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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

849–851

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Hartung, Gerald, u. Thomas Kirchhoff [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Welche Natur brauchen wir? Analyse einer anthropologischen Grundproblematik des 21. Jahrhunderts.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber 2014. 502 S. = Physis, 3. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-495-48482-1.

Rezensent:

Friedrich Lohmann

»Die Natur schlägt zurück!« Die gern benutzte Schlagzeile zu den realen Folgen des Klimawandels kann man auch wissenschafts-geschichtlich lesen: Nachdem das Nachdenken über das Natürliche in Naturphilosophie und Schöpfungstheologie während des 20. Jh.s für lange Zeit ins Abseits einer selbstreflexiv gewordenen Geisteswissenschaft geraten war, kehrt dieses nun mit Macht zu­rück als das Andere, das dem menschlichen Geist und seinem Kulturschaffen gegenübersteht. Zu reflektieren ist nicht nur, dass sich die Natur in ihrer Komplexität technizistischen Beherrschungsversuchen widersetzt, sondern auch, dass sie zum Schutzgut und zur Ressource alt-neuer Heilsversprechen geworden ist, nämlich als »unberührte« Natur oder Wildnis in Alternative zu den selbst-erschaffenen Idealzielen des technologischen Zeitalters. Der Mo­ dus der menschlichen Selbstreflexion bleibt freilich bei dieser naturphilosophischen Renaissance erhalten, was sie von der klassischen Naturphilosophie unterscheidet: Erkenntnistheoretisch an­erkannt ist, dass der Zugang zur Natur nicht direkt erfolgen kann, sondern nur in der gebrochenen Form von Naturbildern, die mehr über den Menschen als über den Gegenstand seiner Reflexion sagen. Hinter der Rede von Natur und Naturen steht die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Welt, eine anthropologische Grundproblematik, die im 21. Jh. voll zur Geltung kommt.
Dies ist jedenfalls die Perspektive des vorliegenden Aufsatzbandes, der Beiträge aus einer interdisziplinären Arbeitsgruppe versammelt, die sich unter dem Oberthema »Natur begreifen – Natur schützen« über einige Jahre an der Heidelberger Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) getroffen hat. Neben der Herausgeber-Einleitung liegen 21 Beiträge vor, deren Autorinnen und Autoren aus ganz unterschiedlichen akademischen Disziplinen kommen. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, sie im Einzelnen vorzustellen. Stattdessen führt der Rezensent einige Grundtendenzen auf, die ihm bei der Lektüre ins Auge gefallen sind.
1. Es überwiegt die Problematisierung. Ein roter Faden des Bu­ches besteht darin, dass das Naturverhältnis des Menschen komplizierter ist, als es erscheint. Dies gilt für scheinbar klar umschriebene allgemeine Handlungsmaximen wie »Naturschutz« (Heinrich Spanier, 145–172; Frank Uekötter, 357–367) und die »Bewahrung der Schöpfung« (Dirk Evers, 417–437) ebenso wie konkreter für die Frage nach dem Naturverständnis, das die Naturwissenschaften bei ihrer Arbeit implizit voraussetzen (Ulrich Krohs, 35–49), den Primat der Erhaltung historisch entstandener Ökosysteme (Thomas Kirchhoff, 223–247) und die Rede von Rechten der Natur (Heike Baranzke, 439–460).
2. Konstruktivistischer Naturbegriff. Wie oben bereits gesagt, besteht unter den Autorinnen und Autoren des Bandes weitgehende Übereinstimmung, dass nach dem Durchgang durch die reflexive Moderne ein Zugang zur Natur nur noch über das Mensch-Umwelt-Verhältnis und die entsprechend unhintergehbaren Naturbilder möglich ist. Von diesem Zugang ist jedoch die Frage nach dem Begriff der Natur zu unterscheiden. Das menschliche Bewusstsein von der Natur könnte ja, wie die Kantschen Phäno-mene, nur die Bühne sein, auf der sich bewusstseinsunabhängige »Dinge-an-sich« zeigen. In diesem Sinne argumentiert, von der Phänomenologie her, Michael Großheim (»Objektive Gefühle in der Natur? Überlegungen jenseits von Projektionismus und Konstruktivismus«, 51–66). Auch er konstatiert: »Ein Erfassen der vollen Wirklichkeit ist uns nicht möglich; es besteht keine Aussicht auf eine Rückkehr zur reinen Natur in schlichter Unbefangenheit diesseits aller künstlichen Idealisierungen« (64 f.), will aber doch an einer davon unabhängigen »Restwirklichkeit des Objekts« (63) festhalten. Die große Mehrheit der Beiträge macht sich demgegenüber jedoch den Gedanken der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit – und eben auch der Natur – zu eigen. Bezeichnenderweise sind es zwei soziologische Beiträge, die in dieser Hinsicht besonders herausstechen ( Jörn Ahrens; Karl-Werner Brand). Wenn aber nur noch davon die Rede ist, dass es die Gesellschaft ist, die sich ihre Natur macht, ja dass die Natur aus solchen Konstruktionen besteht, wird dann nicht gerade die Besonderheit in der Semantik des Naturbegriffs verspielt, auf etwas zu verweisen, das – wie z. B. ein Bergmassiv – möglicherweise von Mensch und Gesellschaft gestaltet, niemals aber von ihnen errichtet wurde? Insofern er­scheint Großheims Problematisierung des naturphilosophisch-soziologischen Konstruktivismus sehr bedenkenswert.
3. Anthropozentrische Naturbewertung. Wenn schon der Na­turbegriff anthropozentrisch ist, so muss dies erst recht für Bewertungsfragen gelten. »Es gibt keinen aus der Natur selbst oder der Ökologie ableitbaren ›objektiven‹, also nicht-anthropozentrischen, Grund, irgendetwas zu schützen.« (Christine Zunke, 407) Differenzierter argumentiert Thomas Kirchhoff, der zwischen einer nutzwert- und einer eigenwertorientierten Perspektive auf die Natur unterscheidet (223–247). Aber auch diese beiden sind menschliche »Zielsetzungen« (244), und auch Kirchhoffs Eigenwert-Perspektive ist gegründet »in kulturell geprägten überindividuellen, intersubjektiven Wahrnehmungs- und Deutungsmustern« (235). Mit dieser anthropozentrischen Matrix bestätigt die Mehrheit der Beiträge das, was Dirk Evers als ein generelles Ergebnis der neuzeitlichen Umformung des Naturbegriffs beschreibt: Es »werden die nicht naturalisierbaren Reste teleologischer und normativer Semantiken in das Individuum und sein Eigeninteresse verlagert« (429). Konzepte wie »deep ecology« oder die Rede von immanenten Rechten der Natur müssen auf dieser Basis abgelehnt bzw. als Projektionsversuche entlarvt werden. Erneut ist hier aber zu fragen: Ist mit solcher anthropozentrischen Engführung die Semantik des Natur-begriffs wirklich eingeholt? Muss man dem Konstruktivismus glauben und vor ihm kapitulieren oder liegt der Fehler gerade um­gekehrt im Reduktionismus der Moderne, der »letztlich die kognitiven Mittel dafür fehlen, die Natur kohärent als ›Resonanzsphäre‹ und als konstitutives Gut zu interpretieren« ( Hartmut Rosa, 134)?
4. Anthropologischer Naturbeweis. Der Band steht unter dem Titel »Welche Natur brauchen wir?«, und auch der eben zitierte Hartmut Rosa, der innerhalb des Bandes zu der Minderheit gehört, die den Anthropozentrismus der Moderne kritisiert (als eine »Resonanzkatastrophe«, 134), beginnt seinen Beitrag mit der These, »dass wir Menschen der Moderne eine Natur brauchen« (123). Dieses Naturbedürfnis wird in so gut wie allen Beiträgen angesprochen. In diesen Kontext gehört auch die »weitreichende Behauptung« der Herausgeber, »dass für die Selbstkonstitution des Menschen ein Verhältnis zur Natur ein weit verbreitetes, vielleicht sogar uni-versal-anthropologisches Prinzip ist« (23 f.). Das erinnert an den anthropologischen Gottesbeweis aus dem menschlichen Transzendenzbedürfnis und lässt es plausibel erscheinen, den Band apologetisch zu lesen: Wir wissen vielleicht nicht so genau, was die Natur ist, aber wir brauchen sie, und zwar vor allem »als Erfahrungsraum für die menschliche Lebenspraxis« (22).
5. Fazit. Das unausgeglichene Miteinander von theoretischer Kritik an der Kategorie »Natur« und ihrer praktischen Retablierung, das den Band insgesamt auszeichnet, inspiriert dazu, eine Analogie zwischen Gott und Natur herzustellen. Auch bezüglich des Gottesbegriffs wird ja spätestens seit Kant kräftig (de-)konstruiert, zugleich aber wahlweise über die metaphysische oder die ethische Bedürftigkeit des Menschen praktische Relevanz behauptet. Gott und Natur erleiden in der Moderne und – wenn man sich die zeitliche Perspektive des Bandes zu eigen macht – ganz besonders im 21. Jh. ein paralleles Schicksal von Toterklärung und Wiedergeburt. Von daher lädt der Band abschließend dazu ein, eine der Geschichten von Herrn Keuner, die Bertolt Brecht ge­schrieben hat und die dem Gottesgedanken gewidmet ist, umzuschreiben: »Einer f ragte Herrn K., ob es eine Natur gäbe. Herr K. sagte: ›Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht än­dern, dann können wir die Frage fallen lassen. Würde es sich än­dern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, dass ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst eine Natur.‹«