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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

862–864

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Breitsameter, Christof

Titel/Untertitel:

Das Gebot der Liebe. Kontur und Provokation.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag; Würzburg: Echter Verlag 2019. 320 S. = Studien zur theologische Ethik, 152. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-7965-3906-0 (Schwabe Verlag); 978-3-429-05349-9 (Echter Verlag).

Rezensent:

Johannes Eurich

Der in München lehrende katholische Moraltheologe Christof Breitsameter hat 2019 eine Monographie zum Gebot der Liebe vorgelegt, in der er das Zentralgebot des christlichen Glaubens einer weit ausgreifenden theologisch-hermeneutischen, soziologischen und philosophischen Untersuchung unterzieht. Er knüpft dabei explizit an seine 2012 erschienene Studie »Nur Zehn Worte – Moral und Gesellschaft des Dekalogs« an, in der die wichtigsten hermeneutischen Fragen reflektiert werden, die im Blick auf die Zehn Gebote als Quelle ethischer Normen für die heutige Zeit zu stellen sind. Im Zentrum seines Ansatzes steht die Verknüpfung von normativer Semantik und Gesellschaftsstruktur. In der Verschränkung von Text und Kontext, Semantik und Struktur einer Gesellschaft sieht B. den hermeneutischen Schlüssel für die Rekonstruktion der Bedeutung von Normen, womit er dem hermeneutischen Prinzip von Kontinuität durch Diskontinuität entspricht, das er von seinem soziologischen Gewährsmann Niklas Luhmann übernimmt, dessen wissenssoziologische Studien die Hintergrundfolie von B.s Gesellschaftsanalysen bilden.
Diesem Prinzip zufolge bringt gesellschaftlicher Wandel jeweils neue Deutungen von Normen hervor und schreibt sie auf diese Weise fort. Entsprechend ist die Begründung biblischer Normen durch ihren jeweiligen soziokulturellen Kontext bedingt, was gleichzeitig einschließt, dass sie in anderen Gesellschaftsformen aufgrund der Heterogenität der Kontexte nicht mehr unmittelbar plausibel ist. Um die Bedeutung biblischer Normen in einen mo­dernen Kontext zu übertragen, kann folglich nicht einfach deren Normsetzung übernommen werden, sondern es ist die Norm neu zu legitimieren, indem deren ursprüngliche Intention rekonstruiert und in heutige gesellschaftliche Kontexte übersetzt wird, wobei die die Übersetzung leitende Semantik nur aus dem Kontext der gegenwärtigen Gesellschaft erschlossen werden kann. Im Kern wird hier ein programmatischer Ansatz zur Hermeneutik ethischer Normen der Bibel sichtbar, den B. in der Einleitung wohl auch vor dem Hintergrund von Einwänden zu seinem Dekalog-Buch entfaltet.
Diesen Ansatz explizierend wird in Kapitel 2 die soziale Welt der biblischen Gesellschaft erörtert, um so in einem weiten Bogen signifikante Strukturmerkmale der moralischen Semantik der Bibel zu bestimmen – beginnend bei Fragen der Gotteslehre über die Schöpfung, Fall und Erlösung bis hin zum Eschaton. Zur sozialen Welt sogenannter einfacher segmentärer Gesellschaften, die durch kleinräumige soziale Beziehungen der Gegenseitigkeit ge­prägt sind, gehört der Kontext wechselseitiger Abhängigkeit. Reziproke Beziehungen basieren auf Freiwilligkeit und Symmetrie. Jedoch werden in der Bibel bereits Situationen reflektiert, die regelmäßige Ungleichheiten darstellen, welche egalisiert werden sollen. Für Situationen, in denen Reziprozität nicht mehr selbstverständlich funktioniert, muss es einen allgemeingültigen Maßstab ge­ben, der einen gerechten Austausch regelt, nämlich das Gebot der Nächstenliebe. Dieses verpflichtet zu geben, aber nicht ohne Er­wartung einer Gegenleistung, weil das soziale System Freiwilligkeit und Symmetrie voraussetzt. Beispielhaft wird dies u. a. an der Goldenen Regel als reziproker Verhaltensweise durchgespielt, die mit einem Vorteilskalkül einhergeht, auch wenn motivational begründete Reziprozität grundsätzlich möglich ist. Im Fall positiver Reziprozität kann daraus Kooperation oder Freundschaft entstehen, im Fall negativer Reziprozität stellt dies den Versuch der Überwindung von Feindschaft dar – in beiden Fällen geht es um den Abbau von Ungleichheit, indem Gleichheit angestrebt wird. Moralische Normen beziehen sich deshalb auf komplementäre Verhältnisse, die reziprok gestaltet werden sollen: Aufgabe der Reichen ist die Gestaltung von Verhältnissen, in denen Arme – modern würde man sagen: menschenwürdig – leben können.
