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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

819–822

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Dietmann, Andreas

Titel/Untertitel:

Der Einfluss der Reformation auf das spätmittelalterliche Schulwesen in Thüringen (1300–1600).

Verlag:

Wien u. a.: Böhlau Verlag 2018. 1096 S. m. Abb. = Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation, 11. Geb. EUR 125,00. ISBN 978-3-412-50812-8.

Rezensent:

Markus Wriedt

In der älteren Forschung – exemplarisch seien hier genannt Friedrich Falk und Gerald Strauss – hielt sich hartnäckig das Urteil, dass die von den Wittenberger Reformatoren initiierte Bildungserneu-erung faktisch gescheitert sei. Diese Urteile liegen auf einer Linie mit dem galligen Kommentar des Humanistenfürsten Erasmus von Rotterdam, der behauptete, dass überall dort, wo die Reformation das Feld behauptete, mit einem Niedergang der Bildung zu rechnen sei. Nur durch akribische und im wahren Sinne des Wortes flächendeckende Detailstudien ist es möglich, dieser vielfach kolportierten Meinung entgegenzuwirken.
Andreas Dietmann, Mitarbeiter zunächst im Unternehmen »Thüringen im Zeitalter der Reformation« in Jena und seit Ab­schluss dieses Projekts an der Sächsischen Akademie der Wis-senschaften tätig, hat mit seinem bald 1100 Seiten starken Forschungsbeitrag stichhaltige Grundlagen einer Revision des wenig sachgemäßen Urteils der älteren Reformationsgeschichte gelegt.
Freilich, es ist kein leichter Angang, den D. gewählt hat. Ein historisches Zeugnis aus der Mitte des 16. Jh.s ist ihm Anlass genug, im Kernland der Reformation, Thüringen, nach der Zäsur, die durch die reformatorischen Bildungsanstöße gesetzt wurde, das Schulwesen zu rekonstruieren und in den weiteren Bogen der spätmittelalterlichen Schulentwicklung zu stellen. Damit ist die nachfolgend skizzierte Gliederung der Arbeit sachlogisch geboten: Nach einer knappen Einleitung, in der Fragestellung, Ziel und Aufbau der Untersuchung umrissen werden, stellt er mit einem kurzen Forschungsüberblick den historiographischen Kontext seiner Untersuchung vor und erläutert weiterhin den umfangreichen Quellenbestand, der seiner Analyse zugrunde liegt. Weiterhin ist die Er­kundung des thüringischen Schulwesens in zwei größere Teile aufgegliedert.
Zunächst wird das Schulwesen des Spätmittelalters exemplarisch in den Städten Altenburg, Saalfeld, Mühlhausen und als Sonderfall in Erfurt vorgestellt. Diese knapp 150 Seiten umfassende Skizze des Herkommens und der durch die Reformation transformierten Verhältnisse zeigt eine große Diversität der Bildungseinrichtungen, ihrer Träger, ihrer Akteure und ihrer Besuchenden. Bereits hier wird deutlich, dass die ebenfalls in der älteren Forschung behauptete kirchliche Dominanz im Schulwesen differenzierter zu betrachten ist und insbesondere in den Städten auch andere Institutionen Bildungsinitiativen ins Werk setzten.
Der wesentlich umfangreichere Teil skizziert knapp den reformationstheologischen Impuls Luthers und erläutert sodann vor allem in ökonomischer Hinsicht die Hintergründe des flächendeckend zu beobachtenden Frequenzeinbruchs der Schulimmatrikulationen. Weniger der reformatorische Ruf zu Reformen als vielmehr die ökonomischen Ressourcen der säkularen Obrigkeiten erweisen sich als natürliche Begrenzung des Bildungsbestrebens. Der nächste Abschnitt erläutert sodann die Rolle der landesherrlichen Obrigkeiten bei der angestrebten Bildungsreform. Die Erbteilung des Wettinischen Landes, die Folgen des Schmalkaldischen Krieges und der Wechsel der Kurwürde bis zur sächsisch-albertinischen Schulordnung von 1580 stellen die historischen Referenzw erte dar, innerhalb derer die Rekonstruktion des Schulwesens gelingt. Erneut sind es wieder die exemplarisch ausgewählten Städte Altenburg, Saalfeld und Mühlhausen, die repräsentativ die differenzierten Wege von Schulgründungen, Schulreformen und weiteren Erneuerungsbemühungen widerspiegeln. Die Sonderstellung Erfurts bleibt auch in diesem zweiten Hauptteil der Arbeit erhalten.
