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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

924–926

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Riaud, Jean

Titel/Untertitel:

À la croisée des cultures. Les traditions judaïques à la manière grecque.

Verlag:

Paris: Les Éditions du Cerf 2017. 474 S. = Religions. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-2-204-11432-5.

Rezensent:

Jens Herzer

Jean Riaud, ehemals Professor an der Université Catholique du l’Ouest in Angers, gehört in Frankreich zu den profiliertesten Erforschern des hellenistischen Judentums, obwohl sein Werk international nur spärlich wahrgenommen wird. Am bekanntes-ten dürften seine zahlreichen und wegweisenden Arbeiten zum 4Baruch sein (Paraleipomena Jeremiou). Als Begründer der Forschergruppe »La Bible et ses lectures« hat er maßgeblich zur Förderung der Erforschung des hellenistischen Judentums beigetragen.
Der anzuzeigende Band ist ein Alterswerk R.s, gespeist aus einer reichen Forschungserfahrung. Unter der titelgebenden Perspektive der »Wegkreuzung der Kulturen« hat R. einen beeindruckenden Kommentar zu weitgehend (mit Ausnahme des Ps.-Phokylides) nur fragmentarisch und in christlicher Überlieferung erhalte-nen Schriften des präphilonisch-alexandrinischen Judentums zwischen dem 3. und dem frühen 1. Jh. n. Chr. vorgelegt, dessen Anzeige trotz der leichten Verspätung lohnt. Wie der Untertitel andeutet, geht es speziell um die Begegnung der jüdischen mit der griechischen Kultur. Es handelt sich um eine Auswahl von Schriften, die als exegetisch-philosophische und historische Literatur des hellenistischen Judentums bekannt sind: Demetrius, Artapanos, Aris-tobulos, Aristeas, Eupolemos und Pseudo-Eupolemos, Ezechiel Tragicus sowie – als poetisch-moralphilosophischer Text mit eigener Überlieferungsgeschichte herausragend – Pseudo-Phokylides.
Die Gruppierung und Auswahl der Schriften sind im Vergleich zu anderen Klassifikationen ungewöhnlich. Als Sachgrund leitend war vor allem der Bezug zur hellenistischen Transformation des Judentums in Texten, die als Vorläufer der philonischen Exegese und Theologie gelten können. In diesem Sinn sind die hier kommentierten Schriften von kaum abzuschätzendem Wert. Es sind Werke jüdischer Autoren, die sich lange vor dem heute allgegenwärtigen Philon von Alexandrien auf ganz eigene Weise mit dem Hellenismus auseinandergesetzt haben und damit das Bild des Judentums in dieser Periode maßgeblich bereichern und differenzieren. Umso bedauerlicher ist es, dass so wenig davon erhalten ist.
In seinem Kommentar bietet R. zunächst eine knappe Einleitung zur Kontextualisierung der kommentierten Schriften in der Geschichte der Hellenisierung des Orients seit Alexander dem Großen und vor dem Hintergrund der kulturgeschichtlichen Bedeutung Ägyptens bzw. der jüdischen Diasporasynagogen unter dem Einfluss der griechischen Kultur und Philosophie. R. versteht die Autoren der behandelten Werke als Vertreter einer intellektuellen jüdischen Elite (vgl. dazu bereits Jean Riaud [Hrsg.], Les élites dans le monde biblique, Paris 2008). Deren Bestreben sei es gewesen, den verbreiteten Ressentiments gegenüber dem Judentum dadurch zu begegnen, dass sie aus der Vorstellung des hohen Alters der jüdischen Religion deren Überlegenheit gegenüber der griechischen Philosophie behaupten: »Nos auteurs surent surmonter ce complexe d’infériorité en mettant en valeur leurs traditions judaïques et, ce faisant, prirent leur revanche de vaincus sur leurs vainqueurs, les Grecs« (15). Pieter van der Horst hatte dafür den trefflichen Begriff » nonproselyting religious propaganda« geprägt (Pieter van der Horst, Pseudo-Phocylides, in: J. Charlesworth [Hrsg.], The Old Testament