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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

989–991

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Weber, Max

Titel/Untertitel:

Gelehrtenbriefe 1878–1920. Hrsg. v. R. Aldenhoff-Hübinger u. E. Hanke. M. e. Einleitungsessay v. G. Hübinger.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XXVII, 267 S. m. Abb. = Max Weber – Ausgewählte Briefe 2. Geb. EUR 29,00. ISBN 978-3-16-157516-7.

Rezensent:

Konrad Hammann

In erfreulich kurzer Frist sind nach den »Reisebriefen« Max Webers nun diese »Gelehrtenbriefe 1878–1920« als zweiter Teil einer für ein breites Lesepublikum berechneten Auswahlausgabe von Webers Korrespondenzen erschienen. Die von Rita Aldenhoff-Hübinger und Edith Hanke für diesen Band ausgesuchten, zuverlässig edierten und mit kurzen Einleitungen versehenen Briefe vermitteln einen ausgezeichneten Eindruck von ihrem Autor und der von ihm über mehr als vier Jahrzehnte gepflegten Briefkultur. Gangolf Hübinger gibt in seinem einleitenden Essay in Anknüpfung an das Webersche Briefzitat »von Beruf: Gelehrter« eine Einführung in das spannungsreiche Gelehrtenleben Webers in seiner Zeit und damit auch in diesen Briefband. Er erläutert ebenso kundig wie anregend die drei Segmente, in denen Weber lebte und wirkte: den Bereich seiner persönlichen Lebensgestaltung, sein Engagement als teilnehmender Beobachter und Kommentator der politischen Entwicklungen im Kaiserreich und in der frühen Weimarer Republik sowie die Wissenschaft als sein eigentliches, weit ausgreifendes Betätigungsfeld. Auch wenn Weber diese drei »Lebensordnungen« in seiner faktischen Lebensführung nicht voneinander zu separieren vermochte, helfen sie, sein Denken und Wirken unter je besonderen Aspekten zu erfassen und in diesem Auswahlband seine reiche Korrespondenz zu ordnen und übersichtlich zu präsentieren. Zu diesem Zweck sind jedem der drei Bereiche ein charakteristisches Foto sowie eine chronologische Übersicht der wichtigsten Stationen in jenen Segmenten »Lebensführung«, »Politik« und »Wissenschaft« vorangestellt.
Die Korrespondenz Max Webers gibt eine immense Fülle an Aktivitäten und Interessen zu erkennen, die in diesem Rahmen nicht einmal annähernd vorgeführt werden kann. Auffällig ist – in allen Segmenten – die durchgängige Bedeutung der Religion für Weber, ein Sachverhalt, der hier an einigen Beispielen in lockerer Reihenfolge illustriert werden mag. Der Einjährig-Freiwillige gibt seinem jüngeren Bruder Alfred 1884 zu dessen Konfirmation Nachhilfeunterricht, wie das Christentum am besten zu verstehen und zu praktizieren sei: als eine von jedem Christen selbständig anzueignende universale Religion, die aller Kultur zugrunde liege und die jedes christliche Gemeindemitglied dazu verpflichte, an der Weiterentwicklung der Kultur und damit der ganzen Menschheit mitzuwirken. Der Heidelberger Student tauscht sich 1885 mit seiner tiefreligiösen Mutter Helene Weber, geb. Fallenstein, über die ethischen Implikationen der Theologie des amerikanischen unitarischen Theologen William Ellery Channing aus. Er schätzt sich 1909 gegenüber seinem Kollegen Ferdinand Tönnies als »religiös ›unmusikalisch‹« ein, bezeichnet aber aufgrund seiner Erfahrungen im Heidelberger Eranoskreis den Beitrag der Theologen und Religionshistoriker zur Erforschung der Kulturgeschichte als un­entbehrlich, zumal bei der Erfassung religiöser Phänomene, für die die »Fähigkeit diese psychischen Zustände zu erleben« unbedingt erforderlich sei (56). Aus gegebenem Anlass distanziert er sich 1910 von »den durch das Christentum verschuldeten Vorurteilen« im Zusammenhang mit der ethischen Beurteilung des Suizids (62); unter bestimmten Umständen müsse man Verständnis aufbringen, wenn jemand in ausweglos erscheinender Lage seinem Leben ein Ende bereite.
