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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

968–970

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Niggemann, Andrew J.

Titel/Untertitel:

Martin Luther’s Hebrew in Mid-Career. The Minor Prophets Translation.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XIV, 411 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 108. Lw. EUR 129,00. ISBN 978-3-16-157001-8.

Rezensent:

Stefan Seiler

Diese Studie von Andrew J. Niggemann, die als Dissertation an der Universität Cambridge eingereicht wurde, befasst sich mit Martin Luthers Übersetzungen aus dem Hebräischen ins Deutsche in der Zeit von ca. 1525 bis zum Beginn der 30er Jahre des 16. Jh.s. Dabei stehen dessen Wiedergabe, aber auch die Kommentierung der so-genannten »Kleinen Propheten« im Mittelpunkt, was insofern ein Novum darstellt, als bisher vor allem seiner Übertragung des Psalters besondere wissenschaftliche Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. N. hat das Ziel, das Verhältnis von Philologie und Theologie in Luthers Übersetzungen unter besonderer Berücksichtigung des Konzepts der »Anfechtung« zu analysieren. In diesem Rahmen will er den nachhaltigen Einfluss der hebräischen Sprache auf dessen Bibelübersetzungen aufzeigen.
In einem ersten Kapitel (»Luther’s Academic Mid-Career Hebrew in Context«; 1–45) befasst er sich insbesondere mit den Ressourcen, die dem Reformator in dem o. g. Zeitraum zur Verfügung standen. Für seine Wittenberger Fachgruppe seien vor allem drei gedruckte Hebräische Bibelausgaben grundlegend gewesen: die 3. Auflage der Soncino-Bibel (Brescia, 1494), Daniel Bombergs Rabbinerbibel (Venedig, 1. Aufl. 1517) und Sebastian Münsters »Hebraica Biblia« (Basel, 1534/35). Seiner Untersuchung von Luthers Bibelübersetzungen des Dodekapropheton legt N. die entsprechenden Ausgaben von 1532 und 1545 zugrunde. Darüber hinaus werden dessen eigene Randbemerkungen (AT-Ausgabe von 1538/39), die Protokolle der Revisionskommission (1539–1541), Luthers Vorlesungen (1524–1526) und Kommentare (1526–1527) herangezogen.
Die Analyse seiner Übersetzungsstrategien erfolgt nun unter vier Gesichtspunkten, denen die Kapitel 2–5 gewidmet sind: Zunächst befasst sich N. mit der Frage, welche Rolle die Unklarheiten des hebräischen Textes in Luthers Übersetzungen spielten (Kapitel 2: »The Obscure Hebrew«; 47–97). Dabei unterscheidet er zwischen den Fällen, bei denen die Bedeutung hebräischer Termini in Frage stand, und jenen, bei denen der Sinnzusammenhang zwar erkennbar war, die angemessene Übersetzung ins Deutsche aber Probleme bereitete. Was das Verständnis schwieriger hebräischer Vokabeln betrifft, so weist N. auf Diskrepanzen und Widersprüche bei deren Wiedergabe durch Luther in dessen Bibelübersetzungen, Vorlesungen und Kommentaren hin. N. betrachtet diesen Befund als Zeichen für Luthers stetige Bemühung um die angemessenste Übertragung der Texte. Im Blick auf die Frage, wie sich die hebräische Begrifflichkeit in einen völlig anderen kulturellen Kontext transformieren lasse, habe Luther hermeneutische R egeln entwickelt, an die er sich allerdings nicht immer streng gehalten habe. So sei er zwar grundsätzlich bestrebt gewesen, hebräische Redewendungen den Konventionen deutscher Sprache und Vorstellungswelt anzupassen, habe diese aber dennoch teilweise wörtlich übersetzt, gerade wenn sie mit ethnospezifischen Bräuchen und Praktiken ihrer israelitischen Autoren verbunden gewesen seien. Das in hebräischen Texten häufig vorkommende rhetorische Mittel der Wiederholung sei ebenfalls entweder wörtlich oder interpretierend wiedergegeben, teilweise aber auch völlig eliminiert worden. Die im »Sendbrief vom Dolmetschen« (1530) und in den »Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens« (1531–33) von Luther entfalteten Leitlinien seien somit nicht als feste Regeln zu betrachten. Die hohe Anzahl an Hebraismen in der »Deutschen Bibel« zeigt nach N., dass sich Luther in vielen Fällen gerade nicht den Sprachgewohnheiten seiner Landsleute angepasst hat.
