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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

1003–1005

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Lauster, Jörg, Schmiedel, Ulrich, u. Peter Schüz [Hrsg./Eds.]

Titel/Untertitel:

Liberale Theologie heute – Liberal Theology Today.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. VIII, 401 S. = Dogmatik der Moderne, 27. Kart. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-157660-7.

Rezensent:

Julius Trugenberger

Der Sammelband geht zurück auf eine im Jahr 2018 abgehaltene Münchner Tagung. Er umfasst nicht weniger als 30 Einzelbeiträge. Ihnen gemein ist, dass sie aus verschiedenen Perspektiven gegenwärtige Themen, Herausforderungen und Konstellationen liberaler Theologie in den Blick nehmen. Das geschieht unter dem Vorzeichen, dass sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jh.s der theologische Programmbegriff »liberale Theologie«, der historisch in Debatten des deutschen Protestantismus des ausgehenden 18. (Semler) und 19. Jh.s (Schleiermacher, Rothe) wurzelt, nicht mehr allein auf den deutschsprachigen Raum eingrenzen lässt. Liberale Theologie ist im 21. Jh., wie der Herausgeber Jörg Lauster zu Recht betont, längst zu einem »internationalen Faktor« (1) geworden. Theologen weltweit tragen in Abhängigkeit von den religiös-kirchlichen Traditionen sowie den politischen bzw. gesellschaftlichen Gegebenheiten ihrer Herkunftsländer jeweils höchst unterschiedliche Fragestellungen an die Tradition des theologischen Liberalismus heran. So ist etwa »Erfahrung«, wie Jayne Svenungsson (23–48) zeigt, für den theologischen Diskurs in Skandinavien, der immer noch stark vom Erbe der dortigen Lutherrenaissance geprägt ist, ein Brückenbegriff zu liberaltheologischen Traditionen. Im angloamerikanischen Kontext hingegen, den Gary Dorrien (9–21) und Mark D. Chapman (61–72) behandeln, hat der Erosionsprozess der klassischen civil religion das Selbstbewusstsein der Vertreter liberaler Theologie erschüttert, die in der Vergangenheit erheblich am Aufbau jener Zivilreligiosität mitgewirkt hatten. In den Ländern Ostasiens wiederum begegnet man dem Phänomen, dass dort der Begriff »Liberalismus« häufig mit Individualismus und westlichem Hegemonialdenken gleichgesetzt wird – ein schlechtes Vorzeichen für eine produktive Rezeption der deutschsprachigen Klassiker liberaler Theologie. Diese wird dementsprechend, wie Sung Kim (73–82) zeigt, in Ostasien häufig in einer einseitig negativen Perspektive verstanden, die nicht selten derjenigen Karl Barths ähnelt.
Ein Kernanliegen liberaler Theologie ist seit jeher die historisch-kritische Selbstaufklärung des Christentums. Im Band wird diesem Anliegen dadurch entsprochen, dass bekannte Autoren in eher ungewohnter Perspektivierung diskutiert werden: so etwa der Reformator Melanchthon, der von Ann-Kathrin Armbruster (85–97) fruchtbar in Beziehung gesetzt wird zum späteren theologischen Liberalismus, oder der Neuprotestant Emanuel Hirsch, der von Arne Lademann (143–152) besprochen wird unter der Fragestellung »Wie autoritär kann liberales Denken sein?«. Erhellend sind auch die Ausführungen von Manfred Svensson (99–109) zum ekklesiologischen Kontraktualismus bei John Locke. Nicht allen Beiträgen gelingt es jedoch im gleichen Maße, einen überzeugenden thematischen Bezug zum Oberthema der Tagung herzustellen. Kritisch anfragen kann man etwa, was die durchaus gekonnte wechselseitige subjektivitätstheoretische Erhellung der religionsphilosophischen Ansätze Leo Baecks und Emanuel Hirschs durch Friedemann Barniske (131–142) im Oberkapitel »Liberale Theologie in histo-rischer Perspektive« zu suchen hat. Hier zeigt sich eine gewisse Schwäche des Bandes: Zwischen zwei Buchdeckeln finden sich inhaltlich sehr disparate Aufsätze, die auch durch die Oberkapitel nur notdürftig zusammengehalten werden.
