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Ausgabe: | Oktober/2020 |
Spalte: | 993–995 |
Kategorie: | Systematische Theologie: Dogmatik |
Autor/Hrsg.: | Dalferth, Ingolf U. |
Titel/Untertitel: | Sünde. Die Entdeckung der Menschlichkeit. |
Verlag: | Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 432 S. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-374-06351-2. |
Rezensent: | Notger Slenczka |
Dass Totgesagte länger leben, ist eine Einsicht, die auch für Lehrstücke gilt, die, wie die christliche Sündenlehre, seit Jahrhunderten für obsolet gehalten und schon häufig mit den unterschiedlichsten Argumenten mehr oder weniger pietätvoll zur letzten Ruhe geleitet wurden. Mit der Sünde sollte ›Schluss‹ sein, so zuletzt Klaas Huizing und sein (diskussionswürdiger!) Vorschlag, die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen in seiner Statusangst und damit in einer Schamthematik zu sehen und entsprechend den Tod Christi als Anleitung zum Statusverzicht zu deuten. Die Auseinandersetzung mit der Kritik an der Sündenlehre und den dadurch motivierten treffenden oder das Thema verfehlenden Transformationsversuchen (III; 221–326) und Dekonstruktionen (IV; 327–390) nimmt einen Großteil des hier vorzustellenden Werkes von Ingolf U. Dalferth ein. Dabei ist diese Auseinandersetzung geleitet von der Einsicht, dass die Kritik an der Sündenlehre ihren berechtigten Anlass in Verfehlungen des Themas und der Aufgabe einer plausiblen Entfaltung hat, die im Verlauf der theologischen Entfaltung der Aspekte der Sünde (II; 130–220) immer wieder unterlaufen sind, so dass der Weg von den »ferne(n) Erinnerungen« an die theologische Tradition (I; 19–129) und deren Explikation (II) zur Wiedergewinnung des »Sinn(es) der Sünde« (V; 391–418) eben über die Auseinandersetzung mit theologischen (Fehl-)Deutungen und deren außer- und innertheologischen Folgen verläuft (III–IV).
1. Es ist eine der eigens zu notierenden Stärken dieses Buches, dass D. im Laufe der genannten Kapitel einen ganz ausgezeichneten Überblick über die Knotenpunkte der Dogmen- und Theologiegeschichte der Sündenlehre bietet und dabei sehr präzise und klare Darstellungen einzelner Positionen bietet, auch dann, wenn er diesen Positionen widerspricht: etwa zu den biblischen Grundlagen vom Alten Testament bis zu Paulus (64–79); oder die Darstellung der Sündenlehre des Augustin (130–140); des Thomas von Aquin (158–168), Kants (263 ff.), Kierkegaards (277–294) oder Schleiermachers – das ist wirklich glanzvoll. Diese Darstellungen sind jeweils integriert in einen durchlaufenden Gedankengang, in dem die Positionen als Beiträge zu einer systematischen Fragestellung zu stehen kommen.
2. D. verortet die Rede von der Sünde im Zusammenhang der Möglichkeit der Unmenschlichkeit und so im Rahmen der Frage nach der Bestimmung des Menschen. Er begründet im Zusammenspiel der Kapitel die These, dass die christliche Rede von der Sünde unverzichtbar ist für die Bestimmung der Menschlichkeit des Menschen, d. h. für die Bestimmung nicht nur der Kriterien, nach denen wir Menschen uns von anderen Lebewesen unterscheiden, sondern auch der Kriterien, nach denen wir ein menschenwürdiges Leben identifizieren und von einem menschlichen Leben unterscheiden, das das Ideal der Menschlichkeit unterbietet. Diese Bestimmung dessen, was ein ›wahrhaft‹ menschliches Leben ausmacht, ist aufgespannt zwischen strittigen normativen Idealen. Die theologische Sündenlehre – das ist die Generalthese D.s – sieht das menschliche Leben diesseits dieser Ideale und Ansprüche auf Gestaltungen des Soseins des menschlichen Lebens unter dem Vorzeichen der Anerkennung bzw. Nichtanerkennung des Gegebenseins des menschlichen Lebens. Die christliche Rede von der Sünde, die nach D. von den anderen monotheistischen Religionen im Wesentlichen geteilt wird, mahnt die Selbstunterscheidung vom gebenden Grund des eigenen Lebens an und stellt damit alle normativen Ideale der Gestaltung des menschlichen Lebens unter den Vorbehalt der Verfehlung, die eintritt, wenn diese Selbstunterscheidung in Vergessenheit gerät. Sünde ist entsprechend die Verweigerung der Anerkennung der Angewiesenheit auf Gott.
