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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

987–989

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Sommer, Marc Nicolas, u. Mario Schärli [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Ärgernis der Philosophie. Metaphysik in Adornos Negativer Dialektik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. IX, 326 S. = Collegium Metaphysicum, 22. Kart. EUR 70,00. ISBN 978-3-16-156652-3.

Rezensent:

Andreas Arndt

Metaphysik, so Adorno, sei »das Ärgernis der Philosophie« (vgl. 1). Ein Ärgernis, weil der Begriff der Metaphysik uneindeutig und weil von ihr, trotz der Notwendigkeit ihrer Kritik, nicht einfach abzusehen sei. Die Negative Dialektik bekundet daher der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes auch die Solidarität. Den Beiträgen des Bandes liegen die Vorträge einer Tagung zum fünfzigjährigen Erscheinen der Negativen Dialektik 2016 zugrunde, was deshalb zu betonen ist, weil diese Beiträge nicht strikt auf Adornos Metaphysikverständnis fokussiert sind, sondern das Konzept der Negativen Dialektik insgesamt in den Blick nehmen. Gerechtfertigt wird der auf das Metaphysikproblem zielende Titel des Bandes dadurch, weil »die Metaphysik […] ein Gravitationszentrum des Textes bildet, um das sich die anderen Themen der Negativen Dialektik gruppieren« (9). Die Einleitung des Mitherausgebers Marc Nicolas Sommer bietet zunächst eine Skizze der Metaphysikkritik mit dem Schwerpunkt auf den Umkreis der Frankfurter Schule (1–9); es schließen sich dann die nach vier Themenschwerpunkten gruppierten Beiträge an: Begriffskritik – Materialismus – Wahrheit und Geschichte – Das Absolute.
Die fünf Beiträge zum Thema Begriffskritik nehmen mehr als ein Drittel des ganzen Bandes ein; dabei geht es zentral um Adornos These vom Identitätszwang des begreifenden Denkens, das daher unfähig sei, das Nichtidentische angemessen zu erfassen, weshalb das begreifende Denken gegen sich selbst andenken müsse. Einen Frontalangriff auf diese These unternimmt Christian Iber (»Kritik jeglicher begrifflichen Bestimmung einer Sache. Wie geht das?«, 49–64), der Adorno mit Lyotard und Derrida in eine Reihe stellt, um eine Position kenntlich zu machen, »mit der sich ein an Erkenntnis interessiertes Denken nicht gemein machen sollte« (64). Iber attestiert Adorno »ein Denken, das ein Bündel theoretischer Fehler begeht, ein Denken, das die theoretische Aneignung der Wirklichkeit auf dem Wege der Subsumtion unter Begriffe be­treibt, die es an die Sache heranträgt, gleichzeitig aber behauptet, diese ergeben sich aus der Sache selbst« (58). Ibers Philippika legt zweifellos eine Widersprüchlichkeit des epistemologischen Konzepts der Negativen Dialektik bloß, welche Adorno für unhintergehbar hält. Tatsächlich ist ja das immer wieder angemahnte »Nichtidentische« im Denken nichts weiter als eine Kategorie, ein allgemeiner Begriff, der aber im Gegenteil für ein nichtbegriffliches Singuläres stehen soll und daher als Kategorie nicht bestimmt wird.
Ließe sich von hier aus der Vorwurf erheben, »Nichtidentität« stehe für eine verweigerte Reflexion, so behauptet Guido Kreis das Gegenteil: Er spricht von »›Nichtidentität‹ als Reflexionskategorie« (13–47) und unterscheidet dabei vier Stufen des Begriffs der Nichtidentität – vom unmittelbaren Begriff bis hin zur »wesentlichen Nichtidentität« (13). Auch Kreis konstatiert in seiner systematisch geleiteten Rekonstruktion eine Ambivalenz bei Adorno, sofern er die als Widerspruch bestimmte Nichtidentität explizit als Reflexionsstruktur des Denkens ansieht, implizit aber zugleich der Sache selbst zuschreibt (vgl. 28 f.). Gleichwohl lasse sich, so Kreis, Adornos Theorem der Nichtidentität unter der Annahme kohärent rekonstruieren, dass Nichtidentität beides sei, reflexionslogische Kategorie und »(wesentliche) Struktur der Sachen« (42). Damit lasse sich auch Adornos Hegel-Kritik begründen, die bestreite, »dass der Begriff alles ist, und […] kein Objekt nicht Begriff ist« (43). Zu bezweifeln ist freilich, dass dies wirklich Hegels Auffassung wiedergibt.
