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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

926–928

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Teugels, Lieve M.

Titel/Untertitel:

The Meshalim in the Mekhiltot. An Annotated Edition and Translation of the Parables in Mekhilta de Rabbi Yishmael and Mekhilta de Rabbi Shimon bar Yochai. With the assistance of E. van Eenennaam.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XIV, 477 S. = Texts and Studies in Ancient Judaism, 176. Lw. EUR 159,00. ISBN 978-3-16-155648-7.

Rezensent:

Andreas Lehnardt

Der Band von Lieve M. Teugels ist der erste einer geplanten Reihe von kritischen annotierten Verzeichnissen zu den rabbinischen Gleichnissen. Er ist hervorgegangen aus einem seit 2014 von der Netherlands Organisation for Scientific Research (NWO) geförderten Projekt an den Universitäten Utrecht und Amsterdam. Das an Informationen sehr reiche Buch bietet zwei Einleitungen: Die erste führt in die Geschichte und in den aktuellen Stand der rabbinischen Gleichnisforschung ein, die zweite in die Gleichnisse aus den Mekhiltot und den tannaitischen Kommentaren zu Teilen des Buches Exodus. Der Hauptteil des Bandes bietet 50 Editionen und Auslegungen von frührabbinischen Gleichnissen.
Das Ziel der kommentierten Edition und neuen Übersetzung der Gleichnisse ist also zweifach: Es geht zunächst um das Studium der besten möglichen Textfassungen anhand eines meist synoptisch präsentierten Vergleichs von Auszügen aus den vollständigen Handschriften und von (Geniza-)Fragmenten. Zudem werden in einem Kommentar die Bedeutung und Funktion der Gleichnisse in ihrem historischen Kontext erläutert. Die Editionen basieren auf den Vorarbeiten von Menachem Kahana an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Dort sind in den vergangenen Jahrzehnten grundlegende Verzeichnisse und Studien zur textlichen Überlieferung der Mekhiltot erarbeitet worden, die nun für die Meshalim fruchtbar gemacht werden. Das Buch ist also deutlich der Jerusalemer Schule verpflichtet, die sich deutlich von der »a-historischen« Schule Arnold Goldbergs, in der allein die literarischen und strukturellen Formen und kontextuellen Bezüge im Fokus standen, unterscheidet. Der von T. vertretene Ansatz versucht literarische Forschungsansätze und textkritische Methodik miteinander zu verbinden und für das Verständnis der Texte fruchtbar zu machen. Mit Stemberger sieht T. dabei die synchrone Analyse der Gleichnisse als wichtigen methodischen Arbeitsschritt an, der jedoch – nach ihrer jahrelangen Verfolgung dieser Methode auf der Basis des Midrasch Aggadat Bereshit (vgl. Teugels 2001) – nicht mehr strikt und als der alleinig befriedigende angesehen werden könne (6). Im Unterschied zu einem Teil der älteren und aktuellen neutestamentlichen Gleichnisforschung vertritt T. die Auffassung von der spezifischen Prägung der rabbinischen Gleichnisse, die nicht nur formal, sondern auch inhaltlich nicht ohne Weiteres mit den Gleichnissen des Neuen Testaments in eins zu setzen sind. Die Einleitung betrachtet meshalim zunächst als ein Genre des rabbinischen Midrasch. Die Einleitung bietet u. a. eine konzise Definition, was ein idealtypisches komplettes Midrasch-Gleichnis (Mashal) ausmacht (13). Terminologisch eng an Goldberg angelehnt werden dabei vor allem die »Sache« (issue) und grundlegender Vers sowie »Korrelat« (Nimshal) unterschieden. Bemerkenswert ist die Einbeziehung antizipierender Midraschim, die ein Mashal bieten, die sich auf einen vorangehenden Midrasch beziehen (18–19). Deshalb werden dann in den analysierten Texten weitere