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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

985–986

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schmitt, Arbogast

Titel/Untertitel:

Gibt es ein Wissen von Gott? Plädoyer für einen rationalen Gottesbegriff.

Verlag:

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2019. 251 S. = Studien zu Literatur und Erkenntnis, 17. Geb. EUR 26,00. ISBN 978-3-8253-4612-6.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Die Ambitionen und Intuitionen des hier zu besprechenden Buches kommen in der folgenden Passage treffend zum Ausdruck: »Die Vernunft, von der Aristoteles als Theologe spricht, ist nicht nur ein Postulat, das man machen muss, damit man an ein Ganzes von Sinn glauben oder Übereinstimmung unter den Partnern eines Konsenses erreichen kann. Sie ist, wie er mit guten Gründen dargelegt hat, aus einer Reflexion des Denkens auf seine eigenen Akte als Grundbedingung ihrer Vollzugsmöglichkeit aufgewiesen. Dass die Möglichkeit und die Fähigkeit der Teilhabe an einem koinós lógos vielfach erfahren und zuletzt als Grund der Möglichkeit rationaler Akte aufgewiesen werden kann, kann als sicher beglaubigt gelten.« (140) Etwas später erfahren wir, dass »ohne die von den Religionen […] geleistete Hinführung zu Gott ein gutes Leben weder für den Einzelnen noch für die Gemeinschaft erreichbar« sei (180).
Allerdings hat es dieses kleine abstract zum neuen Buch von Arbogast Schmitt, emeritierter Gräzist der Universität Marburg, offenbar in sich: Aristoteles wird als ein Theologe vorgestellt (wo-bei sein prominentestes Theologumenon, der Deismus, kaum vorkommt); die Vernunft verdanke sich einer Abduktion, damit Sinn und Konsens möglich seien (eine Wendung, die kantisches Kolorit trägt); darin aber gehe sie nicht auf, da sich die unbedingte und absolut sichere Realität der Vernunft aus ihren Vollzügen evident er-gebe (was eine Variante des Cartesischen Infallibilismus bildet); die menschliche Vernunft nimmt an einer allgemein-göttlichen Vernunft teil (was einen Hegelianismus ohne dessen historisch ambivalente Dialektik darstellt); und ohne diese Partizipation am Rational-Verbindlichen gebe es überhaupt kein individuelles oder kommunales Glück (wohinter ein Spinozistisches Motiv stecken könnte).
S. nimmt hier nicht nur zahlreiche Elemente aus der langen Tradition des philosophischen Rationalismus von Aristoteles bis zum späten Deutschen Idealismus auf, sondern kommt auch immer wieder auf Kapitel seines eigenen umfangreichen Werkes zwischen Antiker Philosophie und einem von dort aus entwickelten Rationalismus für heutige Zeiten zurück. Im Mittelpunkt steht dabei die Darstellung des Weges von elementaren Wahrnehmungen bis zum Anteilnehmen an der einen, für alle verbindlichen göttlichen Vernunft (19.23); oder stärker formuliert: Es gehe um den »Weg vom Anfang des Erkennens zur Erschließung einer göttlichen Vernunft als Ermöglichungsgrund rationalen Erkennens« (so der Untertitel des 2. Abschnitts). Damit sind die immer wieder eingespielten Gegenpositionen deutlich: Gegen einen auch nur vorsichtigen Skeptizismus wird »eine Reihe wirklich gesicherter Einsichten« vorgelegt (129); ähnlich der radical orthodoxy scheint auch hier der Nominalismus von Duns und Ockham der intellektuellen Kapitulation gleichzukommen (44.52); und die empiristische Tradition in ihren zahlreichen Verzweigungen sei insgesamt unfähig, die vollgültige Grundlage unseres Wissens zu liefern (14). Umgekehrt gewendet: Ein hermeneutisch informiertes, historisch sensibles und durch die Metaphysik und ihre Kritik wirklich hindurchgegangenes Denken kommt dann leider nirgends zum Zu-ge (siehe 156 und insgesamt den ahistorisch vorgehenden Ab­schnitt IV).
