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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

962–965

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Soen, Violet, Soetaert, Alexander, Verberckmoes, Johan, and Wim François [Eds.]

Titel/Untertitel:

Transregional Reformations. Crossing Borders in Early Modern Europe.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 377 S. m. 12 Abb. u. 2 Tab. = Refo500 Academic Studies, 61. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-525-56470-7.

Rezensent:

Marc Bergermann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Boersma, Karla, and Herman J. Selderhuis [Eds.]: More than Luther: The Reformation and the Rise of Pluralism in Europe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 348 S. m. 4 Abb. = Refo500 Academic Studies, 55. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-525-57096-8.


Herman J. Selderhuis, der niederländische Calvin-Kenner und Direktor der Refo500 Stiftung, und die weiteren Herausgeber der Reihe »Refo 500 Academic Studies« (R5AS) haben sich der Aufgabe verschrieben, den vielfältigen Dimensionen der Reformation aus interdisziplinärer, interkonfessioneller und internationaler Perspektive nachzuspüren. Die hier zur Besprechung vorliegenden Bände »More than Luther« und »Transregional Reformations« zeigen exemplarisch und mustergültig, inwiefern dieses Vorhaben gelingen kann. Beide Bände erschienen 2019 und enthalten ausgewählte Beiträge der 5. und 7. Konferenz des Reformation Research Consortium (RefoRC).
Im Falle von »More than Luther« hätte die Einführung auch auf einem Bierdeckel Platz gefunden: Kurz und knapp setzen sich die Herausgeber und Veranstalter der 5. RefoRC-Konferenz von 2015 zum Ziel, die Folgen von Luthers neuer Theologie bis ins 17. Jh. hinein nachzuzeichnen. Der Untertitel »The Reformation and the Rise of Pluralism in Europe« entfaltet dieses more durch den Leitgedanken des Pluralismus und geographische Eingrenzung der 20 ausgewählten Beiträge. So wird mitnichten die Engführung gewählt, Luther und die Wittenberger Reformation auszuklammern. Vielmehr wird ausgehend von Luthers Reformimpulsen die Breitenwirkung und daraus resultierende Pluralität der Reformation facettenreich nachgezeichnet. More than Luther steht somit nicht beliebig für anything but Luther.
Methodisch bilden die einzelnen Beiträge ein breites Spektrum an Zugängen ab und verschreiben sich nicht gemeinsam einer Methode, die derzeit en vogue ist. Präsentiert werden diese Beiträge in vier Unterabschnitten, die von den Herausgebern Boersma und Selderhuis als chronologisch und thematisch geordnet bezeichnet werden. Dem Rezensenten hat sich dies jedoch lediglich für die Abschnitte »Reformers« und vor allem »Influences: Synod of Dordt« sinnvoll erschlossen: Im ersteren Fall finden sich sechs Beiträge mit einer klaren Fokussierung auf Persönlichkeiten wie Luther, Calvin, Amsdorf und Vertreter des »Linken Flügels« der Reformation versammelt. Hier stechen der Beitrag über das vom Geist der Aufklärung bestimmte lutherische Gesangbuch des Laien Georg Philipp Wucherer ( Jane Schatkin Hettrick) und die Abhandlung über Bullingers kritische Position zu theologischen Streitigkeiten seiner Zeit mit Blick auf deren Konsequenzen für die pastorale Tätigkeit (Aurelio A. Garcia) hervor. Sie zeigen in besonderer Weise zeitlose Problemstellungen im pastoralen Alltag auf, vor die sich Theologen im kirchlichen Dienst bis heute gestellt sehen. In eine ähnlich zeitlose Kerbe schlägt der Aufsatz von Dolf te Velde über die Verurteilung des reformierten Theologen Conrad Vorstius. Dabei werden dem Leser die eklatanten dogmatischen Abweichungen Vorstius’ auf dem Feld der Hermeneutik sowie der Trinitäts- und Gnadenlehre vor Augen gestellt, die im Framework des 17. Jh.s nur als bewusste Provokation aufgefasst werden konnten. Der deutsche Leser mag sich an jüngere dogmatische Provokationen der letzten Jahre erinnert fühlen.
