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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

840–842

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Luckner, Andreas, u. Sebastian Ostritsch

Titel/Untertitel:

Existenz.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. VIII, 223 S. = Grundthemen Philosophie. Kart. EUR 19,95. ISBN 978-3-11-027214-7.

Rezensent:

Jörg Disse

Das Thema »Existenz« wird in großer Breite dargestellt. Sowohl die analytische als auch die phänomenologisch-existenzphilosophische Philosophie, die klassischen Gottesbeweise und der Deutsche Idealismus werden mit einbezogen. Die Autoren Andreas Luckner und Sebastian Ostritsch bekennen sich im einleitenden ersten Kapitel zu einem univoken Existenzverständnis als »Dass-Sein überhaupt« (3), sprechen der Existenz »formale Priorität« vor der Essenz zu, und sehen sie als Gegenstand einer der klassischen Ontologie noch vorgelagerten Proto-Ontologie an (6). Das zweite Kapitel beantwortet die Frage, warum Existenz überhaupt einer philosophischen Klärung bedürftig sei. Es wird unterschieden zwischen »Existenzbestaunern« (Leibniz, Wittgenstein, Heidegger und Schelling), für die die bloße Tatsache, dass etwas existiert, erstaunlich und damit der Klärung bedürftig ist, und »Existenznüchternen« (Grünbaum und Bergson), die Existenz für etwas Selbstverständliches halten und ein Staunen darüber für sinnlos. Die Autoren verstehen sich als »Existenzbestauner« im Sinn eines Staunens über das Dass-Sein überhaupt (25).
Das dritte Kapitel setzt sich mit dem Existenzbegriff in der analytischen Philosophie auseinander. Vier maßgebliche Positionen werden aufeinander bezogen (Meinong, Frege-Russell-Quine, Kripke, Williamson). Die Autoren schließen sich Kripkes Theorie des starren Designators an, der Auffassung von Frege-Russell-Quine widersprechend, Existenz könne »niemals einem Einzelding zugeschrieben werden« und Existenzaussagen seien letztlich nur Aussagen der Art »Es gibt etwas, das so-und-so beschaffen ist« (38). Kripke schreibt Individuen Existenz zu und vertritt die Auffassung, dass es sinnvolle, individuelle Existenzaussagen gibt (41). Existenz ist anders als bei Meinong keine diskriminierende Eigenschaft. Sie kommt allem notwendig als (erststufige) Eigenschaft zu. So gesehen gibt es bezüglich der Existenz tatsächlich nichts zu bestaunen. Das Dass-Sein von Seiendem ist jedoch zugleich kontingent, Seiendes könnte auch nicht existieren, was den »Existenzbestaunern« Recht gibt (44).
Im vierten Kapitel befassen sich die Autoren mit dem ontolo-gischen Gottesbeweis über eine aufschlussreiche Auseinandersetzung mit Kants Argument, Existenz sei kein reales Prädikat. Wenn mit realer Erkenntnisabsicht gebraucht, tauge ›existiert‹ weder als logisches Prädikat, weil das zu Tautologien führt, noch als reales Prädikat, denn dann würde die Begriffliche Bestimmung von Exis-tierendem verunmöglicht (68). Existenz kann für Kant aber sehr wohl als »transzendentales Prädikat« im Sinn der Modalkategorien fungieren, d. h. als Positionsbestimmung des Begriffs im Verhältnis zur raumzeitlichen Erfahrung (68). Mit Kant argumentieren die Autoren nun gegen Anselm, dass, weil Existenz das Verhältnis von Gegenstand und Begriff zum Ausdruck bringt, es niemals als wi­dersprüchlich gelten kann, einem Gegenstand die Existenz abzusprechen (69). Es folgt eine gewagte Spinozainterpretation. Mit Gott sei bei Spinoza kein höchstes Seiendes, sondern – im Sinn