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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

822–824

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Dingel, Irene, Hund, Johannes, u. Luka Ilić [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Matthias Flacius Illyricus. Biographische Kontexte, theologische Wirkungen, historische Rezeption. Hrsg. unter Mitwirkung v. M. Bechtold-Mayer.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 378 S. m. 7 Abb. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beihefte, 125. Geb. EUR 85,00. ISBN 978-3-525-57094-4.

Rezensent:

Andreas Stegmann

Hervorgegangen aus einer wissenschaftlichen Tagung im Jahr 2015 präsentiert der Band 16 kürzere und längere Beiträge zum Leben und Wirken des aus dem heutigen Kroatien stammenden lutherischen Theologen Matthias Flacius (1520–1575).
Der erste Teil geht Flaciusʼ Lebensstationen nach und zeigt dabei, dass die vielen, nicht selten erzwungenen Ortswechsel die Entwicklung seiner Religiosität und die Entfaltung seiner Theologie beeinflussten. Einen knappen Gesamtüberblick, der vor allem auf Flaciusʼ akademischen Weg abhebt und dabei auch die ersten Lebensjahrzehnte berücksichtigt, gibt Luka Ili (11–20, Appen-dix 1). Wade Johnston stellt Flaciusʼ Magdeburger Publikationen vor (21–34), in denen sich neben der Interimspolemik auch eine an Luther anschließende Wiederentdeckung der endzeitlichen Minderheitssituation und Leidensexistenz der wahren Glaubenden findet. Einen in der bisherigen Forschung zu wenig beachteten Aspekt stellt Daniel Gehrts Beitrag zu Flaciusʼ bildungsreformerischem Wirken an der Universität Jena 1557–1561 und zu den Versuchen, in den 1560er Jahren eine neue, vor allem für Protestanten aus dem Habsburgerreich und vom westlichen Balkan bestimmte Ausbildungsstätte einzurichten, vor (35–65). Flacius wird hier nicht nur als profilierter reformatorischer Theologe, sondern gerade auch als Vermittler der Reformation gewürdigt. Besonders verdienstlich ist, dass der Aufsatz auf Archivstudien beruht und ihm in Appendix 2 eine Edition von 13 handschriftlich überlieferten Dokumenten beigefügt ist. In westliche Richtung führt Guido Marnefs Skizze von Flaciusʼ Bedeutung für die kurzlebige, aber bedeutsame lutherische Kirchengemeinde in Antwerpen 1566/67 (67–79). Flaciusʼ an die kurze Zeit in den Niederlanden anschließender Aufenthalt in Straßburg und die letzten Lebensjahre in Frankfurt am Main bis 1575 sind das Thema von Johannes Hunds aus den archivalischen Quellen gearbeitetem Beitrag (81–100), der eindrücklich die prekäre Situation des heimatlosen und umstrittenen Theologen schildert.
Der zweite Teil widmet sich Flacius als Theologen und insbesondere als Kontroverstheologen. Robert Christman führt konzis in das Schlüsselthema von Flaciusʼ theologischem Denken ein: seine Sündenlehre, die sich Ende der 1550er, Anfang der 1560er Jahre im Zusammenhang der lutherischen Lehrstreitigkeiten in einer Weise entwickelte, die Flacius an den Rand des Luthertums führte (103–118). Flaciusʼ Schriftverständnis und seine Bibelauslegung werden von Robert Kolb dargestellt und an seinen exegetischen Werken exemplifiziert (119–133). Flaciusʼ Geschichtsschreibung, die noch vor seiner Sündenlehre das meistbehandelte Thema in der Flacius-Forschung ist, ist das Thema der Beiträge von Harald Bollbuck zu den Magdeburger Zenturien (135–158) und von Wolf-Friedrich Schäufele zum Catalogus testium veritatis (159–174). Dass sich an diesen viel traktierten Geschichtsdarstellungen noch Neues entdecken lässt, zeigt Schäufeles Erörterung des Begriffs der »Wahrheitszeugen«, den er mit überzeugenden, wenn auch nicht zwingenden Argumenten nicht auf Flacius, sondern auf den Basler Drucker Joh. Oporinus zurückführt. Das dritte voluminöse Werk, mit dem sich Flaciusʼ Name bis heute verbindet und das über die Theologie hinaus das Forschungsinteresse auf sich zieht, ist die Clavis Scripturae Sacrae, die Hans-Peter Großhans vorstellt und als wichtigen Beitrag zur Geschichte der hermeneutischen Wissenschaft würdigt (175–189). Hans-Otto Schneiders Porträt des Interimskritikers Flacius (191–206) stellt unterschiedliche Flacius-Schriften vor, ohne das aber zu einer Analyse von Flaciusʼ Schlüsselrolle in der Interimspublizistik zu verdichten. Am Schluss des zweiten Teils steht Timothy Wengerts Überblick über Flaciusʼ reichhaltiges Schrifttum gegen Andreas Osiander in den 1550er Jahren (206–226, Appendix 3).
