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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

832–833

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lavater, Johann Caspar

Titel/Untertitel:

Werke 1782–1785. Hrsg. v. Y. Häfner.

Verlag:

Basel: NZZ Libro (Schwabe Verlagsgruppe) 2019. 1712 S. = Johann Caspar Lavater Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe, VI/2. Lw. EUR 138,00. ISBN 978-3-03810-449-0.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Der jüngst erschienene Band der bewährten historisch-kritischen Lavater-Ausgabe hat dem Buchbinderhandwerk das Äußerste ab­verlangt. Dessen exorbitanter Umfang von 1712 Seiten erklärt sich im Wesentlichen durch die kombinierte Neuedition zweier Werke, die der bedeutende Zürcher Theologe zwischen 1782 und 1785 (ir-rige Jahresangabe im Buchtitel S. 1706) veröffentlicht hat.
Lavaters »Brüderliche Schreiben an verschiedene Jünglinge« (S. 21–221), 1782 erstmals gedruckt und 1787 in zweiter Auflage er­schienen, sind an historisch aufweisbare Personen aus dem Freundeskreis des Autors gerichtet, die durchweg an der Schwelle in das Erwachsenenleben stehen und für diesen Überschritt mit brüderlichen Ermahnungen ihres geistlichen Mentors bedacht werden. Weithin präsentieren sich die meisten dieser Ratgeberepisteln als eine kaskadenhaft aufgetürmte Sammlung von Merksätzen und Aphorismen: »Keine Wahrheit läßt sich weglachen« (S. 91), heißt es einmal, und andernorts »Sprechen Sie wenig; Hören Sie viel« (S. 104) oder auch »Hüten Sie sich […] gleich vor anhaltender, ununterbrochener Einsamkeit, und vor allzustürmischer Zerstreüung« (S. 103). Apart ist der Ratschlag für den »Umgang mit dem schönen Geschlechte […] Machen Sie weder den Pedanten, noch den Gecken; Weder den Spröden, noch den Verliebten; Weder den Kopfhänger noch den Harlekin« (S. 104). Den insgesamt acht Briefen, deren frühester in das Jahr 1773 datiert ist, sind zwei Gebete und zwei Gebetslieder beigegeben.
Den zweiten, ungleich größeren Teil des Bandes belegen Lavaters »Sämtliche kleinere prosaische Schriften vom Jahr 1763–1783« (S. 225–1582), die 1784/85 in drei Teilen erschienen sind. Der erste Teil präsentiert bereits früher gedruckte Predigten, der zweite verschiedene Kasualreden, von denen die 1771 gehaltene »Predigt bey der Taufe zweyer Israeliten« (S. 763–811) einen pikanten Nachklang zu dem zwei Jahre zuvor breites Aufsehen erregenden Streit bietet, den Lavaters an Moses Mendelssohn gerichtete öffentliche Konversionsforderung ausgelöst hatte, während der dritte Teil etliche teils vollständig, teils fragmentiert wiedergegebene Briefe sowie eine Sentenzensammlung enthält. Als »Anhänge« (S. 1535–1582) finden sich weitere Briefe, Dokumente und Fremdtexte versammelt, darunter der Entwurf eines sehr ausführlichen, jedoch höchstwahrscheinlich nicht abgesandten Schreibens an Johann Joachim Spalding über den 1776 in Zürich aufgebrochenen Skandal der »Nachtmahlweinvergiftung« (S. 1545–1554).
Wie alle vorausgehenden Bände der vorzüglichen Lavater-Ausgabe besticht auch diese Lieferung durch höchste editorische Sorgfalt. Die Quellentexte, denen jeweils eine stupend gelehrte Einführung vorangestellt wurde, sind durchweg textkritisch kommentiert sowie mit hilfreichen, aus intensiver, findiger Recherchearbeit gewonnenen Sach- und Personalerläuterungen versehen (über die Plausibilität der Nachweise von biblischen Anspielungen ließe sich im Einzelfall freundlich streiten).
Der opulente »Anhang« (S. 1585–1712) bietet ein Abkürzungs- und Siglenverzeichnis, eine ausführliche, gattungsspezifisch ge­gliederte Bibliographie, dazu Vollständigkeit erstrebende Register der Bibelstellen und Personen sowie ein ausführliches Inhaltsverzeichnis. Insgesamt ist die in dieses Editionsereignis investierte kundige Forschungsarbeit hinsichtlich der ausdauernden Mühe, die ihr abverlangt wurde, wie des wissenschaftlichen Gewinns, den sie erzielt und bereitgestellt hat, schwerlich zu überschätzen. Eines der bedeutendsten gegenwärtigen Editionsvorhaben aus dem Be­reich der Kirchengeschichte ist damit um ein kostbares Teilstück bereichert worden.
Der »Herausgeberkreis Johann Caspar Lavater« und namentlich die Bandherausgeberin Yvonne Häfner verdienen respektvoll anerkennenden Dank, und der hoffentlich zahlreichen Rezipientenschaft sei aufmunternd zugerufen, was Lavater zu einem Predigtband seines väterlichen Freundes Spalding notiert hatte: »Für Nachdenkende sehr schön, nur nicht durchaus popular« (S. 248).