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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

808–810

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Jost, Michael R.

Titel/Untertitel:

Engelgemeinschaft im irdischen Gottesdienst. Studien zu Texten aus Qumran und dem Neuen Testament.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XVI, 454 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 505. Kart. EUR 104,00. ISBN 978-3-16-156740-7.

Rezensent:

Ann-Christin Grüninger

Die Arbeit von Michael R. Jost wurde von Jörg Frey betreut und im Herbstsemester 2018 von der Theologischen Fakultät der Universität Bern als Dissertation angenommen. Der Vf. behandelt ein Thema, welches er als »eher ungewöhnlich« (1) bezeichnet: das Motiv der Gemeinschaft zwischen Menschen und Engeln im Gottesdienst. Eine Einleitung (1–14) führt in die Thematik ein und stellt die Aufarbeitung des Motivs deutlich als Desiderat heraus. Insbesondere durch die gefundenen Qumran-Rollen wurde die Frage nach einer Gemeinschaft mit Engeln virulent, da die Texte Vorstellungen von solch einer Engelgemeinschaft bezeugen.
Teil I (»Alttestamentliche und frühjüdische Aspekte«; 15–30) sammelt Motive, die für die Vorstellung einer gottesdienstlichen Engelgemeinschaft »Anknüpfungspunkte« (15) liefern können. So skizziert der Vf. beispielsweise Jes 6 als »locus classicus für die gottesdienstliche Engelgemeinschaft« (19), wodurch der Text – wie deutlich herausgestellt wird – häufig überstrapaziert wurde. Die Seraphim in Jes 6 führen aktiv einen wechselseitigen Gesang durch, in den Jesaja als Einzelner aber eben nicht miteinstimmt, so dass von einer gottesdienstlichen Engelgemeinschaft daher kaum die Rede sein kann. Für die Psalmen 29; 103 und 148 wird durch den Lobaufruf des Beters an die himmlische Welt eine – wenn auch implizit – performative Gemeinschaft zwischen Menschen und Engeln erkennbar. Zudem werden Jub 2 (gemeinsame Sabbatruhe); Tob 12 und äthHen 9; 15 (Engel als Vermittler des Gebets) sowie Dan 12 (eschatologische Engelgemeinschaft) knapp vorgestellt.
Teil II (»Gottesdienstliche Engelgemeinschaft in Texten vom Toten Meer«; 31–203) beginnt mit einer ausführlichen »Einführung« (31–71) in die Qumran-Literatur und deren Verfasser bzw. Tradenten. Der Vf. klärt auf, dass die Mitglieder der aus Qumran bekannten Gruppe (yaḥad; דחי) »nicht zwingend gemeinsam in einer lokalen Gemeinschaft leben« (43) mussten, sondern dass sie sich auch an verschiedenen Orten im Land befinden konnten, um dazuzugehören. Im Fokus stand eine »tiefgreifendere theologische Einheit« (43). Weiterhin wird das Selbstverständnis der Gemeinschaft beschrieben, die hierarchisch strukturiert war (Lehrer; Pries-ter), sich dem Gedanken der Einheit verschrieb, sich in einem »kosmischen Kontext« (70) verortete und in der Gegenwart der Engel sah. Die gottesdienstlichen Zusammenkünfte und bestimmte Handlungen zu heiligen Zeiten (z. B. zu Festtagen) waren iden-titätsstiftend. So ist auch eine performative Sichtweise bei der Analyse der Texte wichtig, denn Identität bildet die Gemeinschaft eben »nicht im Text, sondern im liturgischen Vollzug« (70). Im Folgenden werden alle impliziten und expliziten Belege in der Qumran-Literatur für eine Gemeinschaft zwischen Menschen und Engeln im Gottesdienst präsentiert, analysiert und ausgewertet. Diese sind: »1QS Regel des yaḥad; (X 6–XI 22 Lobpsalm)« (72–85), »1QHa Hodayot« (85–120), »1QSb Segenssprüche« (120–130); »4Q503 Tägliche Gebete« (130–140), »4Q504 Worte der Lichter« (140–146), »4Q511 Lieder des Maskil« (146–161), »4Q400–407, 11Q17 und Mas1k Lieder zum Sabbatopfer« (161–190) sowie »Weitere Texte« (4Q181; 4Q286; 4Q301) (190–196). In jede Schrift wird knapp eingeführt; der verfügbare Text sowie Inhalt und historisch-literarischer Kontext werden umrissen. Es folgt jeweils die ausführlich exegetische Analyse, eine Fokussierung der performativen Textdimension sowie ein knappes Fazit. Ein abschließendes »Fazit zu den Texten vom Toten Meer« (196–203) bündelt und systematisiert die Untersuchungsergebnisse: Erzählen die Text von