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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

934–936

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hengel, Martin, u. Anna Maria Schwemer

Titel/Untertitel:

Geschichte des frühen Christentums. Bd. II: Die Urgemeinde und das Judenchristentum.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XXIV, 790 S. Lw. EUR 134,00. ISBN 978-3-16-149474-1.

Rezensent:

Markus Öhler

Nach dem ersten Band der Darstellung der Geschichte des frühen Christentums, der sich mit Jesus von Nazareth beschäftigte, dauerte es nun doch zwölf Jahre, in denen Anna Maria Schwemer das von Martin Hengel übernommene Manuskript überarbeitete und deutlich erweiterte. Dies tat sie u. a. in breiter Aufnahme zahlreicher Arbeiten von Martin Hengel und ihr selbst. Leser und Leserinnen werden daher auf Schritt und Tritt auf frühere Publikationen verwiesen und haben hier ein Stück weit die Summe dieser Forschung vor sich. Vor allem auf Schwemer gehen die Ausführungen zur Geschichte des Judenchristentums im 2. Jh. sowie die Aufarbeitung der Trennungsgeschichte von Juden und Christen zurück.
Der Band geht der Geschichte in vier großen Abschnitten nach. Teil I widmet sich der »Urgemeinde«, wobei neben der Ereignisgeschichte auch »Inhalte urchristlicher Lehre« behandelt werden. Im zweiten Abschnitt werden die Ausbreitung und Anfänge der Völkermission thematisiert, darunter die Verkündigungstätigkeit des Philippus und des frühen Paulus. Der Auseinandersetzung um die Stellung der Völker innerhalb des entstehenden Christentums ist der dritte Teil gewidmet. Hier werden – teilweise sehr ausführlic h– einzelne Ereignisse behandelt: die Corneliusgeschichte, die Ge­schichte des Christentums in Syrien, die Verfolgung durch Agrip-pa I., die »erste Missionsreise«, »Apostelkonzil« und »Aposteldekret« sowie der antiochenische Zwischenfall. Teil IV rekonstruiert schließlich die weitere Geschichte des palästinischen Judenchris-tentums, vor allem den Herrenbruder Jakobus und die »Ausstoßung […] aus dem Judentum«.
Angesichts dessen, dass hier zu einem großen Teil Ergebnisse von mehreren Jahrzehnten Forschung präsentiert werden, werden jene, die die Arbeiten der Vf. kennen, selten überrascht sein. So fungiert der Band in Abschnitten als eine Art Hengel-Kompendium. Zugleich sind die kritischen Einwände gegen diese Rekonstruktion dieselben wie auch schon früher. Einige möchte ich bei aller Wertschätzung für dieses Buch kurz nennen.
Das Zutrauen in den Quellenwert der Apostelgeschichte ist durchwegs hoch, auch wenn ab und zu darauf verwiesen wird, dass »die lukanische Darstellung […] in dieser Form – wie so oft – un­wahrscheinlich« sei (147). Die Kriterien für eine solche Evaluierung sind freilich nicht immer deutlich. Sie hängt zudem an Voraussetzungen zum Verfasser der Apostelgeschichte, der als Paulusschüler die Protagonisten seiner Erzählung kannte, sowie an Spekulationen über benutzte Quellen und an einer frühen Datierung des Textes. Wie in der Apostelgeschichte ist daher auch das hier vorgestellte Bild der Entstehung des frühen Christentums von weitgehender Einheit geprägt. Alle Grundlagen frühchristlicher Theologie-, Ritual- und Ethosbildung hätten bereits in der Jerusalemer »Urgemeinde« vorgelegen, inklusive Sühnetodtheologie und Völkermission.