Pseudepigrapha, Bd. 2, New York et al. 1985, 563–573: 568). In der Tat haben diese Schriften eine große Bedeutung für die Einsicht in die Komplexität des sich in ihnen widerspiegelnden helle-nistischen Judentums. Sie zeigen trotz ihres fragmentarischen Überlieferungszustandes, dass selbst der intellektuelle Gigant Philon auf den Schultern anderer jüdischer Denker vor ihm steht, die wohl kaum weniger bedeutend gewesen sind (vgl. etwa das philosophische Quaestionenwerk des Aristobulos), die griechisch schrieben, ebenso vertraut waren mit griechischer Philosophie und Kultur und entsprechend selbstbewusst auftraten. Ob das von R. unterstellte Interesse eines Überlegenheitsnachweises tatsächlich bei den Autoren selbst vorhanden war oder ihnen nicht vielmehr durch die Überlieferungskontexte (namentlich bei Clemens Alexandrinus und Eusebius von Cäsarea sowie möglicherweise durch eine philonisch gefärbte Brille) zugewachsen ist, wird man immerhin fragen können (vgl. etwa Nikolaus Walter zu Aristobulos, in: Ders., Fragmente jüdisch-hellenistischer Exegeten: Aristobulos, Demetrios, Aristeas, JSHZR III/2, Gütersloh 1980, 257–299: 263).
An den Debatten um das Alter bzw. die »Echtheit« der Fragmente beteiligt sich R. nicht zu ausführlich, wobei man zugestehen muss, dass allzu weitreichende Spätdatierungen bislang ohnehin keine hinreichenden Argumente aufbieten konnten. Das Problem des fragmentarischen Erhaltungszustands steht allerdings klar vor Augen: Es besteht nicht nur in der interessengeleiteten Auswahl der christlichen Exzerpisten, sondern auch in dem latenten Verdacht, dass man aufgrund der mehrfach vermittelten Rezeption über die Schriften des Sammlers, Dokumentators und Vielschreibers Cornelius Alexander von Milet, alias »Polyhistor«, mit tendenziellen Transformationen rechnen muss. Zudem ist manches (z. B. von Artapanos) nur im Referat bei Clemens bzw. Eusebius erhalten. Die bereits angedeutete Ausnahme bildet das Epos des Ps.-Phokylides, zu dem die Einleitung deutlich ausführlicher ausfällt und dessen Kommentierung den vergleichsweise größten Teil des Bandes einnimmt (295–438).
In der Kommentierung der einzelnen Schriften folgt R. einem einheitlichen Schema: Nach einer kurzen historischen Einordnung und inhaltlichen Einführung werden zunächst die Texte der überlieferten Fragmente in französischer Übersetzung geboten (basierend auf der Textausgabe von Albert-Marie Denis, Fragmenta pseudepigraphorum quae supersunt graeca, PVTG 3, Leiden 1970), die kontextuelle Verortung skizziert und anschließend im Stil der Annotation kommentiert; mit dem fehlenden griechischen Text entfällt auch die textkritische Arbeit. Im Vordergrund stehen Er­läuterungen zu Namen, Daten und Sachverhalten sowie die Benennung biblischer und außerbiblischer Bezüge. Letztere reichen von der jüdisch-hellenistischen bis hin zur rabbinischen Literatur, und sachgemäß gehören Philon und Josephus zu den Hauptreferenzen. Die Annotationen sind materialreich, oft auch exkursartig zu be­stimmten theologischen, historischen oder personalen Aspekten und – obwohl ohne Anmerkungsapparat – ausgesprochen in­formativ und ertragreich. Sie bieten damit eine reichhaltige Fundgrube aus dem Schatz des erfahrenen Exegeten, der daraus die traditionsgeschichtliche Vernetzung und die Einbettung dieser Texte in den breiten Strom frühjüdischer Literatur anschaulich erschließt. Der Klappentext spricht wohl nicht zu Unrecht von einem »monument«. Dass nun eine solche Einführung und ein solcher Kommentar zu diesen Werken der jüdischen Literatur in französischer Sprache vorliegen, füllt tatsächlich ein Desiderat der Forschung. Ein umfangreiches Stellenregister sowie ein Register antiker und moderner Autoren hilft, den gehaltvollen Band zu erschließen.