einer Engelgemeinschaft, erfüllt dies »keinen Selbstzweck« (197). Die Texte haben immer eine übergeord-nete Funktion der Rede von Engeln im Blick, die z. B. dazu dienen kann, die Stellung und Bedeutung der Gemeinschaft insgesamt hervorzuheben (vgl. 1QS) oder die Priester und deren Dienst zu autorisieren (1QSb). Weiterhin ist die Gegenwart der Engel nicht zeitlich begrenzt – mit ihrer Gegenwart kann überall und immer gerechnet werden. Die Gemeinschaft mit den Engeln wird darum nicht erst durch eine Liturgie erzeugt, sondern »vergegenwärtigt« (197). Dieses Vergegenwärtigen der aktualen Gemeinschaft ge­schieht z. B. im gemeinsamen, kosmischen Lobpreis Gottes (vgl. 4Q503, 4Q504, 4Q286) und im gemeinsamen gottesdienstlichen Handeln (vgl. 4Q400–407). Zudem differenziert der Vf. zwischen kosmischer, aktualer gottesdienstlicher und eschatologischer Ge­meinschaft.
Teil III nimmt das Motiv der gottesdienstlichen Engelgemeinschaft in neutestamentlichen Texten in den Blick (205–338), allerdings gibt es nur wenige Stellen, »die auf die Vorstellung einer gottesdienstlichen Engelgemeinschaft hindeuten« (207): 1Kor 11,10 (»Erster Korintherbrief«; 208–241); Hebr 12,22–24 (»Hebräerbrief«; 242–283), Belege aus Offb 1–19 (»Johannesapokalypse«; 283–331) sowie Eph 2,19 und Kol 1,12; 2,18 (»Weitere Texte«; 332–337). Im präg-nanten »Fazit zu den Texten aus dem Neuen Testament« (337–338) hält kein untersuchter Beleg dem Maß der aktualen Gemeinschaft mit Engeln im Gottesdienst stand. Die Vorstellung einer »gegenseitigen Verbundenheit« (337) mit den Engeln fehlt in den analysierten Texten. In den neutestamentlichen Schriften wird eine zu­künftige himmlische Gemeinschaft erhofft, jedoch nicht mit den Engeln, sondern mit Jesus Christus. Die Angelologie hat – zu-gunsten der Christologie – eine geringere Bedeutung im Neuen Testament, als dies für die Qumran-Literatur konstatiert wurde.
In Teil IV »Rabbinische und patristische Perspektiven« (339–365) werden einige wichtige Texte für die Fragestellung exemplarisch und thematisch konzentriert behandelt. Die rabbinische Literatur nimmt biblische Traditionen auf, entwickelt die Rede von Engeln aber weiter. Im patristischen Kapitel nimmt der Vf. z. B. Origenes in den Blick, der »die Präsenz der Engel in der Gemeinschaft der Kirche« (364) betont, sowie Johannes Chrysostomus, der den Priester als irdischen Engel versteht, und Pseudo-Dionysius Areopagita, der in der Gegenwart der Engel einen »konstitutive[n] Bestandteil des liturgischen Wirklichkeitsverständnisses« (364) begründet sieht.
Das Resümee (367–374) fasst die Ergebnisse der Teile I–IV zusammen. Hier werden die Sabbatopferlieder aus Qumran in ihrer Einzigartigkeit, mit ihrer »ausdrucksstarken« Sprache und »vielfältigen Bildern« (368) nochmals besonders herausgestellt. Eine »durchlaufende Traditionslinie« (370) des Motivs einer Engelgemeinschaft im Gottesdienst lässt sich laut Vf. »nicht nachweisen« (370). Das Resümee schließt mit »Perspektiven« in kirchen- und liturgiegeschichtlicher sowie in systematisch-theologischer Hinsicht. Ein sauber gegliedertes Literaturverzeichnis (377–413), ein Stellenregis-ter (415–438), ein Register der Autorinnen und Autoren (439–445) und ein Sachregister (447–454) schließen das Werk bestens ab.
Wünschenswert wäre eine prägnantere Hinführung in die Thematik gewesen, die sich stärker auf die Forschungsfrage konzentriert. Für die Sabbatopferlieder hätte noch weitere wichtige Forschungsliteratur aufgenommen werden können (vgl. hierzu B. Ego, Der Gottesdienst der Engel, in: ThLZ 140 [2015], 886–893; B. Ego, Le »Temple Imaginaire«: Himmlischer und irdischer Kultus im antiken Judentum am Beispiel der Sabbatopferlieder, in: Verkündigung und Forschung 56 [2011], 58–62). Inwiefern die Texte der alttestamentlichen Überlieferung in Teil I Anknüpfungspunkte für das Motiv der Engelgemeinschaft bieten, wird leider nicht ganz deutlich. Der Vf. hat sich hier um ein Motiv bemüht, welches insbesondere in den Texten vom Toten Meer Ausdruck findet. Da­durch hat er einen wichtigen Beitrag zur Erforschung dieser Literatur geleistet.