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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

931–933

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dannenmann, Tanja

Titel/Untertitel:

Emotion, Narration und Ethik. Zur ethischen Relevanz antizipatorischer Emotionen in Parabeln des Matthäus-Evangeliums. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics. Bd. XI.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XV, 524 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 498. Kart. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-157512-9.

Rezensent:

Kurt Erlemann

Die Studie von Tanja Dannenmann wurde 2019 unter der Ägide der Mainzer Neutestamentler Ruben Zimmermann und Friedrich Wilhelm Horn als Dissertation angenommen und für den Druck leicht überarbeitet. Kern der Studie ist die Entwicklung einer Methodik zur Analyse emotiver Aspekte bei der Rezeption narrativer Texte (»emotive Heuristik«) und die Relevanz dieser Aspekte für die neutestamentliche Ethik. Im Fokus stehen besonders die Parabeln des Matthäusevangeliums. Anhand dreier Textbeispiele (Schalksknecht, Mt 18,23–35; treuer und untreuer Knecht, Mt 24,45–51; anvertraute Talenten, Mt 25,14–30) wird die Tragfähigkeit und Aussagekraft der Methodik überprüft; das und die Entwicklung der Methodik selbst (Kapitel 3 und 5) bilden das Herzstück der Studie.
Die Kernthese findet sich in der Einleitung: »Es legt sich der Schluss nahe, dass in einer temporal begründeten Ethik Emotionen handlungspragmatisch ausschlaggebende Bedeutung zukommt, da sie Vergangenheit oder Zukunft zu vergegenwärtigen vermögen« (4). Die Verifizierung der These erfolgt durch die Entwicklung der »emotiven Heuristik« und die nachfolgenden Textanalysen.
D. schlägt zur Grundlegung einen weiten forschungsgeschichtlichen Bogen (Kapitel 1, »Thematische Horizonte«): Der sogenannte »emotional turn« in Human- und Geisteswissenschaften wird gewürdigt, ebenso die Berücksichtigung emotionaler Aspekte in der biblischen Exegese. Definitionen zu Begriffen wie Emotion, Affekt, Gefühl, Empathie, wobei »Emotion« als Sammelbegriff Verwendung findet (46). Der Fokus liegt auf den durch Narrationen ausgelösten Gefühlen, Werturteilen und Verhaltensweisen (53). Die Verhältnisbestimmung von Emotion und Ethik in der antiken Philosophie und Rhetorik schärft den Blick auf das Proprium des biblischen Emotionsbegriffs: »Gott wird emotional gedacht und diese Emotionalität begegnet als selbstverständliche und wertvolle Komponente der Theologie« (100). Die Relevanz von Emotionen für die Ethik wird durch naturwissenschaftliche und systematisch-theologische Erkenntnisse unterfüttert.
Es folgt die Textpragmatik narrativer Bibeltexte, die »anhand ihrer Figurendarstellung […], wenn auch häufig nur implizit, Ethik [vermitteln]« (129). Die Gleichnisse als emotive, metaphorische und ethische Narrationen eigneten sich besonders dazu, mittels fik-tionaler moralischer Situationen und Handlungen sowie mittels nicht-direktiver Sprache beim Rezipienten Empathie zu erzeugen und eine Verhaltensänderung zu bewirken (»Persuasionsprozess von innen«, 136). Die Betrachtung einzelner textpragmatischer As­pekte zeige, wie die Überzeugung im Einzelnen funktioniert. Der Vorzug der Parabeln bestehe in der ganzheitlichen Erfahrung einer moralischen Situation, die einen moralisch-ethischen Lernprozess in Gang setzt (142). Wie diese Erfahrung zustande kommt, ist durch differenzierte Analyse emotiver Prozesse bei der Produktion und Rezeption der Texte zu klären.
