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Ausgabe:

Oktober/2020

Spalte:

922–924

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Clemens, Lukas, and Christoph Cluse [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Jews of Europe around 1400. Disruption, Crisis, and Resilience.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2018. VIII, 287 S. m. 3 Abb. u. 1. Kt. = Forschungen zur Geschichte der Juden. Abt. A: Abhandlungen, 27. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-447-11121-8.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

Der Sammelband enthält Texte in deutscher, englischer und französischer Sprache, die auf einer Konferenz zum Thema »Europas Juden um 1400: Brüche, Krisen und Resilienz« vom 29.9. bis 2.10. 2013 vorgetragen wurden. Ziel war die Vorbereitung eines DFG-Projekts zum Thema »Resilience: Phases of Societal Upheaval in Dialogue between Medieval Studies and Sociology«, das im Juli 2016 in Trier beginnen konnte. Um die »Resilienz« der jüdischen Minderheit im christlichen Europa, also um die Frage, inwiefern die Juden die Fähigkeit besaßen, mit den Krisen des Mittelalters – vor allem mit der Katastrophe des »Schwarzen Todes« (1348–1351) und den anschließenden Judenverfolgungen – umzugehen und durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen Auswege zu finden, geht es in den Beiträgen des Bandes.
Der einleitende Aufsatz von Michael Schlachter (»Zur Reorganisation jüdischen Lebens in Aschkenas nach 1350«, 31–53) behandelt am Beispiel ausgewählter Urkunden die Rückkehr der Juden und die Neuorganisation des synagogalen Lebens nach den Pestpogromen um die Mitte des 14. Jh.s. Es folgen Einzelstudien zu Fällen individueller jüdischer »Resilienz« im späten 14. und frühen 15. Jh. Jörg R. Müller untersucht die Geschichte eines Speyerer jüdischen Kaufmanns, der vom Mainzer Erzbischof Adolf I. (1373/81–1390) die hochstiftisch-speyerische Burg Spangenberg übertragen be­kam, wobei der »Jude Kaufmann« seine persönlichen Beziehungen nutzte und ihm ökonomische Vorsorgemaßnahmen zugutekamen (73–118). Simon Neuberg bespricht jiddische Texte, die die »Wiener Ge­sera von 1420/21« (d. h. die Judenmorde und die Auslöschung der jüdischen Gemeinden im Herzogtum Österreich) zum Inhalt ha­ben (145–156).
Im Anschluss widmen sich einige Studien dem Schicksal jüdischer Auswanderer und Flüchtlinge nach Südeuropa. Alessandra Veronese (»Ashkenazi Immigrants in Northern Italy and their Relations with the Italian Jewish Population, 1380–1420«) stellt soziale Interaktionen in Norditalien, Lucia Raspe (»The Migration of German Jews into Italy and the Emergence of Local Rites of Seliḥot Recitation«, 174–193) die durch die Migration generierte Entstehung neuer liturgischer Traditionen in den Mittelpunkt (Buß-liturgien und Ordnungen der Buß- und Fasttage im jüdischen Jahreskreis). Rena Lauer beleuchtet das Schicksal aschkenasischer Ju­den, die seit dem 13. Jh. nach Kreta eingewandert waren und dort auf Romanioten, Juden mit byzantinischem Hintergrund, gestoßen waren (German Jews and Ashkenazi Ideas, 195–219) und Juliette Sibon widmet sich (»The Jews of Marseilles around 1400«, 259–271) dem Schicksal der Juden in der südfranzösischen Mittelmeerstadt. Hinzu kommt eine Untersuchung von Claude Denjean zur Situation der Juden in Katalonien, im südfranzösischen Roussillon und in der Cerdagne (»Les juifs et la mauvaise réputation dans les conflits sociaux autour de 1400«, 221–233.)