In der genaueren Nachzeichnung des skizzierten Weges vom Einzelfall zur Sicherung der dort gewonnenen Erkenntnis finden sich allerdings interessante Wendungen. In der Beschreibung konkreter Erfahrungen (etwa dem Hören von Tönen und deren Synthese zu einer Melodie; ähnlich bei visuellen Eindrücken, obgleich sich S. dann doch immer wieder auf geometrische Beispiele bezieht; 87.171) sei die Wahrnehmung »von sich aus« in der Lage, das genaue Etwas-Sein von etwas Wahrnehmbaren aus der Komplexität eines Arrangements »herauszulösen« (169); damit werde die Kluft zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt überwunden, weil das, was man hört, und das, was dieses Etwas hörbar macht, identisch seien (67.170). Und daher interpretiert S. die altehrwürdige Wahrheitsdefinition auch dahingehend, dass die adequatio nicht zwischen Aussage und Sachverhalt bestehe, sondern das wirkliche Wissen mit der erkannten Sache identisch sei (88.171 mit Bezug auf De anima). Das trifft sich mit neo-realistischen Positionen, die S.s metaphysica zwar überaus kritisch gegenüberstehen, aber ebenso an einer epistemologischen Rückgewinnung der Wirklichkeit interessiert sind (man denke an das 2015 erschienene Buch Retrieving Realism von H. Dreyfus und Ch. Taylor).
Theologisch wird es erst mit zwei weiteren Schritten, die in ihrer Summe die Frage des Titels bejahen: Ein Wissen von Gott kann es nicht nur geben, sondern es handle sich um die sicherste Erkenntnis überhaupt (25.172). Der erste Schritt besteht darin, dass der Weg zu Gott der Weg zu der einen, für alle verbindlichen Vernunft sei (111). Der analytische Rückgang auf das stets vorausgesetzte Sein selbst führe zur Erkenntnis: esse est Deus (172). Sein ist demnach nicht Gegen-Stand, sondern wirkt im Vollzug des Denkens, das sich zunächst selbst denken müsse als Grundakt jeden Erkennens (64). Das Transversale, historisch und kulturell Eingebettete, konzeptuell oder symbolisch Gebundene der Vernunft wird hier leider ausgeblendet (eine Geschichte, die Jürgen Habermas im zweiten Band seines neuen opus magnum im Gespräch mit Herder und Schleiermacher nochmals eindrucksvoll vorführt).
Der zweite Schritt versucht, die Personalität dieser göttlichen Vernunft zu erweisen. S. meint, man »rühre« an der singulär-verbindlichen Vernunft, welche nach Platon und Aristoteles nur personal (nicht aber anthropomoph) gedacht werden könne: »Wenn der Mensch durch seine Vernunft Person ist, kann das Sein der Vernunft selbst nicht apersonal sein« (172, auch 135). Was ist das für ein Argument? Wenn der Mensch durch seinen Körper Person ist, kann das Sein des Körpers selbst nicht apersonal sein (wenn x durch y z ist, kann das Sein von y selbst nicht non-z sein)? S. gibt den Schluss von der Vernunft über ihre Personalität auf Gott als personale Vernunft als »sicher und gerechtfertigt« aus (so 112). Und dann lässt sich auch schließen, dass der Glaube kein Für-Wahr-Halten meine, sondern das Vertrauen darauf, dass das, was man aufgrund der Teilhabe an der göttlichen Vernunft von Gott wissen könne, hinreichender Grund dafür sei, von Gottes unermesslichem Sein und Wirken sicher zu wissen (149). Abgesehen davon, dass die Personenhaftigkeit der ratio alles andere als auf diesem Weg erwiesen (oder auch nur verständlich) ist, bleibt unklar, wofür das Ins-Spiel-Bringen »Gottes« noch nötig ist, wenn man behauptet, die individuelle Vernunft nehme an einer allgemeinen Hyper-Vernunft Anteil. Entweder stimmt der Schluss nicht oder »Gott« ist hier faktisch selbst emeritiert.
Dieses »Plädoyer für einen rationalen Gottesbegriff« endet mit einem überraschenden Anhang zum Verhältnis von Evolutionsforschung und Evolutionstheorie, um Erstere zu begrüßen und Letztere in die Schranken zu weisen. Vielleicht ist dieses Buch als korrigierender Beitrag zur weithin post-theologischen Aristoteles-Forschung der Gegenwart gemeint. Doch als ein fruchtbares Kapitel zeitgenössischer Philosophischer Theologie hätte es sich nicht leisten dürfen, das Gespräch mit den Gegenstimmen zu verweigern. Eine »Hinführung zu Gott« ist weder hier noch in der stets vorausgesetzten, aber ganz praxislos bleibenden Religion geleistet worden. Und so ist zu hoffen, dass »ein gutes Leben« auch jenen »er­reichbar« sei, die an diesen Aristotelismus glauben.