Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

965–968

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Burkard, Dominik, u. Jacob Tonner

Titel/Untertitel:

Reformationsgeschichte katholisch. Genese und Rezeption von Joseph Lortz’ »Reformation in Deutschland« (1940–1962).

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 574 S. m. Abb. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-451-38496-7.

Rezensent:

Roland M. Lehmann

Selten gelingt es einem Historiker, mit seiner Geschichtsschreibung auch selbst Geschichte zu schreiben. Der römisch-katho-lische Kirchenhistoriker Joseph Lortz (1887–1975) zählt zu diesen Personen, seit er sein zweibändiges Werk »Die Reformation in Deutschland« zuerst im Jahr 1939/40 veröffentlichte und damit einen Wandel in der katholischen Reformationsdeutung einleitete. Zuvor war das katholische Lutherbild polemisch gefärbt gewesen. Heinrich Denifle hatte den Reformator als notorischen Betrüger dargestellt und versucht, dessen Persönlichkeit auf Trunksucht und sexuelle Begierden zu reduzieren. Und Hartmann Grisar sah in Luther einen krankhaft nervösen Charakter, der als Mönch schlichtweg überfordert war. Bereits der Begriff der »Reformation« wurde konsequent gemieden. Stattdessen sprach man lieber von der Epoche der »Kirchenspaltung«. Mit Joseph Lortz veränderte sich jedoch der Ton. Der Grundgedanke seiner Deutung war, dass Luther gegen ein »unkatholisches« Mittelalter ankämpfte, wo­durch sich die Möglichkeit bot, Luther wenigstens teilweise als Kryptokatholiken zeichnen zu können. Damit eröffnete er neue Perspektiven für die Entwicklung der Ökumene.
Anlässlich der Veröffentlichung vor 80 Jahren legen der Würzburger Kirchenhistoriker Dominik Burkard und sein studentischer Mitautor Jacob Tonner eine detaillierte Studie zur Genese und Rezeption des Lortzschen Werkes vor. Sie verfolgen auf 574 Seiten die Debatten über die kirchliche Druckgenehmigung, das sogenannte Imprimatur, der ersten vier Auflagen (11940, 21941, 31949, 41962) und die Besprechungen der ersten Auflage von katholischen und evangelischen Rezensenten. Hierzu verwenden die Autoren bislang noch unerforschte Quellen wie die des Herder-Verlags, in dem Lortz’ Werk erschien, den persönlichen Nachlass von Lortz, den Nachlass des Mainzer »Instituts für Europäische Geschichte« und einige Akten aus dem Erzbischöflichen Archiv Freiburg.
Die Studie ist in vier Teile gegliedert. Im einleitenden ersten Teil wird der Lebenslauf von Lortz bis zum Erscheinen seines Hauptwerkes geschildert. Dabei legen die Autoren zunächst den Fokus auf Lortz’ Engagement als »Brückenbauer« (31.397) zwischen Ka­tholizismus und Nationalsozialismus, was ihm 1935 eine Professur als Kirchenhistoriker in Münster eintrug. Danach wird der Einfluss vom Würzburger Kirchenhistoriker Sebastian Merkle, unter dem Lortz als Privatdozent und Studentenseelsorger von 1923 bis 1929 wirkte, auf seine Reformationsdeutung ausgelotet. Den Autoren zufolge haben beide das »Denkmuster« (51 f.) gemeinsam, das Wirken einer historischen Person oder gar einer Epoche als bloße Reaktion auf eine aus dem Ruder gelaufenen Situation zu deuten. Als Unterschied wird die »Methode« (52) hervorgehoben, die bei Merkle eher historisch-positivistisch, bei Lotz hingegen ideengeschichtlich orientiert war.
Der zweite Teil widmet sich zunächst der Entstehung von Lortz’ Werk. Deren Wurzeln reichen in das Jahr 1922, als Lortz in Bonn während der Mitarbeit an der Reihe »Corpus Catholicorum« mit dem Thema »Reformation« in Kontakt kam. 1929/30 sollte Lortz in der Reihe »Geschichte der führenden Völker« die Epoche der »Glaubensspaltung« im Herder-Verlag schreiben. Doch das Manuskript schwoll unter seinen Fingern so sehr an, dass er 1936 um eine eigenständige Veröffentlichung in zwei Bänden bat. Der Herder-Verlag stimmte diesem Plan zu und drängte von nun an auf Vollendung. Nach zwei Jahren kam es zu Honorar-Verhandlungen mit dem Herder-Verlag, bei denen Lortz eine – für heutige Verhältnisse undenkbare – Gewinnbeteiligung von fast 15 % des Brutto-Ladenpreises herausschlagen konnte, was bei der Erstauflage von 5000 Stück 12800 Reichsmark betrug (104.514). Das Imprimaturverfahren des ersten Bandes im Jahr 1938 gestaltete sich anfangs unkompliziert. Dabei zeigte sich der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber im gesamten Verfahren wohlwollend (66 f.). Er holte sich die Fachmeinung vom Freiburger Dogmatikprofessor Jakob Bilz ein, der jedoch den »Gesamtcharakter« (71) des Werkes als »unkatholisch« einstufte. Daraufhin wandte sich Lortz direkt an den Erzbischof mit der Bitte, Lortz’ alten Freund Johann Peter Kirch, den Direktor des päpstlichen Institutes für christliche Archäologie in Rom, ein Gutachten verfassen zu lassen. Der Erzbischof willigte ein. Diese Entscheidung war für das Verfahren von »entscheidender Bedeutung« (72.410), da auf Kirchs wohlwollendes Gutachten in der Folgezeit rekurriert werden konnte. Zusätzlich beauftragte der Erzbischof noch den Freiburger Kirchenhistoriker Heinrich Finke. Beide Zensoren empfahlen lediglich Korrekturen in zahlreichen Einzelformulierungen. Anfang Dezember 1938 wurde die Druckgenehmigung für den ersten Band erteilt. Hinsichtlich des zweiten Bandes kamen durch ein Gutachten vom Freiburger Kirchenhistoriker Ludwig Andreas Veit neue Bedenken auf, der den Band auch wegen dessen »völkische(r} Geschichtsauffassung« kategorisch ablehnte (84). Wahrscheinlich durch die Fürsprache Kirschs und ein weiteres positives Gutachten durch den Domkapitular Wilhelm Reinhard erteilte der Erzbischof im August 1939 schließlich das Imprimatur (98).
Danach wenden sich die Verfasser den Rezensionen zu. Von den über 70 analysieren sie eine repräsentative Auswahl von 27 Rezensionen aus den Jahren 1940 bis 1945, deren Veröffentlichungen in sieben Phasen (140) gegliedert werden. Die katholischen Rezensenten sind überwiegend positiv. Kritisiert wird Lortz’ These, Luther habe einen Kampf gegen einen »pseudokatholischem« Ockhamismus geführt. Außerdem stieß bei einigen die Lortzsche Auffassung auf Unverständnis, dem Reformator einen »tiefen« Demutsbegriff zuzuschreiben (177). Auf evangelischer Seite, beispielsweise von Ernst Wolf, Otto Clemen, Gerhard Ritter und Heinrich Bornkamm, wurde der neue unpolemische Ton als für die ökumenische Annäherung förderlich gewürdigt. Kritisch hingegen sahen die meisten Lortz’ Urteil, Luthers Theologie leide an einem »Subjektivismus« (155 f.160.162.164.174 f.177.189.198), der von der vermeintlich »objektiven« Lehre der katholischen Kirche abweiche. Denn damit werde der Reformator von einem nachtridentinischen Standpunkt aus beurteilt, was ein »Anachronismus« bzw. eine »Rückwärtsprojizierung« darstelle (164.191.196.204 f.). Außerdem wurde Lortz’ Meinung kritisiert, Luthers Denken in Paradoxien sei eine Schwäche denn eine Stärke gewesen (189). Hinsichtlich der Ökumene wurde bedauert, dass Lortz bei einer »Rückkehr-Ökumene« verblieb (165.200.204.212). Zuweilen versuchten Rezensenten aus beiden Lagern, vor dem Hintergrund der historischen Situation die ökumenische Ausrichtung des Werkes in zweifacher Richtung zu instrumentalisieren: Entweder wurde die deutsch-nationale Einheit beschworen, mit der die kontroverstheologischen Streitigkeiten überwunden werden sollten, oder es wurde ein stärkeres Zusammenrücken der Kirchen gegen den antichristlichen Nationalsozialismus gefordert (201.212).
Bereits im Juli 1940 waren die 5000 Exemplare ausverkauft. Eine Zweitauflage sollte schnell nachgedruckt werden. Zunächst schien der kirchlichen Druckgenehmigung nichts im Wege zu stehen. Doch nun schaltete sich die Berliner Nuntiatur ein sowie der Geheimsekretär von Papst Pius XII., der Jesuit Robert Leiber, der das Werk als »antirömischen Komplex« (230.403) ansah und eine komplette Umarbeitung forderte, sollte es nicht auf dem Index landen. Es ist dem geduldigen Verhandeln des Herder-Verlags zu verdanken, dass das Werk schließlich nach zahlreichen Korrekturdurchgängen veröffentlicht werden durfte, ohne ganz neu geschrieben werden zu müssen. Unmittelbar danach sollte ein unveränderter Nachdruck ins Ausland exportiert werden. Jedoch wurde diese Auflage komplett durch die Bombardierung des Freiburger Verlagshauses zerstört (269).