des Zusammenfalls von Wesen und Existenz in Gott – nichts anderes als die Existenz als solche gemeint (76) und mit den Attributen Gottes der washafte Ausdruck dieses Dass-seins (77). Die Autoren bezwecken, auf diese Weise die »absolute Vorgängigkeit und Un­ hintergehbarkeit der Existenz« (80) – auch gegenüber Gott als einem Seiendem – zu untermauern. Im fünften Kapitel wird diese Vorgängigkeit mit Rückgriff auf Schellings »positive« Philosophie sowie durch Bezugnahme auf Jacobi und Fichte legitimiert. In der positiven Philosophie Schellings wird das Sein nicht wie in der negativen notwendig hergeleitet, sondern »erfahrungsbasiert«, aposteriori durch Mythos und Offenbarung begriffen (90). Die Autoren reduzieren dieses Begreiflichmachen in ihrem Sinn darauf, »das Verhältnis von vorbegrifflichem Dass-Sein und begrifflich erfassbarer Wirklichkeit« zu klären bzw. »die vorbegrifflichen Ur­sprünge des Begrifflichen offenzulegen« (91), was gegenüber dem, was Schelling selbst tut, auf jeden Fall zu kurz greift (94).
Der zweite Teil der Abhandlung beginnt mit dem sechsten Kapitel, in dem es um die Frage nach dem Wie der Existenz geht (99). Zu schnell gehen die Autoren hier m. E. zu existenzphilosophischen Topoi über, die einen existenzphilosophischen Existenzbegriff bereits voraussetzen, statt ihn noch einmal eigens zu thematisieren. Das Kapitel setzt sofort mit dem Person- und Individualitätsbegriff ein. Individualität wird mit Rückgriff auf Duns Scotus als Haecceitas bestimmt und mit Kripke auf Zeigbarkeit hin gedeutet (109). Personen sind sich wesentlich durch ein Selbstverhältnis auszeichnende Individuen (110). Im Sinn von Sartres Priorität der Existenz vor der Essenz wird dies so verstanden, dass alle Wesensbestimmung der Person durch das personale Selbstverhältnis erst hervorgebracht wird. Um Person zu sein, muss der Mensch sich so zu sich selbst verhalten, dass er »zunächst sich selbst wählt«, um zu wahrer Selbstbestimmtheit zu gelangen (114). Anschließend werden weitere Aspekte personalen Selbstverhältnisses wie Angst, u nmittelbares Selbstbewusstsein, Jemeinigkeit und Zeitlichkeit un­tersucht. Es stört ein wenig, dass in diesem Kapitel stets von »der« Existenzphilosophie die Rede ist und Kierkegaard und Heidegger mit Sartre munter über einen Kamm geschert werden.
Im letzten Kapitel geht es um die Bestimmung authentischer Existenz bzw. um die Frage einer existenzphilosophischen Ethik. Authentische Existenz setze eine Selbstwahl als Wahl, »die alleinige Verantwortung für unser Leben zu übernehmen«, voraus (142). Mit dem Selbstwahlverständnis Kierkegaards (absolute Wahl als Wahl des Guten) oder Heideggers (Wahl der eigensten Möglichkeiten) stimmt dies nicht so recht überein. Zudem befremdet es angesichts Heideggers nichtmoralischem Gewissensverständnis, wenn die Autoren mit Verweis auf Heidegger das Gewissen als Voraussetzung für moralische Bewertungen überhaupt verstehen (143). Die Autoren orientieren sich im Grunde nicht an Kierkegaard oder Heidegger, sondern an Simone de Beauvoir und Sartre, wo die Verantwortlichkeit tatsächlich im Vordergrund steht (146). Wir entwerfen unsere je eigenen Werte in voller Selbstverantwortung, heißt es, und wenn wir genuin moralisch sind, mit dem Anspruch, »für alle Subjekte und sogar rückwirkend zu gelten« (148). Universale Geltungsansprüche aber sind Entwürfe, die Anerkennung erfordern, und sie können nur im »Modus der Authentizität stattfinden, sonst sind es eben