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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

972–974

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Klöckner, Thomas

Titel/Untertitel:

Heinrich Alting (1583–1644). Lebensbild und Bedeutung für die reformierte Historiografie und Dogmengeschichtsschreibung des 17. Jahrhunderts.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 431 S. = Reformed Historical Theology, 56. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-525-51699-7.

Rezensent:

Marco Stallmann

Mit den kontroverstheologischen Auseinandersetzungen des 17. Jh.s ging eine intensive Erschließung des dogmengeschichtlichen Quellenmaterials einher, ohne welche die kritischen Histori-sierungstendenzen der theologischen Aufklärung nicht denkbar gewesen wären. Dies anhand des bisher unzureichend erforschten reformierten Historiographen Heinrich Alting (1583–1644) exemplarisch aufzuzeigen, hat sich die von Thomas Klöckner verfasste, von Herman Johan Selderhuis betreute und 2018 von der Theolo-gischen Universität Apeldoorn als Dissertation angenommene Untersuchung zur Aufgabe gemacht. Sie fragt nach dem spezifischen Beitrag, der Geschichtsauffassung und der Wirkung Altings im Rahmen des Konfessionalisierungszeitalters und geht dieser Frage mittels einer Kombination von Gelehrtenbiographie und Werkgeschichte nach. Dafür greift K. auf neu entdeckte und edierte (d. h. nach 1645 postum erschienene) Quellen zurück. Ein Orts- und Personenregister erleichtern die Erschließung seiner Studie.
Als Sohn des friesischen Pastors Menso Alting studierte K.s Protagonist ab 1602 Theologie bei Johannes Piscator in Herborn, um das Fach ab 1613 selbst als Professor in Heidelberg und ab 1627 in Groningen zu unterrichten. 1618/19 vertrat er zusammen mit Abraham Scultetus und Paulus Tossanus die Kurpfalz auf der Dordrechter Synode, wo er als entschiedener Gegner der Remonstranten auftrat. Besondere Aufmerksamkeit verdient seine Leitung der Bildung des pfälzischen Kurprinzen und späteren Kurfürsten Friedrich V., der am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges die böhmische Königskrone annehmen und mit dieser Frontstellung gegen Kaiser und Reich zugleich sein Schicksal als »Winterkönig« sowie den Niedergang der protestantischen Union besiegeln sollte. Der kurpfälzische Hof und die Heidelberger Gelehrtenwelt verschafften Alting einerseits wichtige Zugänge zu zeitgenössischen Universitätsnetzwerken und höfischen Anlässen. Andererseits sah er seine eigene Existenz und die seiner Angehörigen durch diese Einbindungen teilweise stark bedroht. Der Ausbruch des Dreißig-jährigen Krieges zwang ihn ins niederländische Exil, wo die Spätschriften entstanden, die Altings Wirkung begründet haben und die im Mittelpunkt des zweiten Teils der Arbeit stehen. Im Laufe dieser Analysen macht K. auf den biographischen Sitz im Leben wiederholt aufmerksam.
Am Doppelwerk Historiae sacrae et profanae compendium (1691) wird zunächst aufgezeigt, wie sich bei Alting die Glaubenswurzeln seines Geburtsorts Emden und die ramistischen Einflüsse seiner Herborner Ausbildung zu einer reformierten Theologie verdichten. Allerdings liegt hier noch keine elaborierte Geschichtsdarstellung vor, sondern ein »etwas anspruchslos geratene[r]« (198) didaktischer Leitfaden im Dienste der kurpfälzischen Prinzenerziehung. Seine biblische Einfachheit manifestiert sich in der unkritischen Aufnahme der mittelalterlichen Vier-Reiche-Lehre und der escha tologischen Perspektive auf den Kampf Gottes mit dem Anti-christen, wovon ausgehend K. auch Verbindungen zu Luthers Ge­schichtsdeutung ziehen kann. – Im nächsten Abschnitt rückt sodann die ungleich wichtigere Historia Ecclesiae Palatinae (1701) in den Fokus, die Alting als »Territorialhistoriker mit höfischer Attitüde« (266) ausweist und in erster Linie die geschichtliche Notwendigkeit der pfälzisch-reformierten Mutterkirche aufzeigen soll. Im Mittelpunkt steht daher die Einführung des Heidelberger Katechismus unter Kurfürst Friedrich III., in dem Alting einen verantwortungsbewussten Landesfürsten und Vertreter der reformierten »Orthodoxie« (268) erkennt. Wenn an dieser Stelle das modernisierungstheoretische