Die Verkündigung an die Völker habe Petrus selbst schon in Jerusalem durchgesetzt, auch wenn Paulus den »Primat« bei der Völkermission beansprucht (338) und diese als Erster theologisch durchreflektiert habe (311). Hintergrund der Ausweitung der Verkündigung durch die Jerusalemer Gemeinde sei die Wahrnehmung Syriens als Teil des Abraham versprochenen Landes gewesen (Gen 15,18). Die Vf. meinen auch, dass Philippus noch nicht zu den »Heiden« gegangen sei: Die »Stadt Samariens« (Apg 8,5) wird als Sychem, nicht als Sebaste identifiziert, und der Äthiopische Kämmerer als Proselyt interpretiert. Um die Jerusalemer Gemeinde als Ort praktisch aller theologischen Entwicklungen halten zu können, wird den nach Antiochien geflüchteten Hellenisten nur eine s ekundäre Rolle zugestanden. Ob man eine Rekonstruktion, die deutlicher auf die Unterschiede verweist, aber tatsächlich als Postulat einer »unverbindlich diffuse[n] Vielfalt« (94) diskreditieren muss? Wird man der Sachlage gerecht, wenn die Hellenisten der Jerusalemer Gemeinde als ausschließlich »durch ihre Sprache [von den Hebräern] geschieden« (140) verstanden werden? Ist denn Sprache nicht auch Kultur? Und ist es notwendig, als Alternative zur eigenen Deutung nur »hellenistische[n] Synkretismus« und »ähnliche moderne Kunstgebilde« an die Wand zu malen (147)? Fraglich scheint mir auch die wiederholte Beteuerung, die Jerusalemer Gemeinde hätte sich nur um des lieben Friedens willen am Tempelkult weiter beteiligt (z. B. 421). Mt 17,27 kann gegen Apg 2,46; 21,26 und die Jakobustradition die Last dieser weitgehenden An­nahme m. E. nicht tragen, noch dazu, wenn man wie Schwemer das Matthäusevangelium für eine späte Bearbeitung des Lukasevangeliums hält (VI).
In einem gewissen Widerspruch zu Hengels eigenem Jakobusverständnis argumentiert Schwemer im Anschluss an R. Deines für eine deutliche Frühdatierung des Jakobusbriefes. Demzufolge habe sich der Herrenbruder selbst in einem Sendschreiben an die aus Jerusalem geflüchteten Gemeindeglieder gewandt, um nach dem Abgang des Petrus seine Übernahme der Leitung zu verlautbaren und die Judenchristen in der Diaspora zu trösten (vgl. R. Deines, Jakobus. Im Schatten des Größeren, BG 30, Leipzig 2017).
Innerhalb der Debatte über »den ›Trennungsprozess‹ zwischen Juden und Chris­ten« geht Schwemer, die diesen Abschnitt verfasst hat, ausführlich auf die Verfolgungen durch die Hohepriester und den »Missionseifer« der Judenchris-ten ein (425). Sie setzt die »Ausstoßung aus der Synagoge […] um Christi willen« (439) in den Jahrzehnten von 70 bis 132 n. Chr. an und interpretiert die Geburtsgeschichten im Lukas- bzw. Matthäusevangelium als Reaktion auf jüdische Polemik. Auch die Judenchristen des Matthäusevangeliums seien schon getrennt von der Synagoge gewesen, wenn auch nicht freiwillig (558 f.). Schon 62 n. Chr. sei die Jerusalemer Gemeinde nach Pella geflüchtet, um nach dem Krieg allerdings sogleich wieder zurückzukehren. Die Rolle des Jakobus sei in den Jahrzehnten davor die eines Vermittlers zu den jüdischen Autoritäten gewesen, wenngleich die Blasphemie, »die im Bekenntnis zu dem Ge­kreuzigten als Menschensohn und in der Opfer- und Kultkritik der Judenchristen bestand« (500), schließlich zu seinem Tod geführt hätte. Irritierend ist hier u. a., dass immer wieder von »der Synagoge« die Rede ist, obwohl die Vf. doch sehr wohl um die Un­terschiede zwischen den einzelnen Formen des antiken Judentums wissen.
Auseinandersetzungen mit abweichenden Forschungspositionen sind häufig auf die religionsgeschichtliche Schule oder Vertreter existentialer Interpretation ausgerichtet. Neuere Arbeiten werden seltener besprochen mit Ausnahme jener, die auf Anregungen von Hengel zurückgehen. Literaturverzeichnis und Register nehmen erstaunliche 177 Seiten ein, also ein Viertel des Buches.
Der Band ist folglich einerseits eine pointierte Darstellung des Judenchristentums, die auch als Gegengewicht zu anderen Lehrbüchern zur Geschichte des frühen Christentums dienen kann. Andererseits bietet er die Möglichkeit, die eigene Rekonstruktion des frühen Christentums nachzuschärfen, gerade auch in der Kritik an den hier vorgelegten Argumenten. So oder so ist es Anna Maria Schwemer zu danken, dass sie Martin Hengels Erbe hier fortgeführt und zugleich eigene Akzente gesetzt hat.