literarische Einheiten (»co-texts«) berücksichtigt. Die in den Katalogteil aufgenommenen Texte orientieren sich trotz dieser über die Kriterien von Goldberg hinausgehenden Feinunterscheidungen zunächst an den älteren Zusammenstellungen rabbinischer Gleichnisse. Viele der zusammengestellten Gleichnistexte sind der Forschung also bereits gut bekannt, werden hier jedoch methodisch verfeinert analysiert. Instruktiv und in kritischer Auseinandersetzung mit der vor allem durch die Beschäftigung mit den neutestamentlichen Gleichnissen geprägten Forschung ist der gebotene Überblick über die ältere Literatur zu rabbinischen Meshalim. Von Adolf Jülicher und Paul Fiebig als Repräsentanten der älteren christlichen Forschung wird die Literatur bis hin zu den Arbeiten David Flussers und den großen Sammlungen von Ziegler und Appelbaum zu den Königsgleichnissen sowie von Clemens Thoma und seinen Kollegen zu amoräischen Midraschim kritisch gemustert. Dabei werden auch weniger bekannte Titel – z. B. von Steven Notley, Ze’ev Safrai und Arie Kooyman – erwähnt. Breiten Raum nimmt die Vorstellung der Methodik und Terminologie der Schule Arnold Goldbergs ein. Dieser Ansatz hat die Forschung methodisch lange dominiert und zahlreiche Autoren vor allem im deutschsprachigen Raum beeinflusst. Flussers Deutung der Parabeln wird mit Yona Frankels hermeneutisch orientiertem Ansatz kritisiert, da er insbesondere die Gleichnisse Jesu zu weitgehend als rhetorische Parabeln einordnete und damit auf die Stufe antiker griechischer und lateinischer Gleichnisse stellte. Diese paganen Gleichnisse waren jedoch nicht auf Interpretation aus, sondern suchten ihre Rezipienten ohne einen direkten Bezug auf eine überlieferte Schrift zu überzeugen. Die Darstellung und Kritik des Goldbergschen Ansatzes durchzieht dabei das gesamte Werk, auch wenn die Terminologie nur leicht verändert wiederverwendet wird:
Goldbergs Gleichnisse sind so bei T. »parables« or »meshalim« (42). Als Mashal wird eine Geschichte mit einem Plot definiert, der nicht mit einem einfachen Vergleich verwechselt werden darf (45). Präziser wird von T. auch noch der »Midrasch vor dem Mashal« beschrieben. Auch nimmt sie Alexander Samelys formale Definition aus seiner Einleitung Forms of Rabbinic Literature (2007) auf, wobei dieser rein formale Ansatz weiterführend auf die traditionelleren Ansätze bei Yonah Fraenkel bezogen wird. Kontrastierend dazu wird auch der Dissens zwischen Daniel Boyarin und David Stern und ihrer Interpretation rabbinischer Gleichnisse beleuchtet: Die Differenz gründet nach T. in der Frage, was genau das Nimshal konstituiert und wie es auf den biblischen Basistext, auf den »Midrasch vor dem Mashal« und auf die »Sache« Bezug nimmt (55). Ontologisch und chronologisch sollte nach beiden Autoren der Nimshal gegenüber dem Mashal Priorität besitzen. Doch während für Stern der Nimshal bereits auf einer ideologischen Vorentscheidung basiert, die nicht vollkommen auf Exegese beruhen muss, sondern auch allgemeine Erfahrungen berücksichtigen kann, möchte Boyarin Midrasch generell allein auf textueller Basis erklären. Für die Analyse der Meshalim in den Mekhiltot herangezogen werden auch wegen dieser Ansätze breiter angelegte Studien zu den theologischen und ideologischen Voraussetzungen der Rabbinen, etwa im Hinblick auf die Einheit des dreigeteilten rabbinischen Bibelkanons und das Interesse an der Vermittlung einheitlicher Werte und Vorstellungen. So wie rabbinischer Mi­drasch generell an ideologische Voraussetzungen gebunden ist, so sind dies auch die darin überlieferten Gleichnisse.