Bei den Abschnitten »More than Luther« und »Reformations« könnten scharfe Zungen von »Sammelsurien« sprechen, im Sinne der Herausgeber lassen sich diese jedoch als Ausdruck des im Titel angekündigten Pluralismus sehen. Und tatsächlich bestätigt sich dies auch inhaltlich, wobei sich eine deutliche Schwerpunktlegung auf die Breitenwirkung Calvins in West- und Osteuropa ausfindig machen lässt. Ein Artefakt, aber letztlich auch erhellendes Kleinod ist der grenzüberschreitende Beitrag von Tomoji Odori, der aus der fernen Blickrichtung der verfolgten Christen im frühneuzeitlichen Japan strukturelle und inhaltliche Rückschlüsse aus und Parallelen zu den in Europa verfolgten Baptistischen Gemeinschaften zieht.
Grenzüberschreitungen sind im Band »Transregional Reformations«, der auf die 7. RefoRC-Konferenz von 2017 zurückgeht, nicht die Ausnahme, sondern Programm: Die umfängliche Einführung der Herausgeber zeigt die sogenannte Transregional History als das Instrument der Stunde für die Erforschung der Reformationsgeschichte auf. Ausdrücklich vollziehen die Herausgeber, aber auch nahezu alle Autoren, diesen Blickwechsel weg von den Zentren der Reformation, hin zur Peripherie und den Grenzregionen. Gemein hat dieser Band mit »More than Luther« die zeitliche wie geographische Eingrenzung auf das frühneuzeitliche Europa. Grenzüberschreitungen werden aber nicht nur geographisch vorgenommen, sondern auch auf Sprache und Konfession ausgeweitet. Wie ge­schlossen dies gelingt, zeigt sich schon daran, dass sämtliche Beiträge die Schlüsselwörter Transregional bzw. Transfer oder Boundaries, Borders, Barriers im Titel tragen – und die ausgewählten 13 Beiträger sich vorwiegend diszipliniert an diese Zielsetzung halten. Freilich geht mit einer solchen methodischen Fokussierung die Gefahr einher, dass die vorliegenden Beiträge der Selbstrechtfertigung der gewählten Betrachtungsmethode erliegen. Jedoch bestätigt sich diese Befürchtung des Rezensenten beim Studium der Beiträge nicht.
Unterteilt ist der Band in drei Sektionen: Abschnitt I »Transfer and Exchange« versammelt vier Beiträge, die sich mit geographischen Grenzregionen oder -überschreitungen befassen, wie der Rolle des Rheinlands während der französischen Religionskriege (Jonas van Tol). Abschnitt II »Translation and Transmission« bietet vier gelungene Beiträge über die Bedeutung von Übersetzungen, Drucken und Bildnissen für die Breitenwirkung der Reformation. Im letzten Abschnitt »Mobility and Exile« rücken akademische Transfer- und Kontakträume in den Blick wie die in Grenzregionen stattfindenden Universitätsgründungen in Reims und Douai (Violet Soen). Darüber hinaus erfährt die Zuschreibung der »Exils-theologie« als typisch reformiert durch Johannes M. Müller eine konfessionsüberschreitende Neubewertung. Christian Ravensberg schließt den Band mit einem anschaulichen Beitrag über die Komplikationen, die Sprachbarrieren für deutsche reformierte Theologen aufwarfen, die in den östlichen Niederlanden des späten 17. Jh.s wirkten.
