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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

879–880

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Wulz, Gabriele, u. Klaus Fitschen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Graswurzel oder Heiliger Rest? Auf dem Weg zu einer Theologie der Diaspora. Hrsg. im Auftrag des Gustav-Adolf-Werkes.

Verlag:

Leipzig: Gustav-Adolf-Werk (Verlag) 2020. 184 S. Kart. EUR 9,00. ISBN 978-3-87593-134-1.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Roleder, Felix: Die relationale Gestalt von Kirche. Der Beitrag der Netzwerkforschung zur Kirchentheorie. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 370 S. = Praktische Theologie heute, 169. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-17-038158-2.


Die Netzwerkforschung – in der empirisch-sozialwissenschaftlichen Arbeit international verbreitet – ist kirchensoziologisch zuerst im Zuge der V. EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung (2012/13) systematisch genutzt worden. Hier wurden zum einen sogenannte Ego-Netzwerke erkundet, nämlich die konkreten Personen, mit denen die Befragten über religiöse Themen sprachen, gemeinsam zum Gottesdienst gingen und/oder eng vertraut waren. Zum anderen wurden sämtliche Mitglieder einer ausgewählten Kirchengemeinde nach ihren religiösen, ihren kirchlichen und freundschaftlichen Kontakten befragt. Die mit diesen Fragen gewonnenen Erkenntnisse über die typischen Formen, die sozialen Orte und die zentralen kirchlichen Gelegenheiten religiöser Kommunikation, die in dem Berichtsband »Vernetzte Vielfalt« (2015) breiten Raum einnehmen, fanden in der Rezeption der V. KMU bisher leider kaum Beachtung.
Man kann hoffen, dass sich dies nun ändern wird. Vor einem Jahr bereits hat der Vf., gemeinsam mit seiner Doktormutter Birgit Weyel (Tübingen), höchst erhellende Analysen zur Netzwerkerhebung der KMU publiziert (»Vernetzte Kirchengemeinde«, Leipzig 2019), die etwa die Bedeutung geselliger Kontakte oder die spezifische Position kirchlich Mitarbeitender im gemeindlichen Netzwerk vor Augen führten. Hier liegt nun die Dissertation von Felix Roleder vor, in der die Instrumentarien der Netzwerkforschung nicht allein anhand der V. KMU, sondern unter Rekurs auf zahlreiche weitere empirische Daten und Studien auf religiöse und kirchliche Verhältnisse bezogen werden. Dabei nutzt der Vf. die Netzwerkuntersuchungen, die vor allem in letzten 15 Jahren hauptsächlich in den USA sowie in Großbritannien und Deutschland erschienen sind, und er wertet selbst diverse Datensätze, etwa den ALLBUS, den Freiwilligensurvey und eine US-amerikanische Langzeitstudie un­ter Gemeindemitgliedern, unter jener Perspektive aus. Auf diese Weise ist nahezu ein Handbuch der kirchensoziologischen Netzwerkforschung entstanden. Hilfreich sind ein Glossar und die umfangreiche Bibliographie – ein Sachregister hätte die dichte, mitunter unübersichtliche Vielfalt von Ergebnissen vielleicht noch besser erschließen können.
In der Einleitung (Kapitel 1) skizziert der Vf. anhand von drei geschickt gewählten Beispielen, etwa zum Kontaktnetz rund um einen gemeindlichen Kirchenkaffee, das Konzept des ›sozialen Netzwerkes‹: ein Muster regelmäßiger Interaktion zwischen mehreren Akteuren, das sich auf bestimmte Themen und/oder Gelegenheiten oder Praktiken bezieht; dabei kommen als Akteure Einzelpersonen, aber auch ganze Einrichtungen in Frage. Netzwerke gehören also auf die soziale Meso-Ebene; und dementsprechend kommt auch Religion in dieser Untersuchung weniger als individuelle Überzeugung und eher als kulturelles Phänomen in den Blick, das sich in kommunikative Praxis realisiert. Die »relationale Gestalt von Kirche«, so der Titel des Buches, wird hier nicht als eine besondere Sozialform betrachtet, sondern es werden ganz unterschiedliche alltägliche wie gemeindliche Sozialverhältnisse als Netzwerke (auch) religiöser Kommunikation betrachtet. Dies geschieht in vier großen, sehr detaillierten Kapiteln, bevor die Ergebnisse in einem letzten Schritt kirchentheoretisch zugespitzt werden.
