Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2020

Spalte:

886–888

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schorch, Grit, u. Brigitte Klosterberg [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Mission ohne Konversion? Studien zu Arbeit und Umfeld des Institutum Judaicum et Muhammedicum in Halle.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2019. XXIV, 266 S. m. 6 Abb. = Hallesche Forschungen, 51. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-447-11080-8.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

Der Sammelband vereinigt Studien zur im Titel genannten Missionsanstalt für Juden und Muslime, die 1728 von Johann Heinrich Callenberg (1694–1760) gegründet wurde und die in der Einleitung der Herausgeberinnen als »gigantisches Crowdfounding-Projekt« zur Wiederbelebung des Missionsgedankens im Zeichen des Hallenser Pietismus bezeichnet wird. Zu Beginn stehen zwei Untersuchungen zur Vorgeschichte des Instituts von Christoph Bochinger (Kurztitel: »Orientalische Sprachen, Mission und Erbauung«, 3–32) und Anke Költsch über Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha (Kurz-titel: »Die Missionsbestrebungen Ernsts des Frommen«, 33–54).
Im folgenden eigentlichen Hauptteil des Bandes finden sich Beiträge, die den Begriff der »Mission« in einer Zeit, in der die Aufklärung seit dem 17. Jh. den christlichen Wahrheitsanspruch teil-weise radikal in Frage gestellt hatte, anhand von historischen Detailuntersuchungen in erfrischend unterschiedlichen Perspektiven beleuchten und gewissermaßen »dekonstruieren«. Christoph Rymatzki schildert in seiner Untersuchung (»Anspruch und Wirklichkeit der Taufpraxis in den Anfangsjahren des Institutum Judaicum von 1728 bis 1736«, 71–85), wie die mit der Institutsgründung verbundenen Hoffnungen in quantitativer und qualitativer Hinsicht enttäuscht wurden: Nicht nur blieben die ersehnten »Judenbekehrungen« aus, auch die Erwartung, das Beispiel »wahrhaft bekehrter Juden könnte ein Vorbild für die Bekehrung der ›Na­menschristen‹ werden«, erfüllte sich nicht (73 f.). Stattdessen be­richten die Akten von gescheiterten Konversionen, durchreisenden Taufbetrügern und geschäftstüchtigen Juden, die die ihnen angebotenen Missionstraktate käuflich erwarben, zur Enttäuschung der Missionare aber sogleich mit Gewinn weiterverkauften.
Lutz Greisinger berichtet (Kurztitel: »Selbst- und Fremdbilder in Reisetagebüchern von Missionaren«, 87–97) von einem methodischen Vorgehen der Missionare, das (nach dem Urteil von Walter Beltz) wie »eine aufklärerische Bestandsaufnahme via Feldforschung der Religionen Europas, insonderheit des Judentums« anmutet. Die Reisetagebücher des Missionars Johann Georg Widmann (1696–1753), der sich in Polen »Rabbi Jochanan« nennt (89), kommen fast wie Dokumente einer »teilnehmenden Beobachtung« daher, wie sie in der modernen Ethnologie üblich ist. Dabei amalgamiert das von Widmann verkündigte Evangelium mit Versatzstücken der in Meseritz (Międzyrzecz) grassierenden sabbatianischen Mystik, wenn der Missionar seine Botschaft der von dem Plotzger Rabbi Baruchia Rosso propagierten jüdisch-messianischen emuna shlema anähnelt. Widmann kam zu dem Schluss, unter den Meseritzer Juden geben es »viele ›heimliche Christen‹«. Diese Juden, so der Missionar, sollten den ihm als »gottlos« und »bekehrungsbedürftig« geltenden »Namenschristen« ein Vorbild sein (92–93). Als Vertreter eines optimistischen Postmillenarismus und insofern einer »inklusivistischen Utopie« (97) verband Widmann die Aussicht auf Judenbekehrungen mit der Hoffnung auf die Einlösung göttlicher Verheißungen. In diesem Sinne setzte er alles daran, Zeichen der Hoffnung für künftige Neubekehrungen wahrzunehmen und dementsprechend Übereinstimmungen von Juden und Christen ausfindig zu machen.