3. Damit ist die mit ›Sünde‹ bezeichnete Grundstruktur begründet in der Einsicht in eine anthropologische Grundstruktur, die Schleiermacher als Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit oder Luther als ›sich alles Guten Versehen‹ bezeichnet; damit wird zugleich durchsichtig die Zuordnung des Sündenbegriffs zum Gottesverhältnis nachgezeichnet, die seit dem 19. Jh. eingeschärft wurde mit dem Ziel, eine moralisierende oder eine rein am menschlichen Tun orientierte Verkürzung des Sündenbegriffs zu vermeiden: Sünde betrifft das Gottesverhältnis (etwa 53.80.105.177 ff.). Auf der anderen Seite erhebt D. allerdings den Anspruch, dass die Erscheinungen der zwischenmenschlichen Unmenschlichkeit ihren Grund finden in diesem Selbstmissverständnis des Menschen.
4. Diese Einsicht in das Wesen der Sünde wird zum Kriterium des Umgangs mit der theologischen Explikation und philosophischen Reformulierung des Sündenbegriffs ebenso wie zur Grundlage der Auseinandersetzung mit der Kritik an der christlichen Sündenlehre und deren Dekonstruktion. D. unterscheidet zwischen der deutenden Aneignung des Sündenbegriffs und der Dekonstruktion desselben, die den Anspruch erhebt, »bessere Antworten auf die Probleme zu finden, um deren Lösung sich die dekonstruierte Gedankenfigur [im Anwendungsfall: die Lehre von der Sünde; N. Sl.] bemühte« (327). Hier finden sich ganz ausgezeichnete Auseinandersetzungen mit Nietzsche, den Gender- und Dekolonisierungsanliegen, die jeweils als (impliziter) Umgang mit den Problemen gedeutet werden, die eine Sündenlehre zur Sprache bringt, aber die Problematik immer an dem Punkt verfehlt, an dem Menschen die Fähigkeit zur Selbstgestaltung ohne Anerkennung seiner fundamentalen und konstitutiven Angewiesenheit zugetraut wird (etwa: 380.386 f.) mit Folgen, die in Widerspruch zu den ursprünglichen Anliegen dieser Positionen treten (etwa 369 f. u. ö.).
5. Drei kritische Anmerkungen seien erlaubt – es sind lediglich untereinander zusammenhängende Thesen, die der Entfaltung bedürften: Zum einen verstehe ich bei aller Zustimmung zu D. nach wie vor die von dem nur einmal genannten Karl Barth übernommene Grundfigur nicht, dass »die Sünde […] immer von ihrer Überwindung durch Gott her zu thematisieren« ist (105 u. ö.; diese These vertritt übrigens auch Schleiermacher, und das löst nebenbei einige der Probleme, die D. [212–220] notiert!). (Nicht nur) mein Einwand: die Überwindung der Sünde setzt diese voraus, und ein
Das bedeutet – und dies ist der dritte Punkt: Es gibt eine Rede von der Sünde nur unter der Bedingung menschlicher Reflexivität. Das ist trivial (jede Rede impliziert einen Redenden), aber es besagt: Die Abhängigkeit von Gott und ihr Verfehlen ist kein Sachverhalt. Der Dativ, der nach D. dem Nominativ vorausgeht (44), ist keine Formulierung, der das ›Ich‹ als im anderen seiner selbst begründet erweisen könnte. Vielmehr gibt es den »Dativ« nur als Bewusstsein des Beschenktseins und so unter der Bedingung der Möglichkeit des Nominativs (ich). Dieser Einwand notiert eine Anfrage an die durchgehende Reserve D.s gegen eine theologische Subjektivitätstheorie. Die Abhängigkeit von Gott ist eben kein Zustand, sondern eine Bestimmtheit des Ich, und das gilt mehr noch für die Sünde, wenn sie denn in einer mangelnden Anerkennung der Abhängigkeit bestehen soll. Sünde ist in diesem Sinne eine Bewusstseinsbestimmung – was nicht heißt, dass sie eine explizit thematisch bewusste Bestimmung wäre oder irgendwie in der Verfügung des Subjekts stünde. Die Einsicht, auf die die erwähnte hamartiologische Reflexion führte und führt, ist die, dass der Mensch im Zentrum seiner Selbstbestimmung unfrei ist, wie ich anderweitig versucht habe zu zeigen.
6. Mit diesen Anmerkungen ist aber auch sofort deutlich, dass D.s Werk zur Sündenlehre vielfach vernetzt ist mit seinen Arbeiten zur Gotteslehre und zur Fundamentalanthropologie, auf die implizit etwa die Verortung der Rede von Gott als Orientierungsphänomen und im Kontext der Deutung des Wortes Gott als Indexbegriff (96.276) verweisen. Auch und gerade in diesem Zusammenhang gelesen verdient das opus – unbeschadet der genannten Anfragen – das Prädikat eines wirklich großen Werkes.