Zunächst wird das Vorkommen von Religion in Alltagsnetzwerken betrachtet (Kapitel 2). Hier wird u. a. deutlich, dass religiöse Themen wie Praktiken ganz überwiegend im Nahbereich familiärer und freundschaftlicher Kommunikationsgeflechte zu finden sind. Diese Netzwerke sind stark als Kommunikation unter Gleichartigen (vor allem bezüglich des Alters, auch des Milieus), also ›homophil‹ strukturiert; die hohen soziokulturellen Schranken erscheinen dem Vf. darum als Herausforderung, kirchlicherseits eine bewusst grenzüberschreitende Kommunikation anzustreben (77 ff.).
Sodann wird, vor allem unter Rekurs auf US-amerikanische Studien, minutiös rekonstruiert, wie nachhaltig die soziale Vernetzung die individuelle religiöse Entwicklung prägt und biographisch stabilisiert (Kapitel 3). Hier wird etwa hervorgehoben, dass nicht nur die familiäre Sozialisation bedeutsam ist, sondern auch die religiösen Konstellationen in Partnerschaft und engen Freundschaften. Und religiöse Einstellungen ändern sich selten durch eine einzelne, noch so starke Beziehung, sondern eher im Kontext ganzer Kommunikationsgeflechte.
Das 4. Kapitel geht der Frage nach den gesellschaftlichen Wirkungen religiöser Netzwerke nach. So lässt sich – im Anschluss an die Theorien zum »Sozialkapital« – zeigen, dass religiöse Überzeugung und kirchliche Partizipation das allgemeine Vertrauen in andere Menschen erheblich stärken. Dagegen lässt sich (etwas überraschend) jedenfalls für Deutschland nicht nachweisen, dass religiös geprägte Netzwerke eine stärkere Bereitschaft aufweisen, einander zu unterstützen; das ist in den USA deutlich anders.
Ein letztes umfangreiches Kapitel (5) befasst sich mit Netzwerkbildungen und -effekten bei kirchlichen Veranstaltungen und Gruppen; wiederum werden zahlreiche US-Studien ausgewertet und vorsichtig mit den deutschen Verhältnissen verknüpft. Auch hierzulande sind netzwerkförmige Beziehungen etwa hochbedeutsam, um kirchliche Angebote allererst bekannt und attraktiv zu machen sowie neue Ehrenamtliche zu gewinnen. Und insgesamt sind kirchliche Netzwerke umso stabiler, je stärker sie sich mit anderen Netzwerken überlappen.
In allen diesen materialen Kapiteln argumentiert der Vf. methodisch präzise und dabei gut lesbar – übrigens sehr genderbewusst, mit konsequent weiblichen Personenbezeichnungen. Der Vf. nutzt eine breite Datenbasis und verfährt höchst umsichtig, indem er immer wieder alternative Deutungen erwähnt und die ambivalenten, keineswegs nur positiven Effekte religiöser Kommunikation beschreibt. Auch theoretisch bleibt er zurückhaltend: Der Begriff ›Netzwerk‹ verweist weder auf ganz bestimmte Sozialformen (etwa im Unterschied zu Organisation oder Gruppe) noch auf eine starke soziologische Theorie, sondern er markiert eine – höchst produktive – Perspektive auf zahlreiche soziale Phänomene. Mediale, vor allem digitale Netzwerke werden dabei nur am Rande betrachtet, weil es zu deren religiöser Dimension bisher nur wenige Untersuchungen gebe.
Diese epistemische Bescheidenheit gilt nun auch in kirchentheoretischer Hinsicht: Im letzten (6.) Kapitel wird kein neues, systematisches Bild der Kirche geboten, sondern die bisher gewonnenen Detaileinsichten werden auf einige »übergreifende […] Grundfragen« bezogen (277), um etwa das Verständnis der kirchlichen Organisation oder der Akteurinnen zu erweitern. Ich gehe hier etwas weiter als der Vf. und hebe vier tendenziell neue Einsichten für eine praktisch-theologische Theorie der Kirche hervor.