Zu Beginn des Methodik-Kapitels stellt D. ein deutliches Defizit der Exegese auf dem Feld »emotiver Heuristik« und damit in der textpragmatischen Analyse gleichnishafter Texte fest (Kapitel 3, 154–162). D. strebt keine Erweiterung des historisch-kritischen Methodenkanons, sondern einen weiteren »rezeptionsästhetischen Fragehorizont innerhalb der historisch-kritischen Methode« an (167). Die eigentliche Methode wird anhand von vier Leitfragen entwickelt (Wie lassen sich Emotionen klassifizieren? Welche direkten/indirekten Emotionen kommen vor? Welche Emotionen sollen die Rezipienten empfinden? Wollen Emotionen eine Verhaltensänderung herbeiführen?). Die Mechanismen emotionaler Textrezeption werden in einen deskriptiven, empathischen, sympathetischen und pragmatischen Rezeptionsvorgang differenziert (178 ff.) und anhand ausgewählter matthäischer Texte konkretisiert. Das Ergebnis ist ein »Werkzeugkoffer« zur Erschließung emotionaler Rezeptionsprozesse (192). Ein Frageraster (Frage nach Figuren und deren Handeln, nach Situationen und Geschehnissen, nach Raum und Zeit als Emotionsträger) sorgt für die Anwendbarkeit »emotiver Heuristik« und wirkt der Gefahr von Willkür und Subjektivismus in diesem dafür anfälligen Feld entgegen (200–221).
Anschließend wendet D. die Methodik auf Textbeispiele an (Kapitel 4 und 5). Die Auswahl der drei eingangs erwähnten Gleichnisse wird mit deren expliziter Emotionalität begründet (271). Die nach dem beschriebenen Frageraster durchgeführten Textanalysen ergeben laut D. folgendes Ergebnis: Mt 18,23–35 zeige unterschiedliche Empathiepotenziale der Gleichnisfiguren und eine wesentlich temporal begründete ethische Forderung (Verweis aufs Endgericht). Die Genugtuung des Rezipienten über die letztliche Bestrafung des »Schalksknechts« entlarve die Unfähigkeit, die im Vorfeld des Gleichnisses geforderte, grenzenlose Vergebungsbereitschaft zu zeigen (324). – In Mt 24,45–51 vermittle ein integratives Zeitverständnis, in welchem die Zukunft [des Endgerichts] in die Gegenwart hereingenommen wird, die ethische Handlungsanweisung. Wie in Mt 18,23–35 änderten sich am Ende der Parabel die Rezeptionsemotionen drastisch: Durch metaphorische Hinweise auf das Endgericht werde die Furcht vor dem eigenen Erleben dieses Geschehens handlungsleitend (362). – Mt 25,14–30 stelle die Angst des dritten Knechts als handlungsblockierende Emotion heraus. Die Rezipienten sollen sich stattdessen an zuversichtlicher Freude (Belohnung der anderen Knechte) und »respektvoller Furcht« vor dem, was kommt, orientieren (408 ff.).
Das Resümée beschreibt den Mehrwert der emotiven Textanalyse. D. hebt auf spannende hermeneutische Wendungen am Schluss der Texte (»emotionaler Twist«) und auf die die ethische Pragmatik verstärkende Funktion der Emotionen ab. Die Rezeptionsemotionen übernähmen eine bedeutende Funktion in der Plausibilisierungsstrategie matthäischer Moral. Die Antizipation künftigen Unheils (Endgericht) sei ein wichtiger Trigger für die intendierte Verhaltensänderung: »Sowohl das vergangene Heilsgeschehen als auch das kommende Gericht Gottes stellen die Gegenwart unter die Möglichkeit und Forderung, das Leben am Willen Gottes auszurichten« (432, kursiv im Original). Die Zeit erscheine dabei als Geschenk und Aufgabe zugleich. Die Gegenwartsbezogenheit der antiken bäuerlichen Gesellschaft werde durch die Ansage der Zukunft Gottes aufgebrochen (438 f.). Die matthäischen Parabeln erscheinen, so betrachtet, als Anleitung zu einer emotional kompetenten Reaktion auf die Mitmenschen (452).
Kritische Würdigung: Die Studie bietet eine fundierte und differenzierte Analyse emotiver Leserlenkung matthäischer Parabeln und damit eine sinnvolle Ergänzung der exegetischen Textpragmatik. Manche Ergebnisse bestätigen eindrucksvoll frühere Er­kenntnisse zum Gottesbild der Gleichnisse und zum qualitativen Zeitbegriff der Bibel. Die Beschränkung auf drei Musterbeispiele ist arbeitsökonomisch nachvollziehbar. Als Bewährungsprobe für die »emotiven Heuristik« wäre indes eine Ausweitung der Methodik auf andere (Gleichnis-)Texte spannend, in denen die Emotionalität nicht so hervorsticht. Die Einsetzbarkeit der Methodik in exegetischen Proseminaren erscheint aufgrund des zu treibenden Aufwands begrenzt; für künftige wissenschaftliche Studien bietet der Beitrag aber eine wertvolle Erweiterung des Fragehorizonts.