Im dritten Kapitel der Studie (»Hebrew Semantic Intensity«; 99–130) geht N. der »semantischen Intensität« bei der Wiedergabe des Dodekapropheton nach. Dabei betont er, dass auch hier wieder der grundlegende Einfluss der hebräischen Sprache auf bestimmte deutsche Übersetzungen erkennbar werde. Gerade der Vergleich mit der Vulgata zeige, dass für Luther die Herausarbeitung der den biblischen Texten innewohnenden emotionalen Komponente maßgeblich gewesen sei. Insofern seien sowohl intellectus als auch affectus integrale Bestandteile seiner Übersetzung. In diesem Zu­sam­menhang führt N. Beispiele an, die auf eine Verbindung jener »semantischen Intensität« mit der Thematik der Anfechtung hinweisen, wie dies auch aus den Kommentierungen des Reformators hervorgehe.
Ein weiteres Kapitel der Studie (Kapitel 4: »Inner-Biblical Interpretation in Luther’s Hebrew Translation«; 131–164) befasst sich mit Luthers innerbiblischer Interpretation der Texte und deren Bedeutung für die Übersetzung bzw. das Verständnis der jewei-ligen Lexeme. N. zeigt auf, dass seine Wiedergabe bestimmter Be­grifflichkeiten im Zwölfprophetenbuch auf rituelle Sprache zu­rückgreift, wie sie in priesterschriftlichen Texten Verwendung findet. Dadurch flössen in die Übersetzung entsprechende kultische Konnotationen ein. Im Kontext der Thematik von Schuld und Sühne komme auch hier wieder die Theologie der Anfechtung zur Sprache, wie aus verschiedenen Stellen der »Deutschen Bibel«, aber auch aus Kommentierungen des Reformators hervorgehe.
Im fünften Kapitel (»Hebrew and Luther’s Exploitation of the Mystical Tradition«; 165–215) wird der Einfluss der mystischen Tradition auf Luthers Übersetzung des Dodekapropheton erörtert. Anhand des Jonabuches legt N. dar, wie Luther grundlegende Konzeptionen der Mystik wie die der ascensio (Aufstieg) oder der humilitas (Niedrigkeit/Demut) in die Wiedergabe dieses Buches ebenso wie in dessen Interpretation einfließen ließ. Dabei werden wiederum Verbindungslinien zur Thematik der Anfechtung gezogen, die sich im »Gewissen« (conscientia) vollzieht. Gerade hier werde aber deutlich, dass der Reformator traditionelle mystische Vorstellungen im Sinne seiner eigenen theologischen Überzeugungen modifiziert und neu gefüllt habe. Anhand weiterer Texte geht N. dem Konzept des Schweigens und der Nichtigkeit bei Luther nach, das dieser anders als in der mystischen Überlieferung mit den Auswirkungen des göttlichen Zorns in Zusammenhang bringt.
Kapitel 6 (»Conclusion«; 217–223) bietet schließlich einen zusammenfassenden Überblick über die Ergebnisse der Studie. Ihr ist ein ausführlicher Appendix (225–343) beigefügt, in dem einzelne Referenzstellen zu den jeweiligen Kapiteln tabellenartig aufbereitet sind. Dem folgen ein bibliographisches Verzeichnis (345–364) sowie mehrere Indizes (365–411).
Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine innovative Studie, die für Luthers Übersetzungsstrategien im Bereich der Kleinen Propheten neue bedeutsame wissenschaftliche Erkenntnisse vermittelt und somit einen wichtigen Beitrag für die Lutherforschung darstellt. Sie sticht nicht nur durch ihre klare Gliederung und gut nachvollziehbare – durch zahlreiche Beispiele untermauerte – Argumentation, sondern auch durch ihre akribische Arbeit im Blick auf die Quellentexte hervor. Wie N. selbst anregt, sollte das untersuchte Textkorpus in Anschlussuntersuchungen erweitert und durch zusätzliche Facetten an Fragestellungen, die über die vier von N. behandelten Hauptaspekte hinausgehen, ergänzt werden.