Tilo Wesche thematisiert im dritten Beitrag den Zusammenhang von »Erkenntnis- und Gesellschaftskritik bei Adorno« (65–76), wobei er ein Konzept von Dialektik in den Mittelpunkt stellt, »demzufolge Grund und Folge des Kapitalismus identisch sind« (76). Hier wäre es hilfreich gewesen, die Adorno mit Marx’ Auffassung zu konfrontieren, dass die Reproduktion des Kapitalverhältnisses auf äußere, nicht von ihm selbst gesetzte Bedingungen an-gewiesen bleibt, was Adornos These vom geschlossenen Verblendungszusammenhang prima facie widerspricht. – Philip Hogh rekonstruiert in seinem bemerkenswerten Beitrag das Verhältnis von Denken und Sache über Adornos Auffassung der Sprache (»Sprachformen. Zum Verhältnis von Philosophie, Rhetorik, Alltags- und Wissenschaftssprache«, 77–101), wobei er die Auffassung vertritt, Adorno gehe es um eine »kritische rettung der Alltagssprache für die Sprache der Philosophie« (93). Was das systematisch bedeuten könnte, erkundet Emil Anghern auf eindringliche Weise im letzten Beitrag des ersten Teils (»›Zu sagen, was nicht sich sagen läßt‹. Zwischen Transzendenz und Erinnerung«, 103–117). Adornos Dialektik ziele nicht auf ein Transzendieren des Sagbaren »nach oben« hin, auf ein die Erfahrung übersteigendes Absolutes, sondern auf ein Sagen des Unsagbaren »nach unten« hin, die Erinnerung des erfahrenen Leids.
Der zweite Teil beginnt mit Überlegungen zu Adornos kritischem Materialismus von Gunnar Hindrichs (121–144), der sich gegen die »Blindheit« der traditionellen Theorie gegenüber der »Bedingtheit des Tatsächlichen und die Bedingtheit der Theorie« (129) richtet. Der kritische Materialismus erkenne »Herrschaft« als Bedingung der gegebenen Wirklichkeit, »weil er sich als Einspruch des Materiellen gegen seine theoretische Erfassung geltend macht, die es in den funktionalen Rahmen dessen, was der Fall ist, stellt. Ein solcher Materialismus ist der Name für den Sachverhalt, dass die Theorie stolpert und darum kritisch werden muss.« (139) – Dirk Braunstein, Julia Jopp und Ansgar Martins charakterisieren Adornos Materialismus als »häretisch« (145–172), wobei bisher unveröffentlichte Seminarprotokolle zur Negativen Dialektik einbezogen werden. Leider bleibt die Darstellung weitgehend immanent, obwohl sich vielfach die Frage aufdrängt, ob Adorno in seiner Darstellung und Kritik anderer Positionen überhaupt Recht habe.
Auch der erste Beitrag des dritten Teils, Brian O’Connors »Adornos philosophische Wahrheiten und wir« (175–188), wehrt diese Frage eher ab, obwohl er Adornos Umgang mit »der« Philosophie zum Thema hat. Kann aber, so ist zu fragen, negative Dialektik, die sich wesentlich als Kritik der bisherigen Philosophie versteht und rechtfertigt, überhaupt systematisch stark gemacht werden, ohne diese Kritik historisch zu überprüfen? – Eine solche Überprüfung unternimmt Peggy H. Breitenstein im Blick auf Adornos Ausführungen zu »Weltgeist und Naturgeschichte« (»›Zu sagen, was der Mensch sei, ist absolut unmöglich.‹ Zugänge und Überlegungen zum zweiten Modell der Negativen Dialektik«, 189–216), indem sie Adorno von dessen Tillich- und Hegel-Lektüre her rekonstruiert.
Der vierte Teil wird von Axel Hutter eröffnet (»Kritische Metaphysik«, 219–236), der Adornos These der »Unausdenkbarkeit des Todes« in den Mittelpunkt stellt, indem er, unter Rückgriff auf Walter Benjamin, die »Erfahrung einer offenen und unabgeschlossenen Vergangenheit« (228) am Beispiel der Reue zur Geltung bringen will. – Mario Schärli (»Eine jede Philosophie dreht sich um den ontologischen Gottesbeweis. Die Spur natürlicher Theologie bei Adorno«, 237–278) ergänzt die dadurch gesetzte theologische Konnotation, indem er die »Unausdenkbarkeit von Verzweiflung« (263) in die Auffassung des Gottesgedankens als Utopie (265 ff.) münden lässt. – Marc Nicolas Sommer schließlich stellt die »Kritische Theorie als Phänomenologie des Absoluten« (279–313) vor; auch hier geht es um den utopischen Gehalt der Vernunft, wobei sich, so Sommers These, die »Reflexion auf das Absolute« als das »Programm der kritischen Theorie« in der Negativen Dialektik erweise (312).
Die Beiträge behandeln unterschiedliche Aspekte der Negativen Dialektik, ohne ein einheitliches Gesamtbild des Textes zu zeichnen. Sie machen deutlich, dass Adornos Voraussetzungen strittig sind, ein Befund, dem die Immanenz zahlreicher Interpretationen, die überhaupt ein Ärgernis der Diskussionen über Adorno ist, nicht gerecht zu werden vermag. Gleichwohl ist das Buch anregend für eine vertiefte Reflexion auch von bisher vernachlässigten Aspekten der Negativen Dialektik. Ein Namenregister wäre hilfreich gewesen.