Liebe bezeichnet die moralische Selbstbindung eines Individuums zur Normierung prekärer Verhältnisse, weil durch den affektiven Begriff der Liebe die schwache Bindungswirkung prekärer Verhältnisse aufgefangen werden kann. Das Liebesgebot zielt daher auf erwartbare Formen verlässlicher Kooperation zum gemeinschaftlichen Wohl. Auch die Beziehung Gottes zu den Menschen kann so modelliert werden: Gott schließt freiwillig einen Bund mit den Menschen und bindet sich an sie in der Erwartung, dass der Mensch sich seinerseits an Gott bindet. Diese reziproke Beziehung dient dem Wohlergehen des Menschen, indem dieser auf Gottes Weisungen für sein Wohlergehen eingeht und diesen folgt. Die sich daraus ergebende Verknüpfung religiös-moralischer Vorstellungen zeigt sich im Bezug zwischen Gottesliebe und Nächstenliebe – diese schlagen ineinander um, so dass der Dienst an Gott zum Dienst am Menschen wird. Angesichts von Sünde und Schuld als Kehrseite der Liebe geht B. auf die Notwendigkeit der Gnade ein und greift auch das Theodizee-Thema auf, das entsteht, wenn sich der Zusammenhang von Tun und Ergehen nicht wie erwartet einstellt. Die Antwort liegt hier in der Eschatologisierung der Moral, also dem Auseinandertreten von präsentischem und futurischem Gericht.
Solidarische Beziehungen, die auf Reziprozität aufbauen, sind in der modernen Gesellschaft nicht mehr umstandslos gegeben (Kapitel 3). Komplexere Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass individuelles Wohl und gemeinschaftliches Wohl auseinandertreten können und daher Regelverstöße sanktioniert werden müssen. Dies ist in segmentären Gesellschaften nicht notwendig, weil soziale, zeitliche und sachliche Asymmetrien nur fall- bzw. notfallmäßig auftreten. Moderne Gesellschaften bauen dagegen auf Kooperationen auf, die gegen Defektionen verteidigt werden müssen. Denn anonyme gesellschaftliche Verhältnisse, wie sie in großräumig strukturierten Gesellschaften gegeben sind, begünstigen defektives Handeln, weshalb durch entsprechende Anreize kooperatives Handeln strukturell zu stärken ist. Daher sind in unüberschaubaren Kontexten vereinbarte Regeln der Kooperation notwendig. Dies erfolgt durch Institutionen, die produktive kompetitive Strukturen wie z. B. Wettbewerb bereitstellen. Dieser fällt unter geeigneten Bedingungen unter das Kooperationsmodell, weil er nicht nur produktiv für die Gewinner, sondern auch für die Verlierer ist. Dies ist der Fall, weil moderne Gesellschaften dynamisch strukturiert sind und Güter vermehrt werden können und nicht wie in segmentären Gesellschaften das, was der eine besitzt, dem anderen fehlt. Die Motive von Handlungen werden zweitrangig, ja es kann durch geeignete institutionelle Regeln sogar dazu kommen, dass egoistische Motive altruistische Folgen haben, wenn die Akteure durch diese gegenseitig bessergestellt werden. Institutionen fokussieren Ergebnisse, nicht Motive, weshalb in komplexen, großräumigen Gesellschaften die Zustimmung aller Beteiligten zu den vereinbarten Regeln eine ethische Notwen-digkeit ist. Ebenso bedarf die Geltung von Normen vernünftiger Gründe, die ausweisen, warum in einer Handlungssituation eine bestimmte Handlungsalternative ausgewählt wird. Ein Rekurs auf die Autorität Gottes oder naturrechtliche Gründe verfangen nicht mehr. Gottesliebe erhält darin ihren normativen Sinn, durch gegenseitige Besserstellung die Realisierung einer besseren Welt im Diesseits unter den Bedingungen kontingenter Defektion zu ermöglichen und nicht erst im Jenseits zu erwarten. Die Anwendung und Aktualisierung von biblischen Normen in der Moderne wird von B. am Beispiel der Ehe durchgegangen sowie hinsichtlich der Selbstliebe, Feindesliebe und der Liebe zu Gott expliziert, indem jeweils die ursprüngliche Bedeutung der biblischen Norm herausgearbeitet und dann auf den heutigen Kontext übertragen wird, um so die aktuelle Bedeutung hervorzuheben und ihre Geltung zu begründen.
B.s konsistenter Deutungsansatz biblischer Normen hilft gegen Überhöhungen oder dogmatische Verfestigungen biblischer Gebote, deren Kern in einer zeitlosen Norm gesehen wird. B. zeigt dagegen zu Recht auf, dass die Bedeutung einer Norm einem konkreten Kontext in einer bestimmten Gesellschaft entspringt und daher die Analyse der jeweiligen sozialen Welt für das Verständnis der Bedeutung von Normen wegweisend ist. Mittels dieses soziologischen Zugangs kann er Anschlusspunkte zu modernen Handlungstheorien (Theorie kommunikativen Handelns, Spieltheorie u. a.) markieren, die für die Rekonstruktion biblischer Normen heute eine hohe Plausibilität in Anspruch nehmen können und z. B. im Blick auf Nächstenliebe und Selbstliebe nicht nur die Entgegensetzung von reiner Selbstlosigkeit versus egoistischem Handeln betonen, sondern eine Schichtung von Bedeutungen ins Spiel bringen, die modernen Handlungskontexten besser entspricht. Die dichten Ausführungen sind nicht immer leicht zu durchdringen, bieten jedoch reichlichen Erkenntnisgewinn für den, der sich darauf einlässt.