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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

948–951

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Timm, Stefan [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Eusebius III/1: Das Onomastikon der biblischen Ortsnamen. Kritische Neuausgabe des griechischen Textes mit der lateinischen Fassung des Hieronymus.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. CXCI, 444 S. = Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte. Neue Folge, 24. Geb. EUR 149,95. ISBN 978-3-11-031565-3.

Rezensent:

Martin Wallraff

Euseb von Casesarea hat »die Namen der Städte und Dörfer, die in der Heiligen Schrift in ihrer ursprünglichen Sprache genannt werden« gesammelt und dazu jeweils folgendes vermerkt: »ihre Bedeutungen, welche Lage sie haben und wie unsere Zeitgenossen sie nennen – ob es gleich ist wie bei den Alten oder ob sie anders wiedergegeben werden« (Proöm). Dieses Werk »über die Ortsnamen in der Heiligen Schrift« (so der Titel in der Handschrift, konventionell als »Onomastikon« bezeichnet) war der vierte Teil (das vierte Buch?) e ines groß angelegten bibelkundlichen Nachschlagewerks. Die ersten drei Teile sähe man gerne (Verzeichnis der Völkernamen, Beschreibung/Karte von Judaea, Jerusalem-Karte), sie sind indes leider nicht erhalten. Auch die Überlieferung des vierten Teils, des Onomastikon, hängt am seidenen Faden – zumindest im griechischen Original: Es ist nur in einem einzigen mittelalterlichen Ko­dex erhalten (Vat. gr. 1456, 2. Hälfte 10. Jh.).
Dieser Text liegt nun in einer neuen kritischen Edition von Stefan Timm vor. Das ist in jedem Fall eine sehr gute Nachricht, denn das Werk kann großes Interesse beanspruchen. Natürlich ist es eine zentrale Quelle für alle, die sich für die historische Topographie Pa-lästinas interessieren. Darüber hinaus ist es ein einzigartiges Zeugnis für die sich entwickelnde christliche Bibelgelehrsamkeit in der Spätantike. Es sei allein an einen Aspekt erinnert, der aus heutiger Sicht beinahe banal wirkt: Das Material ist »nach Buchstaben (kata stoicheion)« (so ebenfalls im Proöm) geordnet. Das wird zumeist schlicht mit »alphabetisch« übersetzt – nicht falsch, aber vielleicht sollte man genauer sagen: »nach dem Anfangsbuchstaben«, denn anders als heute wird nur der erste Buchstabe als Ordnungskrite-rium genutzt. Das Werk ist also nach den griechischen Buchstaben gewissermaßen in 24 Hauptkapitel unterteilt, innerhalb derer das Material dann nach Vorkommen in der Bibel arrangiert ist (also beginnend mit dem Buch Genesis usw.). Dieses Ordnungsprinzip zu erwähnen, lohnt deshalb, weil es in der Antike durchaus nicht selbstverständlich war, ja sogar ganz ungewöhnlich.
Euseb war ein Meister bei der Organisation und Präsentation von Information, und schon das genannte Ordnungsprinzip macht deutlich: Hier liegt ein Werk vor, das von Haus aus nicht zur durchlaufenden Lektüre gedacht ist (wenige werden es von vorne bis hinten gelesen haben – auch der Rezensent nicht), sondern zum Nachschlagen. Nicht zum kontinuierlichen, sondern zum kon-sultierenden Lesen, nicht zur Erbauung, sondern zum Studium. Euseb gehörte der ersten Generation von Gelehrten an, für die das neue Medium Kodex schon selbstverständlich war, und tatsächlich setzt diese Art der Informationsvermittlung einen Kodex voraus, in dem man schnell zwischen einem Punkt und dem anderen hin- und herspringen kann – ohne lästiges Vor- und Zurückspulen.
