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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

958–960

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Olszynski, David, u. Ulli Roth [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Soteriologie in der frühmittelalterlichen Theologie.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2020. VI, 340 S. = Archa Verbi. Subsidia, 17. Geb. EUR 66,00. ISBN 978-3-402-10317-3.

Rezensent:

Jörg Ulrich

Dieser Band publiziert zwölf Beiträge zu einem Symposion zur frühmittelalterlichen Soteriologie, das im März 2019 an der Universität Koblenz-Landau stattfand. Die Aufsätze sind je einer von vier inhaltlichen Rubriken zugeordnet, die soteriologische Konzepte auf exegetischer Grundlage (I), auf Basis eines philosophisch-theologischen Grundgedankens (II), im Kontext apologetischer Argumentationen (III) und schließlich in ihrer Auswirkung auf Lebenspraxis und Spiritualität (IV) thematisieren.
In der Kategorie I »Schriftauslegung« untersucht Jonas Frank (Tübingen) die Römerbriefexegese des Haimo von Auxerre und weist im Kommentar Haimos die Existenz verschiedener soteriologischer Modelle nach, die offenbar nicht vollständig miteinander harmonisiert wurden und auch nicht harmonisiert werden sollten (23–49). Ulli Roth (Koblenz) fördert für die Glossa ordinaria einen ganz ähnlichen Befund zutage; auch hier zeigt sich eher ein Panorama nebeneinanderstehender Akzentsetzungen, das aber keineswegs planlos oder willkürlich, sondern sachlich angemessen ist, weil es der Komplexität des Erlösungsverständnisses in den Glossa entspricht (51–77). Regina Meyer (München) erschließt in ihrem Aufsatz die Soteriologie des Rupert von Deutz anhand seiner Kommentierung des Hoheliedes, das er als einen zutiefst christologischen Text versteht. Bei Rupert von Deutz wird ferner der Zusammenhang der Soteriologie mit anderen theologischen Themen wie Trinitätslehre oder Anthropologie in besonderer Weise deutlich (79–108).
In der Kategorie II »Theologische Grundgedanken« stellt Viki Ranff (Trier) das soteriologische Denken der Hildegard von Bingen vor, indem sie die Besiegung bzw. Beschämung des Teufels, die auf göttlichem Ratschluss fußt, als leitendes Motiv identifiziert (ähnlich wie das der Genugtuung bei Anselm oder das der Liebe bei Abaelard). Die luziden Beobachtungen stellen die Angemessenheit einer theologiegeschichtlichen Einordnung Hildegards als Mystikerin grundsätzlich in Frage (111–144). Gunther Wenz (München) stellt insbesondere im Blick auf die Satisfaktionstheorie die Frage nach der bleibenden Aktualität Anselms von Canterbury und problematisiert die überwiegend ablehnende, freilich oft reduktionis-tische Bewertung Anselms in der gegenwärtigen Theologie (145–159). David Olszynski (Koblenz) untersucht in seinem Beitrag das Erlösungskonzepts Peter Abaelards. Dabei weist er einerseits den komplexen Charakter des abaelardschen Versöhnungsdenkens nach und weist nachdrücklich auf zahlreiche Parallelen zu heutigen soteriologischen Konzepten nach (161–182).
In der Kategorie III »Apologetische Argumentationen« werden Texte untersucht, deren Entstehung sich der Auseinandersetzung mit Andersgläubigen (Nichtchristen oder andere christliche Denominationen) verdankt. Hier zeigt sich, in welch hohem Maße der jeweils andere Kontext sich auf die eigenen soteriologischen Akzentuierungen auswirkt; eine besondere Rolle spielt natürlich die Frage nach dem eschatologischen Geschick der Andersgläubigen. Peter Bruns (Bamberg) stellt unter diesem Aspekt die leider wenig be­kannten Traktate des arabischen Bischofs Theodor Abû Qarra (um 830) über Menschwerdung, Leiden und Tod des Gottessohnes vor (185–213), deren rigide Positionalität in mehrfacher Hinsicht von erschreckender Aktualität ist. Jakob Heller (Freiburg) untersucht die im Disput mit andersgläubigen Gegnern entstandenen soteriologischen