Eine knappe Einleitung in die Mekhiltot de-Rabbi Yishma’el (MRI) und de-Rabbi Shim’on ben Yoḥai (MRS) ist der eigentlichen Textsammlung vorangestellt. Beide Werke entstanden im 3. Jh. nach der Zeitrechnung als separate Bücher in zwei unterschiedlichen Schulen, was sich besonders an den halachischen Differenzen, aber auch an den Rabbinennamen festmachen lässt. MRS ist nur in Fragmenten erhalten oder durch Zitate in mittelalterlichen Schriften belegt. Das Verhältnis zu den anderen halachischen Midraschim und ihren verschiedenen Teilen ist komplex; manche Texte sind noch nicht umfassend wissenschaftlich ediert. T. kündigt eine neue Edition der tannaitischen Midraschim zu Deuteronomium an (67, Anm. 275).
Im Hinblick auf die Meshalim ist zu beachten, dass sie sich in beiden Mekhiltot häufig in parallelen Fassungen finden, die vermutlich auf eine gemeinsame Überlieferung zurückgehen, bevor sie in die Mekhiltot unter je eigenen redaktionellen Motiven (etwa ein stärker ausgeprägter Universalismus in MRI) aufgenommen wurden. Obgleich die Notwendigkeit einer neuen Edition von MRI durch Kahana in seiner Teiledition der beiden Abschnitte über Amalek (1999) belegt wurde und MRS zu einem großen Teil nur durch Zitate aus dem jemenitischen Midrash ha-gadol und einer »Yalkut Temani« bezeichneten Handschrift be­kannt ist, lassen sich die Meshalim in den Mekhiltot also auch gesondert edieren und analysieren. Mit Kahana ist dabei von der chronologischen Priorität der Fassungen in MRI auszugehen. Zahlreiche Indizien in MRS deuten auf spätere Bearbeitungen hin. Der heutige Anfang von MRS, der keine Parallele in MRI hat, dürfte auf eine Hinzufügung aus der Zeit »Tanchuma-artiger Midraschim« zurückgehen. Die von Jacob Mann zuerst publizierte Bücherliste aus der Kairoer Genisa (T.-S. Misc. 36.149), in der bereits der heutige Anfang von MRS belegt ist, wurde 2006 von Miriam Frenkel und Haggai ben Shammai neu herausgegeben. Auffällig ist, dass sich die Beobachtungen zum literarischen Verhältnis der Gleichnisse in den zahlreichen innerrabbinischen Parallelüberlieferungen allein auf die Standardeditionen stützen. Parallelen im Bavli oder späteren Midraschim haben jedoch gelegentlich besser verständliche Fassungen der Gleichnisse bewahrt. Gelegentlich würde eine vollständige Aufarbeitung der handschriftlichen Überlieferung der Gleichnisse in den Parallelen den Rahmen der Aufarbeitung der Fassungen in den Mekhiltot sprengen. Dennoch macht eine Erklärung, wie sie etwa auf eine ausführliche Bavli Parallele MRI zu Exod. 20,5 in bAvoda Zara 54b–55a erfolgt, dass diese Version »more editing« (438) erfahren hätte, auf eine weitere Ebene der Analyse aufmerksam: Die innerrabbinische Überlieferung der Gleichnisse stellt im Grunde eine erste Kommentierung vieler Texte dar und verweist auf redaktionelle Anliegen und inhaltliche Deutungen. Ließe sich diese Fragestellung etwa mit der »innerrabbinischen Überlieferung« einiger Sprüche aus den Pirqe Avot vergleichen? (siehe Stemberger, 1996). In den Indizes sind neben Autoren und Bibelstellen keine der zitierten rabbinischen Parallelen aufgenommen. Für die weitere Untersuchung dieser Thematik wäre dies hilfreich ge-wesen.
Das Werk The Meshalim in the Mekhiltot bietet einen wichtigen Beitrag zur weitverzweigten Midrasch-Forschung. Es führt in den aktuellen Stand der Erschließung der ältesten Sammlungen rabbinischer Gleichnisse ein und bietet konzise Editionen, Übersetzungen sowie weiterführende Kommentare und Exkurse zu den Texten in den Mekhiltot. Zu hoffen ist, dass die so eindrucksvoll be­gonnene Reihe für die Meshalim in den anderen tannaitischen Midraschim fortgesetzt wird.