Auch auf dem Feld der Politik bezieht Weber Stellung zu religiösen Themen, zunächst in Briefen an seinen Onkel Hermann Baumgarten, den nationalliberalen Straßburger Historiker, der für seinen Neffen den geeigneten Adressaten für dessen Einschätzung historischer und gegenwartsbezogener politischer Fragen abgibt. Seine »angenehme Berichterstattungsverpflichtung« seinem On­kel gegenüber erfüllend (102), begrüßt Weber 1891 das soziale Engagement jüngerer evangelischer Geistlicher, mit dem sein Vetter Otto Baumgarten ihn vertraut gemacht hat. Er vermutet, dass solche Aktivitäten der Theologen auf dem sozialen Gebiet das überaus distanzierte Verhältnis vieler »Laien«, besonders der »jüngere[n] Beamten« zur verfassten Kirche aufbrechen könnten (112). Allerdings bekräftigt er im Dezember 1896 in einem Brief an Martin Rade die heftige Kritik, die er wenige Wochen vorher auf der Gründungsversammlung des Nationalsozialen Vereins gegen dessen seines Erachtens verfrühte Gründung und programmatische Ausrichtung geübt hat. Zwar weiß Weber sich Friedrich Naumann und dessen politischen Zielen – unbeschadet mancher Differenzen hin sichtlich der »letzten Ideale und Voraussetzungen« (121) – verpflichtet, aber dies hindert ihn nicht daran, sein kräftiges Veto gerade dann einzulegen, wenn er sieht, dass politisch ahnungslose Pfarrer »ihre Hand an das Steuerruder des Staatsschiffes legen« wollen (119).
Zur Korrespondenz, die in diesem Band dem Bereich der Wissenschaft zugeordnet ist, gehört zunächst ein Brief, in dem Weber seinem Onkel Adolf Hausrath, dem in Heidelberg lehrenden Kirchenhistoriker, 1896 seine Vorbehalte gegen die politischen Ambitionen Naumanns erläutert. Sodann sind in diesem Segment mehrere Schreiben Webers abgedruckt, die im Zusammenhang mit seinen beiden Aufsätzen »Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus« und seinen Studien über die »Wirtschaftsethik der Weltreligionen« stehen. Mit den Nationalökonomen Lujo Brentano und Gerhart von Schulze-Gaevernitz sowie dem Politiker und Publizisten Eduard Bernstein tauscht er sich über Themen und Fragen im Umfeld seiner »protestantischen Ethik« aus, über die Puritaner, die Quäker, überhaupt die englischen Sekten und den Calvinismus. Gegenüber Adolf Harnack beharrt er auf seiner (von Georg Jellinek übernommenen) Auffassung, die Moderne verdanke die Gewissensfreiheit und die Menschenrechte den Sekten, nicht Luther, der »für diese religiös betrachtet peripherischen Gesichtspunkte eine wesentlich negative Größe« bilde (188). Den Nationalökonomen Werner Sombart, dessen Kritik an seiner Protestantismusthese er nicht materialiter replizieren mag, weist er 1913 kühl nur darauf hin, dass er – im Unterschied zu seinem Kollegen – die Texte kenne, die er für seine Protestantismusstudien herangezogen habe. Am Ende der Sammlung sind unter anderem die Briefe abgedruckt, in denen Weber seinem Verleger Paul Siebeck seine Soziologie »Wirtschaft und Gesellschaft« sowie seine religionssoziologischen Aufsätze zur »Wirtschaftsethik der Weltreligionen« ankündigt.
In den »Gelehrtenbriefen« Max Webers ist über das Religionsthema hinaus natürlich noch vieles zu finden, was anregend, interessant und lehrreich ist, nicht nur im Hinblick auf das Denken und die Lebensbezüge ihres Autors, sondern auch hinsichtlich der Zeit, aus der diese Briefe stammen, jener Jahrzehnte um 1900, die im Rückblick als die Epoche der klassischen Moderne erscheinen (vgl. XII). Die vorliegende Sammlung lädt nicht zuletzt dazu ein, gegebenenfalls auch »so scharf wie möglich« gegen bestimmte Ansichten des Briefeschreibers Stellung zu beziehen (194).