Der dritte Teil geht Flaciusʼ über das Reich hinausreichenden Verbindungen nach. Gianfranco Hofer zeigt, dass Flacius enge Beziehungen in die Schweiz und nach Italien unterhielt, vor allem zu den Basler Druckern sowie in die Republik Venedig, zu der sein Geburtsort gehörte und wo seine Familie lebte (229–242). Flaciusʼ spärliche Kontakte ins Jagiellonenreich sind das Thema des Beitrags von Henning Jürgens (243–259), der allerdings nicht mehr als ein »grobe[s] Mosaik« bietet. Jürgens gesteht ein, seine Recherche auf in der vorhandenen Sekundärliteratur verfügbare Informationen beschränkt zu haben, wobei er auch noch hätte anmerken können, dass die überreichen Quellenbestände polnischer Archive und Bibliotheken längst nicht ausgewertet sind und die These, Flacius habe nur »punktuelle Kontakte mit Polen« unterhalten, unter Vor behalt steht. Flaciusʼ italienische Verbindungen sind auch das Thema von Stefania Salvadori (261–279), jetzt aber fokussiert auf die Beziehungen zu Pietro Paolo Vergerio, wobei der direkte Kontakt zwischen beiden erst zustande kam, als Vergerio 1549 aus Italien geflüchtet war. Die Beiträge des dritten Teils lassen kein Urteil darüber zu, ob Flacius ein europäischer Netzwerker war; hier besteht noch Forschungsbedarf, zumal längst nicht alle Quellen auswertet sind. Wie der zweite Teil zeigt, dem man die Beiträge des dritten Teils hätte einordnen können, ist die Frage nach den persönlichen Netzwerken vielleicht auch eher hinderlich, die Sprach-, Kultur- und Konfessionsgrenzen überschreitende Wirkung von Flacius in den Blick zu bekommen – die Frage nach der Verbreitung und Wirkung von Flacius ʼ Schriften dürfte da ertragreicher sein.
Der nur einen Beitrag umfassende vierte Teil blickt auf die Rezeption und Wirkung von Flacius. Stefan Michel zeichnet die Geschichte des im 16. Jh. geprägten, zumeist negativ, teilweise aber auch positiv konnotierten Kampfbegriffs »Flacianismus« nach, der im 19. Jh. auch in der kirchenhistorischen Forschung Verwendung fand. Die für einen begriffsgeschichtlichen Beitrag recht knapp gehaltenen und den Sprachgebrauch nur ansatzweise systematisch aufarbeitenden »Erkundungen« dringen leider nicht ins 20. Jh. und damit zu einem für die Wirkungsgeschichte interessanten Phänomen vor: der zunehmend freundlicheren Würdigung dieses lange Zeit verkannten Theologen, die so weit geht, dass manch einer – wie Franz Lau den modernen Kritikern der Interimspolitik der das kaiserliche Religionsgesetz von 1548 unterstützenden protestantischen Stände vorgeworfen hat – »flacianisch vorbelastet« (WZ[L].GS 3 [1953/54], 142) ist. Nicht nur Flaciusʼ Interimspolemik hat in der neueren Forschung Resonanz gefunden, sondern auch der standhafte Lutheraner Flacius zieht das Interesse auf sich, wie die von Sympathie mit seinem Gegenstand getragenen Forschungsarbeiten von Oliver K. Olson und Luka Ili zeigen.
Der Band umfasst neben den Aufsätzen, denen Zusammenfassungen in kroatischer und englischer (bzw. deutscher) Sprache beigegeben sind, eine kurze Einleitung, einen Anhang mit Quellen, ein Verzeichnis der Quellen und Literatur sowie mehrere Register. Dass die Quellen- und Literaturangaben in separate Verzeichnisse ausgelagert wurden, erweist sich als hinderlich für die Arbeit mit dem Buch, weil die Angaben in den Fußnoten der Aufsätze nichtssagend sind und man also ständig hin und her blättert. Warum die Herausgeber das Quellenverzeichnis nicht auch um die ungedruckten Quellen erweitert haben, ist unklar, denn das wäre eine wirklich nützliche Beigabe gewesen, zumal wenn es mit einer kurzen Einführung in die Quellenlage verbunden gewesen wäre.
Auch wenn der Band keinen Anlass gibt, erneut über Flaciusʼ Bedeutung für die Kirchen- und Theologiegeschichte nachzudenken und etablierte Deutungen zu revidieren, so ist er mit seinem umfassenden Themenspektrum und seinem Materialreichtum für die reformationsgeschichtliche Forschung ein Gewinn, vor allem stellt er ein in mancher Hinsicht differenzierteres und tiefenschärferes Flacius-Bild vor Augen.