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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

835–837

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Deuser, Hermann, u. Markus Kleinert [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Sokratische Ortlosigkeit: Kierkegaards Idee des religiösen Schriftstellers.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber 2019. 364 S. m. Abb. Geb. EUR 36,00. ISBN 978-3-495-48809-6.

Rezensent:

Walter Dietz

Der Sammelband wendet sich nicht nur Søren Kierkegaards (SK) Selbstverständnis als religiöser Schriftsteller zu, sondern auch der Frage, wie SK jenes Konzept biographisch und im Kontext seiner eigenen Schriftstellerei (sei sie pseudonym oder autonym) umgesetzt und entwickelt hat. Das Buch geht zurück auf eine Tagung im Februar 2013 am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt, geleitet von Hermann Deuser. Die Leitthese einer »Ortlosigkeit« (atopeia) wird allerdings von einigen Beiträgen in Frage gestellt, insofern diese eine klare Zielrichtung und Selbstverortung des Schriftstellers SK ausmachen, und zwar so, wie er sie auch selber (lesepädagogisch) verstanden hat: von der ästhetischen zur ethischen, ferner zur religiösen und christlichen Sphäre. Sein Ort war das Christentum (im Gegensatz zur real existierenden Christenheit), zu dem er in einem Zeitalter hinführen wollte, dessen Ästhetizismus s. E. im Begriff war, in Nihilismus umzuschlagen. SKs Leitidee einer Hinführung zum essentiell Christlichen hat ihren Ort somit bereits in einem post-christlichen Denkhorizont (vgl. Pattison, 337 ff.).
In vier Sektionen werden folgende Themenbereiche behandelt: (1.) SKs Selbstverständnis als religiöser Schriftsteller; (2.) der Begriff der Atopie (nach dem platonischen Sokrates) als »Muster« von SKs Konzeption; (3.) Spuren seiner Wirkungsgeschichte in Philosophie und Literatur; hier stellt sich die »Frage nach den Paradigmen der literarischen Rezeption« (15), wobei der Schwerpunkt auf die SK-Rezeption in den Zeitschriften »Der Brenner« und »Der Sumpf« gelegt wird (zur Zeit der Weimarer Republik); (4.) religiöse Rede nach SK, verbunden mit der Frage der »Aktualität« seiner »Idee des religiösen Schriftstellers« (16).
Der Beitrag von N. J. Cappelørn, »Entweder – Oder in der religiösen Strategie von SKs Gesamtwerk« (25–81), behandelt Entweder – Oder im Blick auf seine Verortung im Ganzen des SK-Opus und seine Editionsgeschichte (zu Lebzeiten gab es hier immerhin eine 2. Auflage!). Entweder – Oder wird angesichts des religiösen Telos seiner Schriftstellerei von SK zwar nicht widerrufen, jedoch depotenziert als eine bloße Vorstufe, die zum Religiösen hinführt (ohne über das Ethische wirklich hinauszugehen). Cappelørn gelingt eine präzise Rekonstruktion der seinerzeitigen Editionslogistik, wie sie SK vor Augen hatte (zumindest ex post – um ein SK-Wort zu modifizieren: Schreiben kann man Bücher nur vorwärts, die Schriftstellerei und ihre Teleologie verstehen jedoch nur im Nachhinein). Cappelørns These ist, dass sich der Reflexionsprozess über Wesen und Sinn der eigenen Schriftstellerei 1848/49 an der Notwendigkeit einer Neuauflage von Entweder – Oder (1843; 1849²) entzündet hat.
Magnus Schlette (82–95) behandelt in seinem kurzen, aber präg-nanten Beitrag das Verhältnis von Entweder – Oder zum »Gesichtspunkt« (posthum ed. 1859), den er eingehend und kritisch reflektiert. In Synspunktet verbinde sich das systematisierende Interesse mit dem einer autobiographischen Selbstbezeugung (Schlette zieht hier einen Vergleich zu A. H. Francke, 82 ff.). Das literarische Projekt ziele auf das »Hineintäuschen in das Wahre« (88), verbunden mit autobiographischer Selbstvergewisserung (86). Das Werk wird verstanden als Vollzug und »Manifestation einer Lebensaufgabe«, die sich im Horizont des Christwerdens ereignen (90). Christsein werde zum Christwerden hin »prozessualisiert« (88). »Leben und Werk« stehen in einem essentiellen Korrespondenzverhältnis (90). Anders als bei A. H. Francke gehe es SK jedoch nicht um religiöse Selbstvergewisserung (mit paradigmatischem Charakter der eigenen religiösen Biographie), sondern um Leserorientierung (89).
