel Weidner, stellvertretender Direktor des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung der Humboldt-Universität zu Berlin, geht der Frage nach, ob und inwiefern unsere Gesellschaft als säkular beschrieben werden kann. Mit Blick auf die synthetischen Beiträge des Bandes kann das Einleitungskapitel auch als Anfrage gelesen werde. Auf welcher Grundlage lässt sich plausibilisieren, was Meyer-Blanck, Krieg und Handke ausführen? Inwiefern kehren in der konkreten und theoretischen Auseinandersetzung um einen zeitgemäßen Kirchenbau Positionen der Säkularisierungsdebatte wieder? Weidners kritische tour d’horizon einiger grundlegender soziologischer, philosophischer und kulturwissenschaftlicher Werke der 2000er Jahre schärfen den Blick für die Unschärfe des Säkularisierungsbegriffs – ein wenig überraschender Befund! Zeigen sich doch analog diffuse Bestimmungen hinsichtlich der Religion. Frei nach Goethe stellt Christian Grethlein die Frage: »Wie hast Du’s mit der Säkularisierung?« Oder mit den Worten Weidners: »Letztlich ist es wohl gerade die so oft kritisierte Unschärfe des Konzepts ›Säkularisierung‹, die es gleichermaßen unbefriedigend wie unentbehrlich macht. Denn anders als die Alternativbegriffe, die ›Säkularisierung‹ ersetzen sollen – Modernisierung, Dechristia nisierung, Individualisierung – umschließt gerade die Idee der Säkularisierung ganz verschiedene Gegenstandsfelder und Diskurse und hält so ein Problem offen, das sich der disziplinären Einengung entzieht.« (21) Weidner sieht bei den vorgestellten Autoren einen Konsens. Säkularisierung könne man nicht als einen notwendigen, unilinearen Prozess verstehen. Das sei zu einfach. »Aber diese Kritik ist selbst ›zu einfach‹.« (Ebd.) Letztlich gehe es um das Eingeständnis, dass sich der Diskurs in der Grauzone zwischen zwei Überzeugungen befinde: der Erkenntnis, dass keine neue Meistererzählung in Sicht ist, und der Erkenntnis, dass auch die Polemik gegen Meistererzählungen diese Lücke nicht füllen kann.
In dieser Zone herrscht notwendigerweise eine gewisse Konfusion, um nicht zu sagen Konsternation. Sie zeigt sich nicht nur in den philosophischen Debatten, sondern auch in den kultur- und sozialwissenschaftlichen Fortsetzungen und folglich auch in der praxisorientierten Liturgik. Die Forderung an die Kirche, sich beherzter in die lebensweltlichen Zonen außerhalb des eigenen Milieus einzulassen, lässt sich mit theoretischen Anleihen der wissenssoziologischen Gesellschaftsanalyse samt ihrem weichen Sä­kularisierungskonzept gut begründen. Religion ist nicht nur eine Angelegenheit für Liebhaber der kirchlichen Tradition. Die Forderung wiederum, das Eigene nicht ins Beliebige aufzulösen, kann sich auf das systemtheoretische Argument einer grenzbestimmten Immanenz-Transzendenz-Differenz berufen. Wo Religion anfängt und wo sie aufhört, soll nicht verwischt werden.
Beides zeigt diese Aufsatzsammlung: die unbefriedigende Unentbehrlichkeit der Säkularisierungsdebatte und das unvermeidbar Unbefriedigende einer Liturgik, die sich sowohl für das System Kirche als auch die (säkulare) Umwelt zuständig erklärt. Dazwischen ist Raum für kreatives Weiterdenken: intermediäres Experimentieren, wie dies Krieg und Handke eindrücklich ausloten, aber auch Fremdgänge und Tiefenbohrungen ins Unbekannte, wie dies Meyer-Blanck in seinem höchst lesenswerten Plädoyer für die Überführung von Bestimmtheit in eine produktive Form der Unbestimmtheit ausführt. Wer in einer verwickelten Situation von einem Band mehr erwartet, bleibt unbefriedigt, wer ein wenig länger nachdenkt, kommt zum Schluss, dass genau solche anstrengenden Reflexionsübungen im Kontext konfessionsloser Gesellschaften in Gottes Namen unentbehrlich sind.