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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

983–984

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kiesel, Dagmar, u. Cleophea Ferrari [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Willensfreiheit.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 2019. 258 S. = Orient und Okzident, 4. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-465-04344-7.

Rezensent:

René Dausner

Dagmar Kiesel und Cleophea Ferrari haben als Band 4 in ihrer Reihe »Orient und Okzident« einen Sammelband veröffentlicht, der eine interdisziplinäre Annäherung an das Problemfeld mensch-licher Willensfreiheit bietet. In den insgesamt neun Beiträgen, die auf ein Philosophie-Kolloquium an der Universität Erlangen-Nürnberg im Jahr 2017 zurückgehen, entstehen historisch sehr unterschiedliche Perspektiven auf das »Problem der Freiheit oder Unfreiheit des menschlichen Willens« (7). Gleichwohl sind alle Texte der Grundintention der Buchreihe verpflichtet, den Verflechtungen der beiden »Kulturräume« – Orient und Okzident – Rechnung zu tragen und »deren geistesgeschichtliche (Nach-)Wirkungen anhand der Darstellung und Analyse der Grundfragen der Philosophie hinsichtlich ihres Ursprungs in der Antike und ihrer Weiterentwicklung auf dem Wege über die arabische Diskussion bis in die Gegenwart zu eruieren.« (9)
In dem ersten Beitrag – nach dem editorischen Vorwort (7–15) – behandelt Peter Schulte das Thema: »Willensfreiheit als philosophisches Problem« (17–35). Dargestellt wird ein in der analytischen Philosophie verorteter Diskurs, der die »Willensfreiheitsdebatte« (18) hinsichtlich der Frage einer Vereinbarkeit menschlicher Willensfreiheit und der Annahme einer deterministischen Welt re­flektiert. Schulte arbeitet heraus, dass die unterschiedlichen Po­sitionen keine sprachlichen Spiegelfechtereien sind, sondern dass die je unterschiedliche Beantwortung der genannten Frage zu einer je unterschiedlichen Bewertung ethischer Verantwortlichkeit führt.
Die drei folgenden Beiträge untersuchen Konzeptionen von Willensfreiheit der antiken Philosophen Aristoteles, Cicero und Epiktet. Auch wenn Aristoteles – wie Béatrice Lienemann zeigt (37–56) – über keine terminologischen Bestimmungen des freien Willens oder des Willens überhaupt verfügt, sei bei ihm dennoch zwischen willentlichen und unwillentlichen Handlungen zu unterscheiden. Aristoteles gelinge es demnach, verantwortliches Handeln sowie »Phänomene wie Willensschwäche oder Willensstärke zu erklären, ohne ein separates Willensvermögen anzunehmen« (37), weil Aristoteles nicht nur kausalanalytisch die »Urheberschaft einer Handlung« berücksichtige, sondern zugleich auch die »Haltung einer Person ihrer Handlung gegenüber« (54).
Jörn Müller widmet sich in seinem Beitrag (57–82) der Frage, ob und, wenn ja, welche »Position der Willensfreiheit« (59) Cicero in seiner Schrift De fato vertreten habe. In sehr detaillierten Textanalysen und mithilfe philosophiehistorischer Referenzen erläutert Müller »Ciceros antifatalistische Position« (65). Ciceros Position bestehe darin, der handelnden Person die Kontrolle über die Handlung ebenso wie die »Handlungswahl« (59) zuzuschreiben. Hinsichtlich der Frage, ob die menschliche Person auch anders hätte handeln können, sei, so Müller, eine eindeutige Antwort nicht ratsam.
Eine kurze, aber sehr konzise Interpretation philosophischer Texte von Epiktet unternimmt Maximilian Forschner (83–100). Untersuchungsgegenstand bietet der Begriff prohairesis, dessen je nach Kontexten unterschiedliche Bedeutung sowohl »Denkfähigkeit« als auch »Entscheidungsfähigkeit« (85) meint und bis zur Identifikation »mit unserem Selbst« (98) reicht. Zur weiteren Profilierung des Begriffs zeigt Forschner die Unterschiede zur Philosophie von Aristoteles auf, der prohairesis als »genuin menschliches Prinzip des Handelns« (97) begreift; Epiktet hingegen bezeichne mit diesem Begriff das »Prinzip der Annahme aller Gedanken« (97). Freiheit werde demnach zu einer »Sache mentaler Einstellung und Akte« (98).