Heiko Schulz (96–120) ordnet das Werk den drei Mitteilungssphären Existenzwissenschaft (SKS 27, 271), christliche Rhetorik und religiöse Schriftstellerei zu (98), verbunden mit der steilen These, dass SK zugunsten seiner existenzwissenschaftlichen Mitteilungskonzeption Metaphysik und Dogmatik »suspendiert« habe (ebd.; gelegentlich sogar verstanden als »ersetzt«, 107.115). Dies wird verschärft durch die These, SK habe sich nicht als Philosoph, sondern eben als »religiöser Schriftsteller« verstanden. Schulz vertritt die – durchaus streitbare – These einer »Ortlosigkeit« SKs in dreifacher Hinsicht: wissenschaftlich, existenziell und wirkungsgeschichtlich (120); gemeint ist hier aber nicht wirkliche Ortlosigkeit, sondern »perspektivische Vielfalt«, die es gestattet, SK nicht nur als religiösen Schriftsteller zu interpretieren (ebd.). Dem ist zuzustimmen.
Rasmus Sevelstedt (123–153) rekurriert zu Beginn der II. Sektion auf Plato als Modell für SKs Schriftstellerei und fragt nach der Sicht der Verhältnisbestimmung von Sokrates und Plato bei SK und Schleiermacher. Hier geht es vor allem um die sokratische Mäeutik und Ironie (BI, 1841).
Wolfgang Spickermann behandelt Lukian und Kierkegaard (154–179); Lukians Ironie und Ortlosigkeit dienten SK als Modell. Der Germanist Heinz Hiebler untersucht SKs Paradoxien in medienästhetischer Hinsicht (180–217). Die Musik stelle sich dabei als »Medium reflexionsloser Unmittelbarkeit« dar. Hiebler vertritt die These, SKs Ästhetik repräsentiere eine »negative Theologie« (215). Angelika Jacobs untersucht SKs »heteronome Texturen«, d. h. sprachästhetische Momente insbesondere in Entweder – Oder und Furcht und Zittern (218–244). Im Beitrag von Mathias Mayer (245–260) geht es um SKs Ethik des Paradoxen und ihre literarische Rezeption, u. a. mit Blick auf G. Trakl, K. Kraus und G. Eich.
Zu Beginn der III. Sektion behandelt Christian Wiebe literarische SK-Rezeptionen um 1910 (263–277, zu E. v. Keyserling, C. Dallago, Th. Haecker und L. Derleth). Chr. Cabill untersucht SKs Rezeption in der Weimarer Republik (278–296), wobei er einer Notiz H. Arendts aus dem Jahr 1932 nachgeht (278), dass der zuvor (d. h. vor WK I) noch unbekannte SK in den letzten 15 Jahren zur »Stimme einer ganzen Generation« geworden sei (u. a. im Rekurs auf Th. Haecker und W. Kütemeyer in den Zeitschriften Der Brenner und Der Sumpf). J. Grage fragt nach der Rezeption SKs in der skandinavistischen und deutschen Literaturwissenschaft (297–314). Hier geht es auch um SKs Einordnung als »Dichter« (von H. Brix 1923 noch dezidiert abgelehnt; 303).
In der IV. Sektion behandelt P. Tschugnall »Komparative Schattierungen in Religionsphilosophie, Literaturkritik und Künsten« (317–333, mit Bezug auf die 1843 hrsg. Schriften FZ und W).
Der letzte Beitrag, verfasst von G. Pattison (334–349), analysiert den Skopus von SK als Schriftsteller – und findet ihn darin, dass er stets um das Christentum (nicht als doctrine zu verstehen, 335) kreist. Ähnlich wie H. Schulz sieht Pattison bei SK eine »renunciation of metaphysics, of history and of both national and ecclesiastical community« (348), versteht SK jedoch anders als die Herausgeber gerade nicht als »ortlosen« Denker. Vielmehr sei sein Ort die nach-christliche Gesellschaft, der er das Christentum zu vermitteln sucht (»writings in and for a post-Christian age«, 337). Angesichts SKs These, »we are not living in a truly Christian world« (337 f.), finde die ortsbestimmende Intention, das wesentlich Christliche zu vermitteln, ihr spezifisches Profil. Diese konkrete Selbstverortung SKs heißt für Pattison allerdings nicht, dass sein Werk nicht auch einer (postmodern-) multiperspektivischen Interpretation zu­gänglich wäre (334, mit Verweis auf Derrida).
Erfreulicherweise steht am Ende des Bandes nicht nur ein informatives Autorenverzeichnis, sondern auch ein Personen- und Sachregister. Obwohl der – recht preisgünstige – Band primär literaturwissenschaftlich angelegt ist, empfiehlt er sich durchaus auch für philosophisch und theologisch Interessierte, die SKs Schriften über sich selbst (1851; 1859) nicht aus ihrem Blickfeld ausblenden möchten (im eigentlich gut gemeinten Interesse, ihn besser verstehen zu wollen, als es ihm selbst seinerzeit möglich war).