Zunächst macht dieses Buch die »soziale Vielgestaltigkeit von Kirche« (278 ff.) in bisher nicht gekanntem Umfang deutlich. Schon die »elementaren Sozialformen« wie Event, Gruppe, Freundschaft, monothematische Kommunikation u. a. sind in sich vielfältig differenziert, etwa in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht, nach Größe und Zugänglichkeit; dazu kommen vielfältige Akteursty-pen und -rollen, räumliche Gelegenheiten und religiöse Prägungen der Kommunikation. Erst recht sind die »komplexen Sozialfor-men« wie »Gemeinde« oder »Volkskirche« empirisch so vielgestaltig, dass die gängigen kirchentheoretischen Unterscheidungen – etwa Institution/Organisation oder Gemeinde/Kirchenleitung – als sehr grobe, ja verzerrende Metaphern mit wenig Orientierungskraft erscheinen müssen.
Auch die scheinbar klaren Grenzen von »Kirche« verschwimmen in der Perspektive »Netzwerk« mehr und mehr. Welche Akteure in welchen Kontexten eine kirchliche Praxis vollziehen, wo diese in den sozialen Alltag übergeht, vornehmlich christlich oder doch eher gesellig geprägt ist, etc. – das lässt sich weder im Einzelnen noch im Ganzen klar entscheiden. Dazu passt die weite theologische Definition von Kirche, die der Vf. (im Anschluss an eine be­stimmte Interpretation von CA VII) gibt: jegliche soziale Praxis, die als ›Kommunikation des Evangeliums‹ zu qualifizieren ist (278 f., vgl. 46 u. ö.). Man kann fragen, ob diese – religionssoziologisch anschlussfähige – Bestimmung nicht theologisch zu schwach ist, insofern die inhaltliche Qualifikation des Evangeliums (recte docetur) hier ganz in den Hintergrund tritt.
Für die Kirchentheorie herausfordernd ist sodann die empirische Einsicht, wie sehr die Pflege familiär- oder freundschaftlich-enger Beziehungen, wie stark also das gesellige Element für re­ligiöse Kommunikation wie auch kirchliche Partizipation bestimmend ist. Damit wird nicht nur ein zu trennscharfes Religionsverständnis zweifelhaft; sondern die aus jener Geselligkeit resultierende Tendenz zu starker sozialer Abschließung, zur kommunikativen Homophilie stellt für die kirchliche Praxis, sei sie missionarisch oder liberal-integrativ ausgerichtet, eine nicht zu überschätzende Schwierigkeit dar.
Schließlich eröffnet die Netzwerkperspektive eine erheblich präzisere Fassung der kirchentheoretischen Intuition, dass »Organisa-tion« auch hier ganz und gar auf informelle Verhältnisse angewiesen ist. Indem das Informelle der Kirche als ein Geflecht sozialer Netzwerke betrachtet wird, treten die thematischen, die personellen und kulturellen Wechselwirkungen (und Widerständigkeiten) zwischen kirchlicher Organisation und religiös-geselliger Kommunikation sehr differenziert – und sehr ernüchternd – vor Augen.
Lässt man sich auf diese Untersuchungen ein, so konkretisieren sie das theologisch gängige Bild der Kirche insgesamt in durchaus verstörender Weise: Die »Gemeinschaft der Glaubenden« besteht nicht in erster Linie aus Individuen, sie verdankt sich auch nicht primär einer bestimmten »amtlichen« Praxis oder formalen Struktur, sondern sie lässt sich empirisch am ehesten als vielgestaltige kommunikative Praxis von Religion verstehen, die organisatorisch geprägt und kulturell verankert ist (dieses Moment kommt hier vielleicht zu wenig in den Blick), die sich aber immer wieder neu in unendlicher sozialer Vernetzung realisiert.
Dieses Verständnis entspricht nun durchaus dem Bild von Kirche, das sich jeder Pastorin und jedem Pastor im Laufe einer wohl bedachten Berufstätigkeit ergeben wird. Eben darin zeigt sich die außerordentliche Qualität dieser Arbeit: Einsichten, die bereits zum professionell-kirchlichen Handeln der Gegenwart gehören, werden hier empirisch so präzisiert und differenziert, dass jenes Handeln umsichtiger, bescheidener und gezielter vorgehen kann. Insofern liegt hier eine theologische Praxistheorie par excellence vor, der man weite Verbreitung wünscht.