Viele Einträge sind tatsächlich äußerst sec gehalten: knappe No­tizen über Lage und/oder Bedeutung eines Ortsnamens, eben wie man es in einem Nachschlagewerk erwartet (ca. 1000 an der Zahl!). Andere haben stärker diskursiven Charakter, und die Lektüre lohnt sehr (am schönsten gleich zu Beginn: Ararat, Nr. 1, man lese auch etwa Beerscheba, Nr. 227, oder Salem, Nr. 815, auch Bethel, Nr. 192, doch dort ist vor allem der Zusatz von Hieronymus von Interesse): Miniaturen zur Lokal-, Frömmigkeits- und Kulturgeschichte.
Wie gesagt: Dass der Text in einer neuen und rundum zuverlässigen Edition vorliegt, ist eine sehr gute Nachricht. Man kann sich jetzt schnell und umfassend ein Bild auch über schwierige Stellen machen. Edition bedeutet in diesem Fall zunächst und vor allem: eine genaue Transkription des codex unicus. Dieser wird sehr ausführlich besprochen und vorgestellt – bis in die letzten Einzelheiten (auf über 60 Seiten: XXI–LXXXIII). Das geht selbst für Freunde der Handschriftenforschung mitunter sehr weit – zumal kurz nach Erscheinen des Buches die Handschrift von der Biblioteca Apostolica Vaticana in einem guten Digitalisat auch online gestellt wurde: https://digi.vatlib.it/view/MSS_Vat.gr.1456 (auf S. CLXXVII findet sich eine eigentümliche und eher deplatziert wirkende Invektive gegen die Online-Verfügbarkeit solcher Ressourcen – dass Digita- lisate Editionen nicht ersetzen, ist ja selbstverständlich). Jedermann kann sich also von gewissen Eigenarten leicht selbst ein Bild machen. Hingegen gibt es eine Reihe von editionsrelevanten Fragen, zu denen man wenig Auskunft erhält: Wie ist die Qualität dieses griechischen Zeugen einzuschätzen? Wie verhält sich die griechische Überlieferung zur lateinischen und syrischen Übersetzung? Was sind die Prinzipien bzw. Tendenzen dieser Übersetzungen? Zudem gibt es offenbar diverse codices descripti. Dass diese zur Edition nicht verwendet worden sind, ist richtig, doch hätte man sie zumindest nennen können – und sei es nur als Teil der Wirkungsgeschichte (ebenso wie ja auch die Geschichte nach Erfindung des Buchdrucks aufgerollt wird, CL–CLVII). Die Datenbank Pinakes nennt zehn handschriftliche Zeugen für unseren Text (die meisten allerdings aus der Neuzeit).
Der kritische Apparat enthält alles Wissenswerte in zuverläs-siger Weise – aber leider auch noch viel mehr. Es fällt oft schwer, das (wenige) Relevante aus dem (vielen) Überflüssigen herauszufiltern. Auflösungen von Abkürzungen in der Handschrift, orthographische Varianten, Iota ad-/subscripta etc. müssen nicht verzeichnet werden. Bei einem codex unicus kann der Apparat knapp ausfallen und sich auf eigene oder fremde Konjekturen be­schränken sowie auf wichtige Varianten aus der nicht-griechischen Überlieferung. (Eine eher technische Note: Das Zeichen »]« ist vielfach redundant gebraucht, für Auslassungen ist eher das Zeichen »<« als »>« üblich.)