Neben den antiken Konzeptionen der Freiheit menschlichen Willens und Handelns bilden Freiheitsdiskurse im arabischen Denken der Spätantike und des Mittelalters einen zweiten Schwerpunkt der Publikation. Zunächst stellt Peter Tarras die »Willensfreiheit in syrischen und christlich-arabischen Quellen« (101–141) dar; im Zentrum stehen dabei Freiheitskonzeptionen eines syrischen Philosophen aus dem 2./3. Jh., Bardaisan von Edessa (109–117), des Theologen Ephräm der Syrer aus dem 4. Jh. (117–124) sowie des melkitischen Theologen Theodor Abu Qurra aus dem 8./9. Jh. (125–134). Tarras markiert – leider ohne Erläuterung – die Differenz dieser christlichen Konzeptionen zu arabisch-islamischen Konzeptionen, von denen einige im folgenden Beitrag »Willensfreiheit im Kontext der arabisch-islamischen Philosophie« (143–165) von Cleophea Ferrari skizziert werden. Ferrari gelingt – nicht zuletzt anhand der Analyse von Übertragungen griechischer Termini ins Arabische – eine Einbindung der arabisch-islamischen Diskurse über Willensfreiheit in die Philosophiegeschichte. Mit Blick auf das Verhältnis von Gott und Mensch kennzeichnet Ferrari die Diskussion der menschlichen Willensfreiheit als »Dreh- und Angelpunkt in der religiösen und politischen Geschichte des Islam« (160).
Eine thematische Vertiefung der Gott-Mensch-Relation bietet der nachfolgende, materialreiche Beitrag von Heidrun Eicher über »Willensfreiheit und Handlungstheorie« (167–196). Im Zentrum der Untersuchung stehen Handbücher islamischer Theologie aus dem 13. Jh. In detaillierten Einzelexegesen zeigt Eicher, dass die »Matrix ›Gottes Handlungsmacht‹ vs. ›Handlungsmacht des Menschen‹« (194) je nach islamischer Schulrichtung unterschiedlich zu bewerten sei.
Einen Kontrapunkt zu den bisherigen Texten bietet Eike Brock mit seinen Ausführungen über »Nietzsche und das Problem des Wollens« (197–219). Im Unterschied zu den anderen Beiträgen kommt mit Nietzsche der einzige Denker der Moderne zur Sprache; Ziel seiner Überlegungen sei eine »Vitalisierung des Willens« sowie die »Eroberung der Freiheit« (199). Als zentral erweise sich dabei der Gedanke, dass die »Lust des Willens, der sich als frei versteht,« »im Grunde ein Gefühl der Macht« sei (210).
Dagmar Kiesel und Sebastian Schmidt beenden den Band mit einer abschließenden Reflexion über die Philosophie als Lebenskunst. In Anlehnung an die antike griechische Philosophie untersuchen Kiesel/Schmidt das Verhältnis von »Wissen, Freiwilligkeit und personaler Identität«, ersetzen aber den »weitgehenden epistemischen Optimismus der antiken Dogmatiker« (224) durch einen – ihrer Ansicht nach die Moderne kennzeichnenden – erkenntnistheoretischen Pessimismus. Vor diesem Hintergrund bleibt die Frage der Willensfreiheit am Ende unentschieden.
Der Band bietet insgesamt erhellende Einblicke in das zentrale Problemfeld menschlicher Willensfreiheit. Dass dabei theologische Aspekte eine weniger intensive Berücksichtigung erfahren, mag umso überraschender sein, als eine Konzentration auf den für das Verhältnis von Orient und Okzident zentralen Dialog zwischen antiker und vor allem arabisch-islamischer Philosophie gesucht wird. Für die Bearbeitung der Thematik bleibt jedenfalls die mit dem ersten Beitrag vorgezeichnete Perspektivierung der analytischen Philosophie prägend, so dass die historischen Darlegungen einem klaren Leitfaden folgen und Begriffsklärungen in geschichtlicher Tiefenschärfe bieten.