Letztlich lassen sich mit einigen der Beiträge durch transkonfessionelle und translinguistische Aspekte auch weitere Facetten von Transregional History ausmachen. Somit ist der Band auch als Weitung der Methode selbst anzusehen, ohne jedoch ihren inhaltlichen Mehrwert für die Reformationsforschung in den Hintergrund zu drängen. Nebenbei wird dabei verdeutlicht, was Grenzen jeglicher Art wirklich sind: Übergangsräume und damit Orte des Transfers und Austauschs, statt kontaktarme Randbereiche, Peripherien und Niemandsländer ohne Identität.
Beide Bände verbindet der Gedanke der Pluralität der Reformation. Damit sind nicht allein die innerprotestantischen Konfessionsbildungen und -überschreitungen angesprochen, sondern freilich auch die Reformen innerhalb der sich (neuer-)findenden römisch-katholischen Kirche. Die Bände zeichnen sich zudem durch die Überschreitung disziplinärer Grenzen aus. Dennoch lassen sich freilich unterschiedliche Gewichtungen bei der Auswahl der Beiträge ausmachen: Ein Großteil der Autoren des Bandes »More than Luther« bewegt sich auf dem Feld der Theologie, wohingegen bei »Transregional Reformations« vermehrt Historiker und Literaturwissenschaftler zu Wort kommen. Kunstgeschichte und weitere Disziplinen bilden hingegen eine deutliche Minderheit. Dennoch gelingt es in beiden Bänden, dass solche vereinzelten Beiträge nicht als störende Artefakte auftreten, sondern ihren Teil zur jeweiligen spezifischen Zielsetzung leisten (lediglich Timothy J. Orrs Beitrag zu Jan Hus fällt aus dem Muster, ist dennoch für sich genommen ein engagierter Aufruf zur Revitalisierung der internationalen Hus-Forschung). Auch hinsichtlich der Nationalität der Autoren und ihrer akademischen Affiliation zeichnen sich deutliche Schwerpunkte in beiden Bänden ab: Ein Großteil der Beteiligten stammt aus oder wirkt in den Niederlanden und Belgien, insbesondere Vertreter der KU Leuven sind stark vertreten. Einen weiteren Schwerpunkt, der sich wie im Falle der Niederlande auch thematisch widerspiegelt, stellt Osteuropa mit Beiträgen aus (und zu) Ungarn, Polen und Rumänien dar. Abseits des auf Deutsch verfassten und lesenswerten kunstgeschichtlichen Beitrags von Maria Lucia Weigel zur Pluralität der Reformation im Spiegel der Bildnisse von radikalen Vertretern der Reformationsbewegung in »More than Luther« sind sämtliche Texte in stilistisch gutem Englisch verfasst.
Wer sich nun eine allgemeine, zusammenhängende Einführung in die Breitenwirkung der Reformation erhofft, ist bei beiden Bänden fehl am Platz. Zwar bieten sich verschiedentlich thematische Überschneidungen und Verdichtungen (wie zur Synode von Dordrecht, den Religionskriegen in Frankreich, dem Konzil von Trient), davon abgesehen ist die Einordnung vom Leser selbst zu erbringen. Dieser darf auch nicht erwarten, dass die Reformationsgeschichte umfänglich umgeschrieben wird. Vielmehr leuchten beide Bände nicht nur Winkel der weiten Haupthallen der Reformationsgeschichte neu aus, sondern lassen auch in kleine Abstellkammern oder staubige Verbindungsgänge (erstmals) erhellendes Licht scheinen.
Die beiden Bände versammeln letztlich im Kontext der Reihe R5AS ertragreiche und wegweisende Ergänzungen, zeigen sie doch in ihrer methodisch jeweils offenen bzw. zugespitzten Zugangsweise, dass tatsächlich noch eine Menge mehr als Luther zu entdecken ist, ohne sich dabei in der ermüdenden Kleinteiligkeit regionaler Reformationsgeschichte(n) zu verlieren. Dass die Reformation mehr ist als Luther, dürfte allerdings selbst in den konservativsten Kreisen längst angekommen sein – was die Reformation jedoch mehr ist als Luther, und wo dieses »mehr« zukünftig zu entdecken ist, das zeigen diese beiden Bände erfolgreich an.
Geschlossen werden die Bände von sinnvollen Indizes und Angaben zu den Autoren, die in »More than Luther« für eine schnelle Orientierung teilweise zu knapp ausfallen.