Eine »Anähnelung« der christlichen Botschaft an jüdische Rezeptionserwartungen lässt sich auch in der graphischen Gestaltung hebräischen und jiddischer Publikationen des Instituts wahrnehmen, von denen Heike Tröger berichtet (Kurztitel: »Publikation jiddischer und hebräischer Drucke«, 57–69). Erwähnenswert sind die Abbildungen der Titelseiten, beispielsweise eines jiddischen Traktates unter dem Titel »Licht am Abend« (eine messianische Anspielung nach Sach 14,7), ein fiktiver Dialog zwischen einem jüdischen Kaufmann und dem Rabbi Menachem, aus der Feder des Missionars Johann Müller (1649–1727), der hier hebraisiert als »Jochanan Kimchi« (von hebr. »kemach«, Mehl) erscheint.
Teil der missionarischen Bemühungen waren auch Bibelübersetzungen. Das Alte Testament Luthers (!) erschien 1737–1750 in einer Sekundärübersetzung ins Jiddische. Anmerkungen zu den christologisch gedeuteten Abschnitten (Jes 53 hatte Callenberg selbst übersetzt, der auch eine Übersetzung des Epheserbriefes ins Jiddische bewerkstelligte) sollten das »richtige« Verständnis sicherstellen. Eine eigene Untersuchung widmet Yaacov Deutsch der hebräischen Fassung des Lukasevangeliums durch den Konvertiten Heinrich Christian Immanuel Frommann (gest. 1735), der offenbar 1722 oder 1723 getauft worden war (Kurztitel »Hebrew Translation and Commentary on the Book of Luke«, 125–134). Da Frommann seinen Kommentar zum übersetzten Text mit Hinweisen auf die jüdische Traditionsliteratur füllt und auch auf mystische und kabbalistische Texte wie den Sefer Jezira und das Buch Sohar anspielt, nimmt Deutsch an, dass der Übersetzer vor seiner Bekehrung eine gründliche Jeschiwa-Ausbildung durchlaufen hatte (130).
Der anschließende Beitrag von Dirk Sadowski (Kurztitel: »Hebräischer Buchdruck in Halle und Jeßnitz«, 135–153) zeigt die enge Verknüpfung der Missionsanstrengungen mit dem hebräischen Buchwesen. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass »der hebräische Buchdruck […] auch eine gewisse Anziehungskraft auf Konvertiten zum jüdischen Glauben« ausübte, da »jene nicht allzu häufigen und zumeist klandestinen Konversionen zum Judentum aus Glaubensgründen und nach langer intellektueller Beschäftigung mit Texten der jüdischen Tradition erfolgten, so dass eine enge Beziehung zum hebräischen Buch bereits bestanden haben dürfte« (136). Zur Beschäftigung mit dieser »anderen Seite« des jüdisch-christlichen Religionsgesprächs in der Neuzeit gehört auch der Beitrag von Rebekka Voß und Avaham Siluk, der sich – so der Kurztitel – mit »jüdische[n] Reaktionen auf den Pietismus« beschäftigt (155–176). Im Zentrum steht hier die jiddische Moral- und Reformschrift Libes Briv (1748/49) des jüdischen Gelehrten Isaak Wetzlar aus Celle, die von der Forschung als Produkt der traditionellen Musar-Literatur und zugleich als Beispiel jüdischer Frühaufklärung gedeutet wird. Die Autoren zeigen, dass Wetzlar sich dabei aber »wesentlich eingehender mit pietistischen Schriften, Personen und Inhalten auseinandergesetzt hat, als bisher angenommen« (162).
Zwei Beiträge von Jan Doktór (Kurztitel: »Die polnische katho-lische Kirche zur antitalmudischen Reform«, 179–192) und Hans-Jürgen Schrader (Kurztitel: »Zu Glaubensfragen unterweisungsbedürftiger Konvertiten«, 193–219) richten den Blick auf Diskussionen zum Thema »Mission und Konversion« jenseits von Halle. Bei Hans-Jürgen Schrader geht es um den Marquis Charles Hector de Marsay (1688–1753), einen Vertreter des radikalen Pietismus und der quietistischen Mystik, der im Siegerland lebte und 1738 eine längere Stellungnahme zu den Themen »Erweckung und Bekehrung der Juden« veröffentlichte.
Der letzte Teil des Bandes enthält Beiträge zur Wirkungsgeschichte des Hallenser Instituts. Auf Giuseppe Veltris Interpretation von Herders Abhandlung über die Bekehrung der Juden aus dem Jahre 1802 (Kurztitel: »Johann Gottfried Herders rhapsodische Ambiguitätslehre«, 223 –233) folgt Yaakov Ariels Ausblick auf die spätere Geschichte der evangelikalen Judenmissionen in Großbritannien und den USA (Kurztitel: »Setting Literary and Tactical Precedents«, 235–254). Ein Personenregister sowie ein Verzeichnis der Orte, Regionen und Länder runden einen informativen und gelungenen Band ab.