Der dritte Teil verfolgt die Veröffentlichungsgeschichte der dritten und vierten Auflage. Nach dem Krieg war Lortz mit dem Wechsel zum Mainzer Institut für Europäische Geschichte beschäftigt, da er im Zuge der Entnazifizierung zwar entlastet wurde, aber dennoch seinen Lehrstuhl räumen musste. Aufgrund des antiökumenischen Kurses von Papst Pius XII., der sich im »Monitum« vom 5. Juni 1948, in der Instructio »Ecclesia catholica« vom Dezember 1949 (285 f.) und in der Enzyklika »Humani generis« vom 12. August 1950 (296 f.) widerspiegelte, wuchs dem Lortzschen Werk eine neue Be­deutung im ökumenischen Gespräch zu. Doch bei der Neuauflage des Werkes nach dem Krieg waren mehrere Hürden zu überwinden: zunächst die Papierbeschaffung, dann der Tod Erzbischof Gröbers sowie die Zensur der französischen Besatzungsmacht, auf-grund derer unvorteilhafte Charakterisierungen Frankreichs oder des französischen Königs gestrichen werden sollten (277.279.290). Über die Neuauflage war Rom wenig erfreut und ließ das Werk, wahrscheinlich vom Papstsekretär Robert Leiber, erneut kritisch begutachten (294–296). Eine Eskalation der »Causa Lortz« verhinderte der neue Freiburger Erzbischof Wendelin Rauch.
Ein weiteres Mal sollte das Werk aufgelegt werden, als der evangelische Kirchenhistoriker Erwin Mülhaupt in einem Artikel 1957 den Dissens zwischen dem Lortzschen Irenismus und der offiziellen antiökumenischen Haltung Roms hervorhob und damit gleichsam den Finger in die Wunde legte. Die Sondierungen für das Imprimatur zogen sich mehrere Jahre hin. Letztlich der Tod Pius’ XII. 1958 und das Einschlagen eines neuen ökumenischen Kurses durch Papst Johannes XXIII. ermöglichten 1962 die Neuauflage (350. 409).
Der vierte Teil enthält das Resümee, das die Ergebnisse bündig zusammenfasst. Der Studie beigefügt ist eine wertvolle, 80 Seiten umfassende Quellensammlung und eine (zwar lobenswerte, aber m. E. nicht unbedingt notwendige) 50-seitige Sammlung von Biogrammen, da diese Informationen heutzutage bei Bedarf auf anderen Wegen abgefragt werden können.
Von einem »Wissenschaftskrimi« wird im Klappentext der Studie von Burkard und Tonner gesprochen. Dies ist keine Übertreibung! Das Buch ist überaus spannend geschrieben. Als Leser erlebt man die zahlreichen Akteure in ihrem Ringen um Verständigung sowie Missbilligung und Unterbindung vor und hinter den Kulissen. Gleichwohl wünscht man sich manches Mal eine ausführlichere historische Einbettung der Vorgänge in die sich wandelnde Geschichte der Ökumene. Offenlassen mussten die Autoren die Frage, ob Papst Pius XII. selbst oder eher sein Sekretär Leiber die Zensur von Rom aus bewirken wollten (413 f.). Auskunft darüber können lediglich die immer noch verschlossenen Akten des Heiligen Offiziums und des Staatssekretariates bringen. Bewusst vorsichtig zeigen sich die Autoren in ihrem Urteil, inwiefern Lortz beim Verfassen des Werkes noch vom Nationalsozialismus beeinflusst war und ob sich dies in seiner Reformationsdarstellung widerspiegelt. Die Autoren vertrauen an diesem Punkt m. E. zu unkritisch der eigenen Sichtweise von Lortz, der im Zuge der Entnazifizierung 1946 angibt, sich bereits 1936 von der Idee des Nationalsozialismus distanziert zu haben (32–34). Der Schluss in seinem anderen populär gewordenen Werk »Geschichte der Kirche« zeigt, dass er den Nationalsozialismus als Erfüllung seiner geschichtstheologischen Deutung ansah (29), wenngleich er auch diesen Abschnitt in der 5. Auflage 1937 wegließ. Was die Autoren nicht anführen, ist die Tatsache, dass Lortz sich meines Wissens nirgendwo offiziell vor oder nach 1945 vom Nationalsozialismus distanziert hat. In seiner Autobiographie, in der dies hätte stattfinden können, schweigt er darüber. Auch seine NSDAP-Mitgliedsbei-träge bezahlte er brav bis 1944. Das lässt den Verdacht aufkommen, ihn insgesamt nicht nur als »Mitläufer«, »Opportunisten« oder »Konjunkturritter« deuten zu können (34.418–420). Dies jedoch mindert in keiner Weise den Eindruck, dass es sich bei dem Buch von Burkard und Tonner um eine sehr lesenswerte Studie zur Wissenschafts- und Verlagsgeschichte handelt und darin ein wesentlicher Beitrag zur Aufarbeitung der katholischen Reformationsforschung geleistet wird.