keine« (148). Böse sei das, »was aus freien Stücken und im vollen Bewusstsein seiner Perversion die Freiheit der personalen Existenz bedroht, angreift oder vernichtet« (149). Die Freiheit ist also ein Wert. Zuvor aber hieß es, die Freiheit sei kein Wert (145). Wie wird sie zu einem Wert? Bis zu einem gewissen Grad wird der gedankliche Knoten, der sich hier ergibt, erst in der abschließenden Darstellung von Simone de Beauvoirs Ethik ein wenig aufgelöst. Dem wird ein »Intermezzo« vorangestellt, das sich mit Abrahams Paradox (Kierkegaard), der ewigen Wiederkunft des Gleichen (Nietzsche) und dem Sisyphos-Mythos (Camus) befasst und das dem gesamten Buch zugrunde liegende Credo der Sinnlosigkeit dieser Welt und der Bejahung genau dieser Sinnlosigkeit als Wert zum Ausdruck bringt (162). Simone de Beauvoirs Ethik gemäß aber leben Menschen dann authentisch, wenn sie wahrhaft Einsicht in ihre doppelsinnige Existenz haben, d. h. einerseits frei zu sein in ihrem Lebensentwurf, andererseits sich vorzufinden in einer Situation vielfältiger Determination (164). Authentische Existenz hat zur Voraussetzung das Gleichgewicht beider Seiten, und ein solches Gleichgewicht ist im liebenden Verhältnis zu anderen als dem höchsten Typus von Existenzbewältigung gegeben (165). Simone de Beauvoir unterscheidet genauer besehen sechs Typen erwachsenen Menschseins: 1.) den inauthentischen Lauen, der unter seinen Möglichkeiten zurückbleibt (167 f.), 2.) den inauthentischen Ernsthaften, der seine Wertsetzungen nicht als Ausdruck seiner Entwurfsfreiheit wahrhaben will (168 f.), 3.) den inauthentischen Nihilisten, der sein Freiheitsbewusstsein nur als Ablehnung alles Bestehenden verwirklichen kann (170), 4.) den inauthentischen Abenteurer, der sich in seinen Entwürfen weder an Projekte noch an Personen bindet (170 ff.), 5.) den inauthentischen Leidenschaftlichen, der sich in einem anderen Menschen verlieren will, ihn aber zum Objekt seiner Begierde macht, statt auf ihn als anderen bezogen zu sein, und schließlich 6.) den authentischen Liebenden, der die Distanz zum anderen hält und ihn als ein endliches und zugleich freies Individuum sein lässt (173 ff.). Warum aber sollte man sich angesichts der Sinnlosigkeit der Welt für Letzteres entscheiden, es sei denn, die Wahl entspricht einem vor aller Wahl gegebenen Wesen des Menschen?
Das Buch versteht sich nicht als historische Darstellung verschiedener Philosophien der Existenz, sondern entfaltet – ganz im Sinn des Selbstverständnisses der Reihe »Grundthemen Philosophie« – eine bestimmte Form von atheistisch-existenzphilosophischem Existenzverständnis. Es werden unterschiedliche philosophische Ansätze aufeinander bezogen, aber stets mit Blick auf das eine angestrebte Existenzverständnis. Nur selten entsteht der Eindruck, anderen Philosophen würde die Position der Autoren untergeschoben (vgl. allerdings Schelling, Heidegger, Kierkegaard). Man könnte den Autoren vorwerfen, zu viele Philosophen zur Exemplifizierung der eigenen These herangezogen und damit auf zu kurzem Raum die verschiedensten Ansätze zu knapp und zu pauschal behandelt zu haben (nicht zuletzt die Existenzphilosophen selbst!). Dem allerdings steht entgegen, dass die Gedankenzusammenhänge der verschiedenen Philosophen in der Regel gut nachvollziehbar dargestellt werden. Das Buch ist ein für mein Selbstverständnis als Philosoph fremder Ritt durch Teile der Philosophiegeschichte, auf den sich einzulassen dennoch lohnenswert war.