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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

817–819

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tiwald, Markus

Titel/Untertitel:

Kommentar zur Logienquelle.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 235 S. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-17-033343-7.

Rezensent:

Martin Ebner

Mit Markus Tiwalds Werk liegt nun nach dem Kurzkommentar von Zeller (1984) erstmals auch in deutscher Sprache ein ausführlicher Kommentar zur Logienquelle vor. Anders als der umfangreiche englischsprachige Kommentar von Fledderman (2005) verzichtet T. auf die Begründung der Textrekonstruktion und legt den Schwerpunkt auf die Eruierung der narrativen Sinnlinien. Der kommentierte Text wird sofort in deutscher Sprache geboten, ohne textkritische Zeichen – mit dem Vorteil der leichteren Lesbarkeit, aber mit dem Nachteil, dass der (Un)sicherheitsgrad nicht auf den ersten Blick erkennbar wird. Grundlage der Übersetzung ist die »Critical Edition of Q« von 2000. Nur Abweichungen von deren Akoluthie (insbesondere bezüglich Q 16: 29 f.) und Wortlaut (z. B. Q 16,18: 115) werden begründet. Hinsichtlich der Gliederung wird das Schema von Hoffmann/Heil (Die Spruchquelle 2002/ 42013) übernommen. Die Kommentierung selbst will – in der Spur der Studie von Labahn (Der Gekommene; 2010) – der »narrativen Sinnbildung« des Dokuments nachgehen, so dass es auf den Aussagegehalt des Textes und nicht auf dessen penible Rekonstruktion ankommt. T. bescheinigt ihm ohnehin »Fluidität« als Merkmal (14 f.). Hinsichtlich der Detaildiskussion der Einleitungsfragen verweist T. auf sein Zwillingswerk »Die Logienquelle. Ein Lehrbuch zu Text, Kontext und Theologie der Quelle Q« von 2016 im gleichen Verlag (11). Was den massiven Gegenwind angeht, der sich seit 2000 nach der »Edition« des hypothetischen Textes noch einmal verschärft hat und der Q-Forschung mit der Bestreitung der Existenz der Logienquelle die Basis unter den Füßen wegzuziehen versucht, verweist T. insbesondere auf »die akribische Habilitationsschrift von H. Scherer« (Königsvolk; 2016), die zeige, »dass das Material der Traditio duplex [sc. die postulierte Logienquelle] einen eigenständigen, über mk Jesusrede und mt Sondergut hinausgehenden, in sich sinnvoll vernetzten Entwurf sozialer Identifikationsgrößen bietet« (11). Zu Recht fragt sich T. dann selbst: Aliquid novi? – und benennt dafür das Diskursfeld »Parting of the Ways« als die Plattform, auf der er die Q-Texte vornehmlich beleuchten will (18).
Nach der »Einführung in den Kommentar« (11–18) versucht T. in den »Einleitungsfragen« (19–43) insbesondere die Abfolge und den Aufbau der sieben Erzählkränze (31–43) im Sinn eines narrativen Plots als »logisch« auszuweisen (37) – jedoch aus welcher Perspek-tive? Hilfreicher wäre m. E. gewesen, den aufweisbaren Komposi-tionsstrukturen nachzugehen, wie es etwa für Q 3–7 (Erzählkranz 1) und Q 13 f. (Erzählkranz 5) geschieht. Diesbezüglich dürfte es symptomatisch sein, dass unter den Einleitungsfragen auf die Gattungsdiskussion verzichtet wird, trägt doch der rekonstruierte Text allenfalls zu Beginn deutlichere narrativ-biographische Zü­ge und bleibt im Kern eine Sprüchekomposition mit kurzen Redeeinleitungen (so auch 66), deren Sinnentfaltung eigenen Gesetzen folgt.
Hilfreich für die eigentliche Kommentierung (44–175) sind die Marginalien, die jeweils die drucktechnisch hervorgehobene Textgrundlage anzeigen. Durch reichhaltigen Rekurs auf Sekundärliteratur werden die Leser schnell auf den neuesten Stand der Q-Forschung gebracht, oftmals durch Zitation im O-Ton. Inhaltlich wird die Einbettung der Q-Sprüche in den frühjüdischen Horizont ausführlich dargestellt, plastisch belegt durch Zitate aus Originalschriften, insbesondere aus der Qumranbibliothek und 1Hen. Das bringt manche Wiederholung mit sich, ist aber für Benutzer, die sich gattungsbedingt nur für eine bestimmte Stelle interessieren, sehr nützlich. Als roter Faden zieht sich durch die gesamte Kommentierung die Stellung der Logienquelle zur Tora als dem Identitätsmerkmal des Judentums. T. kann überzeugend plausibilisieren, dass es in der Logienquelle keineswegs um eine Relativierung der Tora geht, sondern um die Frage der besten, d. h. schöpfungsgerechten Anwendung der Tora für die jeweilige Situation – und in dieser Linie darum, Jesus als den entscheidenden und endgültigen Toralehrer zu präsentieren, ganz analog zum »Tora-Anweiser« in Q umran, traditionell »Lehrer der Gerechtigkeit« genannt (65.92 u. ö.). Schade, dass diese Folie nicht auch für den sogenannten Jubelruf Q 10,22 konsequent durchgezogen wird und die »eschatologischen Geheimnisse« (95), die in der gegenseitigen »Erkenntnis« zwischen dem Sohn und dem Vater »übergeben« werden, nicht mit der Erkenntnis des göttlichen Bauplans der Welt und damit der genuinen Grundlage für die Toradezision konkretisiert werden. Diverse schwierige Einzelfallentscheidungen kann T. durchwegs plausibel begründen, z. B. die Q-Version des Ehescheidungslogions Q 16,18 nach Mt 5,32 ohne Unzuchtsklausel (115) oder die Bevor-zugung des komparativischen Verständnisses von μικρότερος, bezogen auf Jesus, in Q 7,28, womit der Täufer in die Gottesherrschaft einbezogen wird, allerdings in vertauschter Rollenkonstel-lation zu Jesus (73 f.). Hilfreich schließlich ist der Pointierung der Pragmatik insbesondere der Wehe- und Gerichtssprüche als »überspitzte Diskreditierung von innerjüdischen Rivalen« (121) ad extra sowie der Stabilisierung der Gruppenidentiät ad intra oder auch der Versuch, für die eigentliche Sachaussage hinter der Anwendung des Motivclusters vom Prophetenmord (Q 11,49–51) eine Formulierung zu finden: »Die eigene Botschaft wird als Gottes Wille bezeichnet, deren Ablehnung Gewalttat bedeutet« (125).
Natürlich kann man über bestimmte Einzelentscheidungen streiten: Das betrifft die kategorische Ablehnung der Heidenmission für die Logienquelle (22.89.115 u. ö.). Die fiktiven Vorbilder in der Ferne (Tyros und Sidon) sowie in der galiläischen Nähe, nämlich der Hauptmann von Kapharnaum, der nach T. »beispielhaft alles das, was Jesus in seiner programmatischen Rede gefordert hat« erfüllt (66), ließen sich zumindest als Werbung für die Heiden als mögliche Adressaten der (für das jüdische Kernpublikum nicht besonders attraktiven) Botschaft verstehen, wobei die Aufforderung, alles zu essen, was einem vorgesetzt wird (vgl. Q 10,7), dann auch noch die Schwelle des Hauses überschreiten würde (anders 89: »herzhaft zulangen«). Ähnliches gilt für die Behauptung, städtisches Leben sei nicht im Blick (20) – trotz der eigens angewiesenen Stadtmission in Q 10,8–11 und der Agora (!) als Schauplatz für das Gleichnis von den spielenden Kindern in Q 7,32. Verwunderlich ist m. E., dass für die Interpretation des Stürmerspruchs Q 16,16 nicht die Überlegungen von Feneberg (Die Erwählung; 2009, 229) und Stegemann (Jesus; 2010, 270–273) berücksichtigt wurden, die noch einmal hätten untermauern können, was T. für das Verhältnis der Logienquelle zur Tora zu etablieren versucht. Unverständlich für mich war, weshalb T. zwar die Strukturierung des Sauerteiggleichnisses von Ostmeyer (Gott, in: Kompendium, hrsg. von Zimmermann; 2007, 185) übernimmt, aber nicht den daraus resultierenden Clou, nämlich das Fehlen des für die Fermentierung notwendigen Knetens. Die Frau »verbirgt« lediglich den Sauerteig im Mehl. Stattdessen übernimmt T. die von Wolter (Lk; 2008, 487) vorgeschlagene Übersetzung von ἐνέκρυψεν mit »einbuk«. Sauerteig in Mehl (!) einbacken zu wollen, funktioniert aber nicht. Genauso skeptisch bin ich gegenüber der Interpretation des sogenannten Talentegleichnisses für die Jesusebene: »Die gnadenlose Profitorientiertheit der Perikope ist also realitätsnah, wird aber bemerkenswerterweise nicht kritisiert, sondern sogar als beispielhaft veranschlagt« (170). Haben nicht erst die »paränetisch-allegorische[n] Linien« (171), wie sie in der Überlieferung gezogen werden, angefangen in Q (»paränetische Verzweckung«: 170), die Profitgeier zur Vorbildern gemacht, während auf der untersten Ebene es der System-Verweigerer ist, der »couragiert gehandelt« (170) hat? Vermutlich ein Versehen dürfte es sein, die Spruchquelle »mitten am Kreuzungspunkt zwischen oraler und mündlicher (sic!) Traditionsweitergabe« (43) verorten zu wollen.
In den abschließenden Exkursen (Königsherrschaft Gottes, Schriftgebrauch, Gottes Option für die Armen und das »gewaltsame Prophetengeschick«, Apokalyptische Muster, Gleichnisse und Bildworte) werden kompendienartig Motivkomplexe aufgegriffen, die die Spruchquelle in den frühjüdischen Kontext einbetten.
Insgesamt ist dieser Kommentar ein Gewinn insbesondere für Studierende, die sich dem hypothetischen Dokument Q von der inhaltlichen Seite her nähern wollen. Die Kommentierung lässt die traditio duplex als Aufnahme und früheste Fort- und Weiterschreibung der Aktion Jesu verstehen, ganz innerhalb der frühjüdischen Denkrahmens und der sozialgeschichtlichen Bedingungen der frühen Jesusbewegung.