GöttingenJan Hermelink




Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (=GEKE) führte seit 2012 auf Anregung von Ulrich Körtner einen Studienprozess zur Theologie der Diaspora durch, in dessen Verlauf ein Studiendokument zur Standortbestimmung der evangelischen Kirchen im pluralen Europa entstand. Eine Besonderheit dieses Projektes bestand darin, das Studierende aus neun Evangelisch-Theologischen Fakultäten und Seminaren Frankreichs, Italiens, Österreichs, Tschechiens, Ungarns, der Slowakei und Deutschlands mitarbeiteten. 2015 fand in Rom eine Konferenz der Studierenden zur Selbstwahrnehmung von Diaspora statt, deren Ergebnisse eine Gruppe aus Jena und Wuppertal in Thesen fasste (20–26). Das gesamte Dokument gaben der Generalsekretär der GEKE Mario Fischer und die Professorin für Systematische Theologie in Jena Miriam Rose heraus. Es bildet im vorliegenden Band den Hauptteil (27–129). Auf S. 130 f. werden die beteiligten Personen genannt.
Auf das Geleitwort der Präsidentin des GAW Gabriele Wulz, in dem sie wichtige Motive des Studienprozesses benennt, folgt eine Projektvorstellung durch den Kirchenhistoriker Christian V. Witt (7–19). Titel und Untertitel des Bandes entstammen dem Thema einer Tagung, die im November 2018 zur Auswertung des Projektes stattfand und auf der Klaus Fitschen den Diasporabegriff kritisch reflektierte (132–141). Mario Fischer betont in zwei Beiträgen die Notwendigkeit und die Chancen der Solidarität zwischen den evangelischen Kirchen in Europa: »Welche Früchte trägt die Theologie der Diaspora« (142–152) und »Kirchengemeinschaft und Diaspora. Der Dienst aneinander als gemeinsames Zeugnis vor der Welt« (153–170). Miriam Rose erweitert das Spektrum, indem sie auf das brisante Thema »Kirche – Volk – Staat – Nation« und das entsprechende GEKE-Dokument von 2002/2019 hinweist (171–178).
Das Dokument beginnt mit einer Zusammenfassung, in der die wichtigsten Gedanken auf sechs Seiten in dankenswerter Klarheit vorgestellt werden. Die Theologie der Diaspora wird als eine Gestalt der Öffentlichen Theologie verstanden, die vor Selbstisolierung be­wahrt und zur »Gestaltung von Beziehungsfülle im Sinne der Nachfolge Christi« verhilft. Der Fokus soll von der Defizit- zur Chancenorientierung hin verändert werden. Dabei ist die Ambivalenz der Minderheitssituation zu bedenken, die durch Erfahrungen von Man-gel und dennoch vorhandenen positiven Möglichkeiten ge­kennzeichnet ist. Wichtig ist der Hinweis auf die theologisch und kulturell begründete Fremdheit als Wesenszug der Diaspora. Das Dokument verfolgt das Ziel, die in der Diaspora gegebenen Schwierigkeiten nüchtern zu erkennen, darauf aber nicht durch Rückzug aus der Gesellschaft zu reagieren, sondern das christlich-evange-lische Proprium als Teil der Gesellschaft in diese einzubringen.
In drei Abschnitten wird das Programm entfaltet. Teil A skizziert »Geschichtliche und gegenwärtige Verwendungen des Dias-pora-Begriffes« (45–68), Teil B »Biblische Impulse. Diaspora-Selbstverständnisse in der Bibel und ihren historischen Kontexten« (69–80). Im Teil C wird »Diaspora als relational fokussierter Begriff« erläutert (80–129). Wer die neueren Publikationen zur Diaspora kennt, findet wenig Neues. Das 2011 im Verlag des GAW publizierte Buch des argentinischen Theologen René Krüger »Die Diaspora. Von traumatischer Erfahrung zum ekklesiologischen Paradigma« wird einmal erwähnt, aber nicht gewürdigt. Krüger verbindet einen biblisch fundierten Diasporabegriff mit den Aspekten einer Kirche in Beziehungen und der Öffentlichen Theologie, wenn auch ohne diese Terminologie. Diaspora bedeutet für ihn vor allem Aussaat, und diese positive Metapher nimmt auch das GEKE-Dokument auf. Die von Krüger erwähnte traumatische Erfahrung machten auf unterschiedliche Weisen die evangelischen Kirchen in Siebenbürgen und in der DDR. Aus Letzterer wird im Dokument Werner Krusche erwähnt, dessen Vortrag von 1973 über »Die Gemeinde Jesu Christi auf dem Wege in die Diaspora« als Beleg für eine sehr reservierte Stellung zum Diaspora-Begriff gedeutet wird. Krusche ging es darum, in der traumatischen Erfahrung des Übergangs von einer Mehrheits- zur Minderheitskirche Gottes Auftrag und die positiven Möglichkeiten zu erkennen. Darin stimmt das Studiendokument der GEKE mit den bereits vorliegenden Arbeiten zum Diaspora-Begriff überein. Seine Bedeutung liegt daher weniger auf dem Gebiet der Diasporawissenschaft als in der Stärkung der Beziehungen zwischen den evangelischen Kirchen in Europa, von denen die meisten als Minderheitskirchen leben. Dem Dokument ist deshalb eine breite Rezeption und Resonanz zu wünschen. Für die evangelische Kirchentheorie wäre es ein Gewinn, würde sie Diaspora als aktuelles Thema akzeptieren und bearbeiten.