Argumente, die ansatzweise bei Anselm, vor allem aber in den Religionsdialogen von Gilbert Crisplin, Petrus Alfonsi und Odo von Tournai zu finden sind (215–238). Im Blick auf die Auseinandersetzung mit dem Islam konzentriert sich das Interesse auf Petrus Venerabilis und dessen Übersetzungsprojekt zum Koran, in dem erste Ansätze einer Islamwissenschaft zu sehen sind; bei Petrus Venerabilis spielt die universelle Sorge um das Heil aller Menschen, auch der Muslime, Juden und christlichen Abweichler, eine zentrale Rolle, wie der Aufsatz von Davide Scotto (Frankfurt/ Pavia) zeigt, der übrigens der einzige englischsprachige Beitrag in vorliegendem Band ist (239–262).
In der vierten und letzten Kategorie geht es um die lebenspraktische und spirituelle Seite der frühmittelalterlichen Soteriologie. Hier wird eindrucksvoll deutlich, dass es bei allen theologischen Bemühungen um das Versöhnungsverständnis nie um abgehobene Spekulation, sondern um eminent existentielle und konkret lebensrelevante Anliegen ging. Dies stellt Rebecca Milena Fuchs (München) am Beispiel der Briefe Hildegards von Bingen dar (265–278), wodurch der o. g. Aufsatz von Viki Ranff eine Ergänzung aus anderer, eben praktischer Perspektive erfährt. Die Briefe Hildegards, eindrückliches Zeugnis volksnaher Seelsorge im 12. Jh., stellen die enorme Lebensdienlichkeit der im Ansatz ja durchaus »scholastisch« wirkenden Soteriologie Hildegards unter Beweis. Tobias Janotta (Würzburg) unterstreicht am Beispiel des Speculum universale des Radulf Ardens die Bedeutung der Christologie und Soteriologie für die Tugendlehre und damit ihre Auswirkung auf das tägliche Handeln des Menschen (279–314). Michaela Bill-Mrziglod (Koblenz) geht in ihrem Beitrag schließlich auf Bernhard von Clairvaux, den großen Zeitgenossen des Petrus Venerabilis und Abaelards, ein und untersucht in seinem Werk das Motiv von der Abtötung des Fleisches (315–334). Diese Thematik ist insofern auf das Engste mit dem Erlösungsgedanken verknüpft, als bei Bernhard die Wiederentdeckung Christi als des leidenden Gottesknechts im Zentrum seiner Soteriologie steht, was unmittelbare Rückwirkungen auf die Asketik im konkreten Lebensvollzug hat.
Der vorliegende Band ist in vieler Hinsicht begrüßenswert: Er widmet sich in konzentrierter Weise der Geistes- und Theologiegeschichte, die in der kirchengeschichtlichen Forschung zuletzt fast ein wenig aus der Mode zu kommen im Begriffe war. Er widmet sich mit der Soteriologie einem durchaus aktuellen Kernthema christlichen Glaubens und kirchlicher Lehrreflexion (man denke nur an den 2015 entstandenen Grundlagentext des Rates der EDK »Für uns gestorben …«) und beleuchtet dieses aus historischer Perspektive. Er erschließt zudem mit dem Frühmittelalter eine vergleichsweise wenig bearbeitete Epoche und führt deren theologische Vielfalt eindrucksvoll vor Augen, wobei er die seit Baur, Seeberg und Aulén fast kanonisch gewordene Polarität Anselm – Abaelard (Einzelheiten kann man der forschungsgeschichtlichen Einführung von Ulli Roth [7–19] entnehmen) als viel zu holzschnittartig entlarvt und durch mannigfache Differenzierungen überwindet. Das Werk der in dem Band bearbeiteten frühmittelalterlichen Autoren verdient unter diesem Aspekt zweifellos auch weiterhin Beachtung. Hinzu kommt, dass zahlreiche Denker wie z. B. die Victoriner gar nicht berücksichtigt werden konnten, wor auf in der Einleitung ausdrücklich hingewiesen wird (2). So verbürgt der vorliegende Band nicht nur eine jederzeit anregende Lektüre, sondern inspiriert zugleich zur wissenschaftlichen Weiterarbeit am Werk bislang wenig erschlossener Autoren aus der (früh)mittelalterlichen Christentumsgeschichte. Das ist gewiss nicht das Schlechteste, was man über ein neu erschienenes Buch sagen kann. Anerkennenswert ist schließlich auch, dass die Veröffentlichung der Beiträge zügig vorangetrieben und sorgfältig ausgeführt wurde.