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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

824–826

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Keßler, Martin

Titel/Untertitel:

Luthers Schriften für die Gegenwart. Drei konkurrierende Editionsvorhaben in den 1930er und 1940er Jahren.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. X, 256 S. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-16-158938-6.

Rezensent:

Konrad Hammann

Bei der Arbeit an der Druckfassung eines Vortrags zum Thema »Das Luthertum um 1918 im Spiegel seiner Zeit« stieß Martin Keßler Ende November 2018 in den Akten der Luther-Gesellschaft auf Material, das die Vorbereitungen zu einer umfangreichen Luther-Ausgabe in den Jahren nach 1937 dokumentierte. Bei seiner weiteren Recherche fand er heraus, dass sich diese im Umfeld der Luther-Gesellschaft geplante Ausgabe im Laufe des Zweiten Weltkriegs der offenen Konkurrenz zweier ähnlicher Editionsprojekte Erich Seebergs und Kurt Alands zu erwehren hatte. K., der Kirchengeschichte in Basel lehrt, geht in seinem Buch diesen drei Editionsprojekten auf den archivalischen Grund und verfolgt die Entwicklung der Editionspläne, von denen nur Aland den seinen zu realisieren vermochte, bis in die Nachkriegszeit hinein. Dazu rekonstruiert K. die verwickelte Geschichte der drei Luther-Ausgaben in drei Kapiteln, die von einer Einleitung sowie einem Rückblick und Ausblick eingerahmt werden.
Das erste Kapitel handelt von dem Vorhaben des Hamburger Hauptpastors Theodor Knolle, in Verbindung mit der Luther-Gesellschaft eine »Kleine Weimarer Luther-Ausgabe« im Umfang von 30 Bänden herauszubringen. Diese für das »deutsche Volk« bestimmte Ausgabe, die ursprünglich nur die deutschen Schriften Luthers enthalten sollte, war zunächst bei dem Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger in Weimar angesiedelt. Weil es Knolle aber nicht gelang, Drittmittel für das Projekt einzuwerben, wechselte er 1939–1941 den Verlag und ging zu Bertelsmann in Gütersloh. Der Verleger Heinrich Mohn förderte die Edition persönlich und durchaus auch finanziell – er schoss etwa Honorarzahlungen von circa 45.000 Reichsmark in den Kriegsjahren vor. Nachdem bereits innerhalb der Luther-Gesellschaft Paul Althaus 1938 Bedenken gegenüber der unklaren Konzeption Knolles geäußert hatte, verweigerte der Evangelische Oberkirchenrat 1941 unter Verweis auf den aus seiner Sicht nicht sachdienlichen Ausschluss der lateinischen Schriften Luthers aus der geplanten Ausgabe die Unterstützung des Projektes durch eine Beihilfe. Knolle sah es offenbar auch nicht als erforderlich an, seinen Editionsplan mit ausgewiesenen Reformationshistorikern zu besprechen. Er stimmte immerhin 1942 dem dringenden Rat seines Verlegers zu, auch lateinische Texte wenigstens ergänzend in seine Ausgabe mit aufzunehmen. Jedoch hatte er zu diesem Zeitpunkt noch so gut wie keine editorischen Vorarbeiten geleistet.
Hatte der Evangelische Oberkirchenrat durch den deutschchristlichen Oberkonsistorialrat Friedrich Buschtöns dem Editionsprojekt Knolles seine Unterstützung versagt, so regte er vor dem Hintergrund der Kenntnis dieses Planes und der Kritik an ihm 1943 eine alternative Edition an. Der Alfred Metzner-Verlag machte sich diese Anregung zu eigen, stellte aber vorerst keine finanziellen Mittel für die Realisierung der auf 20–25 Bände konzipierten Edition zur Verfügung. Als Spiritus rector dieser »neuen deutschen Lutherausgabe« traf der Berliner Kirchenhistoriker Erich Seeberg die konzeptionelle Entscheidung, nur die Schriften