Während es über die Echtheit des Werkes keine ernsthafte Diskussion geben muss, ist die Frage der Datierung innerhalb der vielen Jahrzehnte der literarischen Tätigkeit Eusebs kompliziert. Hier müssen mühsam Indizien gesammelt werden (LXXXIV–CXLIX), und diese Indizien sprechen eher für die erste als für die zweite Hälfte der Schaffenszeit. Darin ist dem Herausgeber Recht zu geben. Dass aber innerhalb dieser Hälfte eine nähere Einschränkung möglich sein soll, weil das Werk im genannten codex unicus »Euseb, [dem Schüler] des Pamphilus, Bischof von Caesarea in Palästina« zugeschrieben wird (so die Formulierung im Titel, fol. 2r), leuchtet nicht ein (CXXXVI–CXXXIX). Diese Formulierung ist für jeden Gebildeten in Byzanz, der überhaupt einmal etwas von Euseb gehört hat, derartig geläufig und normal, dass man daraus beim besten Willen nicht ableiten kann, Euseb müsse zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Werkes bereits Bischof gewesen sein. Aus Sicht der Nachwelt ist er es in jedem Fall gewesen, und die Vorstellung, dass der Titel in einer mittelbyzantinischen Handschrift bis in die Einzelheiten der Formulierung auf den Autor selbst zurückgeht, sollte man aufgeben. Daher entfällt ein terminus post quem. Als terminus ante bleibt sicher das Jahr 325 (Nennung des Onomastikon im Jesaja-Kommentar) und möglicherweise das Jahr 314 (Nichterwähnung einer Provinz Nea Arabia, CXIX–CXXI) bestehen.
Während die Überlieferung des griechischen Textes, wie gesagt, auf einer einzigen Handschrift aufruht (von der ihrerseits ganz wenige weitere byzantinische Zeugen abhängen), ist das Onomastikon im lateinischen Westen eigenartigerweise sehr beliebt gewesen. Die Übersetzung des Hieronymus ist in etwa 130 Handschriften auf uns gekommen (CLXXIII–CLXXVI), obwohl doch dem lateinischen Leser die palästinische Topographie zumeist ganz buchstäblich fernlag. Die Edition dieses Textes wäre eine eigene, lohnende Aufgabe, die noch zu tun bleibt. Timm bietet den Text der Vorgängerausgabe von Erich Klostermann (1904), der sich für das Lateinische im Wesentlichen auf drei frühmittelalterliche Handschriften gestützt hatte. Dass dieser Text von größter kulturgeschichtlicher Bedeutung ist, steht außer Frage. Daher ist es gut, dass er nun auch in einer deutschen Übersetzung bequem zugänglich ist (Georg Röwekamp, Eusebius/Hieronymus. Liber locorum et nominum: Onomastikon der biblischen Ortsnamen [Fontes Christiani 68], Freiburg 2017). Schade, dass dieses nützliche Büchlein und die große Edition von Timm zeitgleich erschienen, so dass der eine den anderen nicht berücksichtigen konnte.
Dass der lateinische Text für die Rekonstruktion des Originals sehr wichtig ist, leidet gleichfalls keinen Zweifel. Wie groß allerdings in dieser Hinsicht der Erkenntnisgewinn durch eine umfassendere Erschließung der lateinischen handschriftlichen Überlieferung wäre, ist nicht a priori klar. Möglicherweise stünden am Schluss Aufwand und Wirkung in einem ungünstigen Verhältnis zueinander. Insofern ist die Entscheidung des Herausgebers, dies nicht auch noch zu tun, durchaus nachvollziehbar.
Hingegen hat Timm schon vor Jahren die Grundlage gelegt für die angemessene Auswertung der syrischen Überlieferung (Stefan Timm, Das Onomastikon der biblischen Ortsnamen. Edition der syrischen Fassung mit griechischem Text, englischer und deutscher Übersetzung [TU 152], Berlin 2005). Zusammen mit der um­fassenden Untersuchung der Schriftvorlagen (Ders., Eusebius und die Heilige Schrift. Die Schriftvorlagen des Onomastikons der biblischen Ortsnamen [TU 166], Berlin 2010) liegen nun alle Bausteine für eine sehr gute Kenntnis der Arbeit des Euseb vor. Auch wenn die jetzt publizierte Edition noch nicht das allerletzte Wort in dieser Sache sein kann, ist dem Herausgeber sehr zu danken, dass er die Materialien detailgenau, umfassend und zuverlässig zugänglich gemacht hat.