Besonderes Interesse verdienen die Beiträge, die sich mit der Frage befassen, wie die Krisen der Zeit theologisch verarbeitet und gedeutet wurden. Maurice Kriegel (»Paul de Burgos et Profiat Duran déchiffrent 1391«, 235–257) untersucht die Reaktion zweier spanischer Juden auf die schrecklichen Pogrome, die die iberischen Juden 1391 heimsuchten. Für Paul von Burgos (ca. 1352–1435), ein getaufter Jude (ursprünglich Salomon Ha-Levi), der später Bischof wurde, waren die Verfolgungen ein Signal, dass die Juden endlich einsehen müssten, dass ihre Ablehnung des Messias Jesus ein Irrtum war. In seiner kurz vor seinem Tode abgeschlossenen Schrift Scrutinium Scripturarum bezieht er sich bemerkenswerterweise positiv auf die Berechnungen der messianischen Zeit, wie sie im mittelalterlichen Judentum angestellt worden waren. Diese waren demnach kein leeres Geschwätz, sondern ließen sich in die Ge­schichtsphilosophie des Konvertiten integrieren. Wenn Maimonides in seinem Brief in den Jemen die Ankunft des Messias für den Beginn des 13. Jh.s vorhergesagt hatte, so bezieht Paul von Burgos dies auf die Gründung der Bettelorden. Dieser »événement fondateur d’une nouvelle phase historique« (249), der in engem Zusammenhang mit der Entstehung der Inquisition und den Judenverfolgungen in Spanien steht, an denen Paul von Burgos sich im Übrigen beteiligte, bekommt hier makabrerweise eine messianische Deutung! Interessant ist auch, wie der Bischof von Burgos im Rückblick auf seinen Lebensweg die Etappen beschreibt, die ihn zur Konversion geführt hätten: Eine zentrale Rolle spielt dabei das Studium der Heiligen Schrift zunächst im jüdischen Kontext. Nach dem Vorbild des Paulus im Neuen Testament beschreibt der Autor sich selbst als »maître du savoir rabbinique«, der erst später zu einem »théologien de mérite« geworden sei (251).
Der spanisch-jüdische Gelehrte Profiat Duran (ca. 1350–1415), der ebenfalls zunächst konvertierte, dann aber zum Judentum zurückkehrte, sah die Ereignisse als Zeichen des nahen Endes des jüdischen Exils, aber auch als göttliche Mahnung zum vermehrten Bibelstudium. In diesem Zusammenhang geißelt er die nach seiner Wahrnehmung seit einem Jahrhundert verbreitete Neigung der Juden, sich im Lehrhaus ganz auf den Talmud konzentrieren. In seinem grammatischen Lehrwerk Ma’aseh Ephod (1403) spricht er gar von einer »›maladie‹ du talmudisme«, die sich unter den Juden in Spanien »zu unserer Zeit« zum Nachteil des Bibelstudiums verbreitet habe (237). Dabei könne nach der Zerstörung des Tempels allein die Beschäftigung mit der Bibel die Gottesbegegnung ermöglichen. Durans Eifer für die Bibel geht so weit, dass er als Heilmittel gegen die Gebrechen der Zeit ein quasi-magisches Rezitieren von Schriftversen fordert. Kriegel vermutet, dass er im Hinblick auf die Theorie des »pouvoir des mots« ( virtus verborum) unter dem Einfluss des französischen Predigers Nicolaus von Oresme (vor 1330 bis 1382) stand (238).
Aus Sicht christlicher Theologie am interessantesten erscheint der Beitrag Milan Žoncas (»The ›Imagined Communities‹ of Yom Tov Lipman Mühlhausen: Heresy and Communal Boundaries in Sefer Niẓẓaḥon«, 119–143). Der Autor trägt hier eine Neudeutung des »Buches des Sieges« vor, einer scharf antichristlichen Schrift aus der Feder des im Titel genannten Prager jüdischen Gelehrten. Nach Žonca war die Polemik (die sich im Übrigen auch gegen die Karäer und bestimmte Strömungen im aschkenasischen Judentum richtete) nur eine Facette eines größeren Projekts. Lipman Mühlhausen ging es hauptsächlich um eine Wiederbelebung der Theologie des Maimonides, wobei er philosophisches und kabbalistisches Wissen in Einklang bringen und integrieren wollte.
Ein Personen- und ein Ortsregister runden den Band ab, das Letztere aber mit für Mittelalterhistoriker merkwürdigen Angaben, wenn etwa der Eintrag »Głogów (Silesia)« neben »Görlitz (Saxony)« steht. Falls die Systematik dem Bestreben politischer Korrektheit geschuldet sein sollte, wäre dies mit dem Eintrag »Famagusta (Northern Cyprus)« gerade verfehlt. Abschließend sei einer gewissen Skepsis Ausdruck gegeben, ob das Stichwort »Resilienz« sich wirklich eignet, die in diesem ansonsten rundum gelungenen Buch beschriebenen Phänomene auf einen Nenner zu bringen.