Konfessionalisierungsparadigma ge- ­gen Altings »überholte Begrifflichkeit« (268) aufgerufen wird, wäre eine deutlichere Unterscheidung von Orthodoxie als Epochenbegriff und Bezeichnung des Selbstverständnisses von Theologen jener Zeit – Alting selbst steht auf dem Boden der »rechtgläubi-gen Wahrheit« (271) – hilfreich gewesen. Der in seiner Biographie durchaus greifbare, aber komplexe Zusammenhang mit der frühneuzeitlichen Staatsbildung wird von K. im Rückgriff auf einschlägige Forschungsarbeiten zur Konfessionalisierung erfasst. Allerdings widmet er der Frage, inwiefern der (im Zuge dieser Entwick lung gerade auch dogmengeschichtlich geführte!) Beweis der eigenen Lehrtreue der Munitionierung im kontroverstheologischen Streit diente, kein eigenes Kapitel. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass Altings Geschichtsdarstellung gegenüber den polemischen Streitschriften seiner Zeit von einem gemäßigteren Ton und in Ansätzen auch von einem gewissen »historiografischen Irenismus« (272) gekennzeichnet ist, den K. aber aufgrund der bleibenden antirömischen und antilutherischen Spitzen im Gesamtwerk nicht überschätzen will. Interessanterweise kann Alting in seiner pfälzischen Kirchengeschichte nun auf die Rahmenhandlung des eschatologischen Kampfes zwischen Gott und seinem Gegenspieler verzichten. Darin sieht K. historiographische »Säkularisierungsschübe« (274), die er ansatzweise mit der Hervorhebung territorialer gegenüber konfessionellen Faktoren erklären kann, aber im Hinblick auf die reformierte Geschichtsschreibung noch weiter erforscht wissen will.
Im Zentrum der Arbeit steht dann die Theologia Historica (1664), mit der Alting als Dogmenhistoriker hervortritt und anhand de-rer K. exemplarisch aufzeigen kann, dass die großen Dogmengeschichtswerke des 18. Jh.s (der Name Semler fällt allerdings nur am Rande) keineswegs aus dem Nichts kamen, sondern von den konfessionellen Dogmatikern des 17. Jh.s vorbereitet worden sind – freilich in einer vorkritischen Form und im Dienste eines festgefügten corpus doctrinae, dem auch Alting sich verpflichtet fühlt. Sein Theologiebegriff kennt noch keine begrifflich-explizite Unterscheidung von der individuellen Glaubenspraxis, sondern zielt auf die doctrina de Deo und deren heilsgeschichtliche Wendungen (conversiones), d. h. auf den Ursprung, die Verbreitung, den Verfall und die Wiederherstellung der kirchlich-theologischen Lehre. Eine Historisierung ihres Wahrheitsanspruchs ist bei Alting ebenso wenig zu finden wie der im 18. Jh. damit einhergehende Entwicklungsgedanke. Individuell-menschliche Motive werden bei ihm kaum als eigentliche Ursachen theologiegeschichtlicher Veränderungen in Betracht gezogen. Indem er dennoch die einzelnen Loci – charakteristisch ist die strenge Prädestinationslehre – nicht nur spekulativ-polemisch, sondern in ihrem diachronen Zusammenhang herleitet und eigenständig periodisiert, realisiert er auf eigene Weise alte Forderungen und Ansätze etwa der Magdeburger Zenturiatoren, weshalb seiner »Historischen Theologie« (357) laut K. durchaus ein innovativer Charakter zuzusprechen sei. Dies weiß K. mithilfe der (weitgehend impliziten) Rezeptionsspuren bei Georg Horn, Daniel Pareus oder John Forbes of Corse zu untermauern.
In einem »Epilog« würdigt K. Altings allgemein- sowie kirchen- und dogmengeschichtliches Œuvre »an der Schwelle zur Neuzeit« (361). Dass der damit angedeutete gesellschaftliche Übergang von dem mittelalterlich-feudalen Ordnungsgefüge zum frühmodernen Territorialstaat keineswegs noch bevorsteht, sondern längst im Gange ist und von Alting ein Stück weit mitgetragen wird, steht dem Leser unmittelbar vor Augen. Die biographische Rekonstruktion beleuchtet zwar einen »Mikrokosmos«, leistet so aber einen Beitrag zur Erforschung der »lancierten geistesgeschichtlichen und religionspolitischen Übergänge« (16). Mit seiner methodisch durchdachten Studie hat K. insbesondere einen weiteren »Vorläufer« (23) der Dogmengeschichtsschreibung als selbständiger Disziplin für die (kirchen-)historische Forschung erschlossen und dabei konfessionelle Selbstlegitimierungsansprüche hinter ein fundiert-ausgewogenes Urteil zurücktreten lassen.