Es ist hier nicht der Ort, die durch die Untersuchung möglich gewordene Korrektur zahlreicher Fehlinterpretationen und Einschätzungen der bisherigen Forschung aufzulisten. Vielmehr sei auf den Ertrag der Arbeit verwiesen, der es gelungen ist, aus den vielfältigen Entwicklungslinien des »vorreformatorischen« Schulwesens eine konzentrierte reformatorische Bildungsreform zu rekonstruieren. Dass dabei die säkularen Obrigkeiten sich nicht selten geistlicher Hilfe bedienten, erschüttert das Bild einer kohärenten Säkularisierung des Bildungswesens. Ist schon das vorreformatorische Schulwesen kaum auf einen Nenner zu bringen, erweist sich auch die folgende Reformation als alles andere als monolithisch. Das breite Netz städtischer Schulen des Spätmittelalters wird zunächst durch die reformatorischen Maßnahmen aufgesprengt. Dabei ist es D. gelungen, teilweise unbekannte Schulen nachzuweisen und durch intensive Archivalienrecherche zu rekonstruieren. Die Wirkmächtigkeit der reformatorischen Forderung nach einer grundlegenden Bildungsinitiative belegt D. mit zahlreichen sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Daten. Trotz aller erkennbaren Kontinuitäten hält er aber an dem tiefgreifenden Charakter dieser Umformungen im Sinne einer Zäsur fest. U. a. lassen sich Schulneugründungen beispielsweise in Altenburg, Gotha, Stadtilm und Eisenach verzeichnen. Die strukturellen und organisatorischen Veränderungen erkennt die Untersuchung als das Ergebnis längerfristiger Entwicklungen an. Dennoch erweisen sich die Visitationen im ernestinischen Sachsen zwischen 1526 und 1535 als wirkmächtiger Impuls. Damit gehen eine Konsolidierung der finanziellen Ausstattungen und eine schleichende Professionalisierung des Lehrpersonals wie auch der Bildungsziele einher. Die Schulen werden ausgerichtet, die geistlichen wie die obrigkeitlichen Eliten personell zu ergänzen. Damit erlebt der Unterricht inhaltlich eine unverkennbare Akademisierung und besonders unter dem Einfluss Melanchthons eine inhaltliche Umorientierung zugunsten des humanistischen Bildungskanons. Sogar im Bauwesen lassen sich diese Entwicklungen nachzeichnen. Gleichwohl bleiben die personellen Verbindungen der schulischen mit den geistlichen Ämtern noch lange Zeit erhalten. Insofern halten sich Kontinuität und Umbruch in einem differenziert zu sehenden Verhältnis, das vorschnelle Urteile als unangemessen erscheinen lässt. Außerdem ist immer wieder die innere Differenzierung der städtischen Schulsysteme unter Berücksichtigung der finanziellen Ressourcen der städtischen Obrigkeiten zu berücksichtigen. In jedem Fall ist zu konzedieren, dass Kirche, Schule und Stadt unter dem Einfluss der reformatorischen Initiativen zu einer neuen Verbindung fanden, nicht selten ausgelöst durch Konflikte um das Schulpatronat. Infolge der Reformation wurde die personelle Schulversorgung zum Schnittpunkt der kirchlichen und städtischen Einflusssphären. »Obwohl das Schulwesen mancherorts schon in vorreformatorischer Zeit vom gemeinsamen Einvernehmen zwischen Rat und Geistlichkeit getragen wurde, war dieses doppelte, korrelierende System zuvor beispiellos und stellt als neue Entwicklung ein signifikantes Charakteristikum des reformatorischen Schulwesens dar.« (929) Wenn es denn eines Beweises für die programmatische Neuordnung in Folge der Reformation bedurft hätte, so wären es die Belege zu dieser These, die darüber hinaus erkennen lässt, dass die bipolaren Interpretationsmuster von Säkularisierung oder Sakralisierung auch nicht im Konzept der Konfessionalisierung angemessen wären.
