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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

829–830

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Andreae, Johann Valentin

Titel/Untertitel:

Peregrini in patria errores (1618). Deutsch/Latein. Bearb., übers. u. komm. v. F. Böhling.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2020. 296 S. = Gesammelte Schriften, 11. Lw. EUR 164,00. ISBN 978-3-7728-1439-6.

Rezensent:

Hermann Ehmer

Die wohl in Straßburg 1618 anonym erschienene Schrift ist (der weltliche) Teil eines Diptychons, dessen Gegenstück der Civis Christianus ist, den Andreae im folgenden Jahr erscheinen ließ. Der Titel des Peregrinus, den man als Fremder, aber auch als Pilger übersetzen kann, ist offenbar einer Schrift von Lope de Vega nachgebildet, womit Andreaes Vertrautheit mit der spanischen Lite-ratur bezeugt wird. Der Peregrinus ist auf der Suche nach dem Höchsten Gut, wofür er die vier Weltgegenden aufsucht. Damit werden die Himmelsrichtungen oder die damals bekannten Kon-tinente transzendiert, denn dem Peregrinus werden in diesen vier Regionen die unterschiedlichsten, aber allesamt trügerische Angebote gemacht. Zuletzt wird er vom Satan aufgefordert, ihm Gefolgschaft zu schwören, was er aber verweigert. Er ruft Gott an und wird damit gerettet.
Der Edition geht eine vorzügliche Einleitung vorauf, die diesen Text einordnet, zunächst in die Lebensgeschichte Andreaes, der nach einem recht eklektischen Studium und langen Wanderjahren, die ihn durch große Teile Westeuropas führten, 1614 als Diakonus (2. Pfarrer) in den heimischen Kirchendienst in Vaihingen an der Enz aufgenommen wurde. Die Wanderschaft, ebenso spätere Reisen, ermöglichten es ihm, ein weitgespanntes Netzwerk zu knüpfen, das ihn durch sein ganzes Leben hindurch trug. Eine weitere Eigenschaft Andreaes sind seine ausgebreiteten Interessen, die der Mathematik, einschließlich ihrer praktischen Anwendungen galten, ferner dem Paracelsismus, aber auch der Arndtschen Forderung nach Einheit von Lehre und Leben, ebenso wie der Wissenschafts- und Gesellschaftsreform.
In diesem Lebenszusammenhang Andreaes sind seine Schriften, also auch der Peregrinus zu sehen. Dieser besitzt einen Begleiter, genannt Impetus (= Antreiber), ähnlich wie Dante in der Divina Comedia von dem freilich anders gearteten Vergil begleitet wird. Das Thema der Wanderung weist natürlich voraus auf John Bunyans Pilgrim’s Progress (1678/84), doch ist im Peregrinus kein eigentlicher Fortschritt zu verzeichnen, vielmehr handelt es sich um kunstvoll aneinandergereihte Episoden. Die Struktur der Schrift wird in einem Diagramm verdeutlicht, das auf den ersten Blick einem Reichsapfel gleicht, einer von einem Kreuz überkrönten Kugel. In der neueren Mathematik würde man das Diagramm als Mandelbrotsches Fraktal bezeichnen, dessen Eigenschaft die »Selbstähnlichkeit« ist, das heißt, dass die Ordnung der Sphären in einer Struktur der Ordnung der Einheiten in einer Sphäre entspricht. Bei Andreae ist damit nichts anderes als die Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos gemeint, ein Motiv, das im Peregrinus ständig vorkommt, nicht zuletzt als Beschreibung des Verhältnisses von Schöpfer und Geschöpf.
Die Episoden des Peregrinus sind voll von literarischen Anspielungen, etwa auf die damals gängigen Ritterromane. Sie können aber auch als Visionen gelesen werden und schließen damit an die Unterweltreisen bei Homer und Vergil an. Die Unterwelt ist damit auch eine verzerrte Spiegelung des Diesseits und gibt sich damit als Satire in der Nachfolge des kynischen Philosophen Menippus. Insbesondere M. Terentius Varro († 27 v. Chr.) hat sich in dieser Weise betätigt, wenn uns auch oft nur Titel und einzelne Bruchstücke seiner Arbeiten überliefert sind (ausführlich dazu schon Theodor Mommsen, Römische Geschichte III, Kapitel XII). Demnach ist die Marcopolis von Varro eine Art Wolkenkuckucksheim, das sich Marcus (wohl Varro selber) erträumt hat. Diese Tradition hat Andreae durch seine Satire Menippus wieder aufgegriffen, womit – einmal mehr – seine umfassende Literaturkenntnis deutlich wird.
Aus der Rezeption des Peregrinus von Andreae ist zunächst Comenius zu nennen, der eine freie Bearbeitung erscheinen ließ, dann Johann Michael Moscherosch, mit dem Andreae durch die Mitgliedschaft in der Fruchtbringenden Gesellschaft verbunden war. Dies sind vermutlich nur Ansätze einer Rezeption. Die Tat-sache, dass eine Neuausgabe des Peregrinus 1665 in Helmstedt erschien, deren nähere Umstände aber nicht bekannt sind, lässt darauf schließen, dass diese Rezeption auch noch andere, bislang verborgene Wege ging. Die vorliegende Ausgabe des Peregrinus, der sich die Edition des Gegenstücks, des Civis Christianus anschließen wird, bietet nun die Möglichkeit, Andreae und seine Welt, seine Voraussetzungen und Nachwirkungen weiter zu erforschen.