Luthers zu bieten, die der Reformator auch selbst hatte drucken lassen. Jedoch verständigte Seeberg sich schon früh mit seinem Mitarbeiter Rudolf Hermann darauf, auch die frühen Vorlesungen Luthers zu berücksichtigen. Zwar sagte der Evangelische Oberkirchenrat einen namhaften Zuschuss zu den erheblichen Herstellungskosten zu, aber das Projekt kam während des Krieges nicht mehr in Gang – und dies, obwohl Seeberg 1944 mit Knolle und der Luther-Gesellschaft eine Kooperation bezüglich der nunmehr offenbar gemeinsamen Lutherausgabe vereinbaren konnte.
Unterdessen hatte der Lietzmann-Schüler Kurt Aland, der in­nerhalb der Berliner Theologischen Fakultät – wohl auch im Hinblick auf seine eigene akademische Karriere – Distanz zu Seeberg an den Tag legte, ein weiteres Editionsprojekt vorangetrieben. Die von Aland angedachte Auswahlausgabe sollte deutsche und ins Deutsche übersetzte lateinische Schriften Luthers, teilweise auch in gekürzten Fassungen, enthalten. Als Adressaten der von dem Verleger Leopold Klotz initiierten zehnbändigen Edition fasste Aland vor allem gebildete Laien ins Auge. Mit dem Verweis auf die popularisierende Intention seiner Ausgabe vermochte er die Befürchtungen Knolles und des Verlegers Mohn, hier erwachse der von ihnen anvisierten Edition eine Konkurrenz, wirksam zu zerstreuen. Im Unterschied zu Knolle und zu Seeberg schaffte Aland es auch, seinen Plan zu verwirklichen. Die von ihm herausgegebene Sammlung »Luther deutsch« erschien von 1948 an. Freilich hätte K. in diesem Zusammenhang durchaus die doch offenkundigen Mängel der Alandschen Lutherausgabe notieren können. Der anderen, aus den zunächst eigenständigen Projekten Knolles und Seebergs zusammengeführten Planung fehlte nach dem Tod Seebergs 1945 die Schubkraft, die sie hätte realisieren können. Rudolf Hermann bemühte sich zwar nach Kräften, es gelang ihm aber auch nicht, den Evangelischen Oberkirchenrat für eine finanzielle Unterstützung zu gewinnen. Knolle und der Verlag Metzner hatten spätes-tens 1948 das Interesse an der deutschen Lutherausgabe verloren.
Im Resümee seiner akribischen Spurensuche macht K. hinsichtlich des editorischen Profils der drei Editionsvorhaben an ihrem Umgang mit den Judenschriften Luthers die Probe aufs Exempel. Während Knolle in seiner Ausgabe alle einschlägigen Texte zur Veranschaulichung von Luthers »Kampf […] gegen das Judentum« (230) bringen wollte, erklärte Seeberg immerhin, es müsse in seiner Edition die Differenz zwischen Luthers Judenschriften und den zeitgenössischen »rassentheoretischen Ausführungen« (232) festge-halten werden. Der nah am Zeitgeist segelnde Aland – er gehörte von 1933 bis zu seinem krankheitsbedingten Ausscheiden 1936 der SA an und beantragte noch 1940 die Aufnahme in die NSDAP (vgl. 103 f.) – wollte 1943 zunächst nur eine »Spätschrift« Luthers gegen die Juden abdrucken, nahm aber 1954 gar keine Judenschrift Luthers mehr in seine Edition auf und strich auch aus späteren Auflagen der von Hans von Campenhausen 1939 herausgegebenen »Hauptschriften« Luthers einen Auszug aus »Von den Juden und ihren Lügen« mitsamt den durchaus sachgemäßen Erläuterungen von Campenhausens (vgl. 231 f.). K. empfiehlt angesichts dieser und mancher anderer überraschender Befunde zu Recht, nicht »vorschnell Urteile über die jeweilige persönliche Integrität« der beteiligten Akteure aus ihrem Verhalten während des Dritten Reiches abzuleiten (234).
Er beschließt seine gelungene historische Analyse, indem er neuere Bemühungen würdigt, Luthers Schriften einem breiteren Leserkreis zugänglich zu machen.