Bemerkenswert erscheint dem Rezensenten der Nachweis, dass sich diese Verhältnisse verstärkt im Aufbau eines Mädchenschulwesens niederschlugen. Die Lehrgehalte erwiesen sich als ge­schlechterneutral für jene Jungen, die den Besuch der Lateinschule nicht antraten. D. votiert hier für eine Deutung, nach der der ge-ringere Anspruch an jene Kinder nicht aus dem Geschlechterverständnis, sondern aus der Einschätzung des Nutzens gelehrter Bildung resultierte. Die reformatorische Schulorganisation baute mithin darauf auf, allen oder möglichst einer großen Gruppe von Kindern ausreichende Kenntnisse im Lesen und den klassischen Sprachen zu vermitteln, mit denen die verständige Lektüre der Bibel ermöglicht wurde. Das impliziert Lateinkenntnisse auch für Mädchen! Für das fortschreitende 16. Jh. ist ein Anstieg der Alphabetisierung und Literalität von bis zu 70 % sowie eine Um­strukturierung des Bettels zugunsten einer besseren Finanzierung der Schuleinrichtungen zu verzeichnen.
Bemerkenswert ist darüber hinaus auch eine Gewichtsverschiebung der schulischen Initiativen von den lokalen Autoritäten hin zur Landesherrschaft. Das Schulwesen wurde oberhalb der lokalen Ebene in die neu entstehenden kirchlichen Strukturen der Territorien eingebunden. Bildeten die Konsistorien die zentrale Verwaltungsbehörde der Landesherren, so oblag die Befugnis vor Ort den Visitatoren. Insbesondere durch die landesherrliche Zentrierung ist eine Effizienzsteigerung der bildungsreformatorischen Initia- tiven möglich geworden. Sie verbindet sich mit dem Bemühen um eine landesweite Homogenisierung und Vereinheitlichung des territorialen Schulwesens. Das programmatische Dokument dafür war über eine verhältnismäßig lange Zeit der Unterricht der Visitatoren der Wittenberger Reformatoren, der 1580 durch die große Kirchenordnung des Kurfürstentums ersetzt wurde.
So erfolgversprechend die Maßnahmen der noch jungen Reformation zunächst auch klingen, so erweist sich insbesondere der finanzielle Mangel als ein entscheidender Hinderungsgrund der reformatorischen Ansätze. Es fehlt an Einrichtungen eines gemeinsamen Budgets (gemeiner Kasten) und allzu häufig an der nötigen Finanzausstattung der Schulen und ihres Lehrkörpers. »Dennoch kann der Einfluss der Reformation auf das Schulwesen nicht hoch genug eingeschätzt werden.« (933) Mit dieser These schließt D. seine Darstellung. Dabei stehen die genuin reformationstheologischen Impulse in einem Wechselverhältnis mit spätmittelalterlichen Einrichtungen wie etwa dem Kurrendewesen. Insgesamt macht sich eine Korrelation der reformatorischen (Neu-)Ordnung mit dem frühneuzeitlichen Ordnungsdenken bemerkbar.
Mit der ausgesprochen detailreichen und differenzierten Darstellung zu den Effekten der Reformation auf das thüringische Schulwesen hat D. die frühneuzeitliche Schulforschung auf ein neues Niveau gebracht. Neben einer großen Zahl bisher unbekannten Quellenmaterials sind zahlreiche lokale Entwicklungen rekonstruiert, die das bisher nur holzschnittartige Bild des Schulwesens im 16. Jh. präzisieren und Pauschalurteile unmöglich ma­chen sollten. Besonders sei in diesem Zusammenhang auch auf die Beifügung von 42 Diagrammen über die Immatrikulationsfrequenz in den städtischen Schulen sowie drei Karten zur Organisation des Schulwesens in den 30er und 40er Jahren des 16. Jh.s hingewiesen. Ein Blick in das 18-seitige Archivalienverzeichnis, das durch weitere neun Seiten edierter und gedruckter Quellen sowie ein 46-seitiges Literaturverzeichnis ergänzt wird, lässt die immense Arbeit, die in diesem dickleibigen Werk steckt, immerhin ansatzweise erkennen. Wegen seines Umfanges wird niemand das Opus magnum in einem Zug durchlesen. Aber jegliche Forschung, die sich künftig mit den Bildungsreformen in der Frühen Neuzeit beschäftigt, wird die Ergebnisse der Arbeit zu berücksichtigen haben. Ob ihnen in allen Fällen zugestimmt werden kann, muss die weitere und nicht minder sorgfältige und differenzierte Quellenarbeit zeigen. Auch im Blick darauf ist dem Werk eine breite Rezeption zu wünschen.