Eine klare Stärke ist jedoch, dass in dem Band auch solche Beiträge zu finden sind, die bewusst Kritik an der Tradition liberaler Theologie üben. Isolde Karle (243–255) etwa wirft der liberal orientierten Theologie eine tiefsitzende »Gemeindedistanz« (245), ja eine weitgehende »Verachtung der [parochialen] Kirchengemeinden« (244) vor. Das überzogene »Kirchenbashing« (247) der liberalen Theologie gefährde freilich deren »Pluralismusfähigkeit« (245), denn zur pluralistischen Gesellschaft des 21. Jh.s gehörten auch Menschen, die sich der Kirche eng verbunden fühlten.
Markus Buntfuß (291–301) macht auf ein historisch gewachsenes Defizit des liberalen Protestantismus aufmerksam: Aus der engen Liaison zwischen liberalem Protestantismus und politischem Borussianismus im 19. Jh. resultiere eine »eigentümliche Sprachlosigkeit für die kulturelle Vielfalt des öffentlichen Lebens, das über die Bereiche von Staat und Recht sowie von Politik und Militär hinausgeht« (299). Buntfuß plädiert vor diesem Hintergrund für eine Erweiterung des liberalen Protestantismus um eine ästhetische Perspektive.
Reiner Anselm (341–350) wiederum beschäftigt sich mit den problematischen Nebenfolgen eines nicht mehr kritisch hinterfragten Liberalismus in der Ethik – und zwar konkret anhand der medizinethischen Debatte um neue Verfahren einer nichtinvasiven Pränataldiagnostik, die schnell und unkompliziert Auskunft über die genetische Ausstattung des Ungeborenen geben. Nichtinvasive Verfahren seien im Unterschied zur Fruchtwasserpunktion für eine Schwangere ohne größere Belastungen. Würden nun nichtinvasive pränatale Tests etwa auf Trisomie 13, 18 und 21 bei (Risiko-) Schwangerschaften zur Routine, dann könne schnell ein gesellschaftliches Klima entstehen, »in dem es eben gerade nicht mehr möglich ist, sich frei für oder gegen eine pränatale genetische Diagnostik zu entscheiden« (345).
Interessant auch die Erwägungen von Christian Albrecht (391–400) zum Programm einer liberalen Praktischen Theologie der Gegenwart. Albrecht diagnostiziert gravierende gesellschaftliche Veränderungen, die Modifikationen an der bisherigen liberalen Programmatik notwendig machten. In erster Linie gehe es um das Eingeständnis, dass durch fortschreitende Individualisierung »[d]ie funktionale Zuordnung der Kirche zum Einzelnen […] sich gewandelt« (397) hat. Kaum mehr verlangten die Menschen von der Kirche, »beim Aufbau einer persönlich verantworteten religiösen Überzeugung produktiv begleitet zu werden« (396). Die Beziehungen seien loser. Die Menschen erwarteten von der Kirche, dass sie all das an Traditionen, Geschichten und Bildern pflege und kul- tiviere, was sie selbst gerade nicht benötigten. »[W]ie eine gute Bibliothek oder eine wohlsortierte Apotheke: zuverlässig, voraussehbar, auf Abruf, unaufdringlich« (397) möge die Kirche sein. Für Albrecht folgt aus diesem Befund – nachvollziehbar, aber dennoch überraschend –, dass die Kirche »sich selbst sehr viel stärker über Inhalte zu präsentieren« (ebd.) habe. Zugleich gewinne die Pastoraltheologie weiter an Bedeutung.
In der Summe gilt: Der Band dokumentiert gut die Polyphonie der liberalen Theologie der Gegenwart; er zeigt, dass es nicht mehr das eine Paradigma liberaler Theologie in Dogmatik und Ethik gibt. Nicht zuletzt offenbart er freilich auch eine gewisse Unsicherheit in der Frage, wie es um das Schicksal des theologischen Liberalismus im weiteren Verlauf des 21. Jh.s bestellt sein wird. Was in den Band keinen Eingang gefunden hat, ist eine Bestimmung des gegenwärtigen Verhältnisses zwischen theologischem und politischem Liberalismus. Über diesbezügliche Analogien nachzudenken wäre spannend, denn auch in der politischen Debatte der Gegenwart begegnen sowohl der Abgesang auf den Liberalismus als auch die Proklamation, der Liberalismus habe seine beste Zeit noch vor sich. Leider wird auch nicht das Gespräch mit der Soziologie der Gegenwart (etwa Andreas Reckwitz) gesucht. Und es fehlt auch die Auseinandersetzung mit heutigen Vertretern des liberalen Reformjudentums, was freilich ein von protestantischer Seite aus kaum erschlossenes Feld ist. All diese Punkte schwächen aber mitnichten den guten Gesamteindruck.