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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

795–798

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gertz, Jan Christian, Körting, Corinna, u. Markus Witte [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Buch Ezechiel. Komposition, Redaktion und Rezeption.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. IX, 337 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 516. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-061819-8.

Rezensent:

Karin Finsterbusch

Die von der Fachgruppe Altes Testament in der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie e. V. organisierte jährliche Tagung galt im Jahr 2018 dem Ezechielbuch. Der hier zu besprechende Sammelband enthält die auf dieser Tagung gehaltenen, für die Publikation überarbeiteten Vorträge.
Einen instruktiven Überblick über Ezechiel in den Handschriften vom Toten Meer bietet Heinz-Josef Fabry, »Ezechiel in Qumran und Masada – Bezeugung und Rezeption«: Die wenigen fragmentarisch erhaltenen Ezechiel-Handschriften stehen weitgehend der masoretischen Textfassung des Buches nahe; Ezechiel-Zitate in CD und 4QMidrEschat bezeugen die Existenz nicht-masoretischer Textfassungen des Buches im frühen Judentum; die Textabfolge in Pseudo-Ezechiel stimmt weder mit dem MT-Ez noch mit der von LXX967-Ez repräsentierten Textfassung überein. Fabry vertritt die These, dass die proto-masoretische Textfassung des Ezechiel älter ist als die wahrscheinliche hebräische Vorlage von LXX967-Ez, die er als »zwischenzeitlich hasmonäisch verunstalteten Kurztext« charakterisiert (19.37). Diese Einschätzung wird von seinem Schüler Michael Konkel, »Die Ezechiel-Septuaginta, Papyrus 967 und die Redaktionsgeschichte des Ezechielbuches – Probleme und Perspektiven am Beispiel von Ez 34«, nicht geteilt. Konkel hält vielmehr mit der großen Mehrheit der Kollegen und Kolleginnen die proto-masoretische Textfassung des Ezechiel für grosso modo jünger als die hebräische Vorlage von LXX967-Ez. Vielfach repräsentiert der Ezechiel-Text des Papyrus 967 gegen den von Ziegler in der Göttinger Ausgabe erstellten eklektischen Text den Old Greek Ezechiel, wie Konkel an mehreren Beispielen in Ez 34 nachweist. Seine Analysen der Textüberlieferung zeigen zudem, dass Schreiber-Redaktoren an den Ezechieltexten bis weit in das 2. Jh. v. Chr. hinein umfangreich gearbeitet haben.
Anja Klein, »›Das Ende kommt‹ – Textgeschichte, Redaktion und literarische Horizonte in Ez 7,1–12a«, rekonstruiert nach einer getrennten Analyse der beiden sich erheblich voneinander unterscheidenden hebräischen und griechischen Textfassungen von Ez 7,1–12a ein kurzes Gerichtswort (7,6aβ.7–9). In diesem wurde das Motiv des bevorstehenden Endes aus Am 8,2 (dort bezogen auf das Nordreich Israel) aufgenommen und als Gerichtswort für ganz Israel ausgestaltet. Zu einem Zeitpunkt, als dieses Gerichtswort be­reits ins Griechische übersetzt worden war, erweiterte laut Klein ein proto-masoretischer Schreiber-Redaktor den Text des Gerichtswortes dann noch mehrfach. Dabei wurde die Ankündigung des Endes unter Anspielung auf die Visionen in Dan 8 und 9 mit dem Kommen der הריפצ verbunden; Klein verweist zu Recht auf die Nähe dieses in Bezug auf die Bedeutung unklaren Wortes zum »Ziegenbock« (ריפצ) in Dan 8,5.8.21, der die Schreckensherrschaft der hellenistischen Könige repräsentiert. Der Redaktor stellte allerdings im Unterschied zu Dan 8 f. keine Begrenzung des Unheils in Aussicht, das Endgericht implizierte für ihn den Abbruch der Beziehung zwischen JHWH und seinem Volk.
Christophe Nihan, »Ezechiel 8 im Rahmen des Buches – Kompositions- und religionsgeschichtliche Aspekte«, rekonstruiert in einem textkritischen Durchgang durch das Kapitel zunächst die Grundschicht (8,1.3b.5–6*.7a.9.10–13*.14–15*.16–17*.18). Demnach enthielt die »älteste erreichbare Fassung« des im Kapitel im Fokus stehenden Visionsberichtes bereits eine Beschreibung von vier Ritualen. Im Zuge der Analyse dieser vier Rituale kann Nihan plausibel machen, dass sie nicht durch ein gemeinsames kultisches Oberthema verbunden sind; ein Ritual wurde dem folgenden aufgrund jeweils verschiedener thematischer Assoziationen zugeordnet. Durch die vier Rituale wurde laut Nihan eine Art theologisches Statement abgegeben, insofern sie sich polemisch gegen babylonische Rituale richteten; sie sind also nicht als »faktische« Beschreibung des Kultes in Jerusalem im 6. Jh. v. Chr. lesbar.
Franz Sedlmeier zeigt in seinem Beitrag »›Ich will euch gnädig annehmen …‹ (Ez 20,41) – Ez 20,39.40–44 im Horizont des Ezechielbuches«, dass die letzten Verse in Ez 20 zusammen mit Ez 16,59–63; 36,16–38 und 43,27 einen besonderen gnadentheologischen Akzent in das Ezechielbuch einbringen. Dabei wird laut Sedlmeier nicht nur Gottes Heilsinitiative ohne Bedingungen verheißen, sondern diese Heilsinitiative, die in 43,37 mit der Aussage von der gnädigen Annahme Israels durch Gott gipfelt, wird auch als Ausgangspunkt für eine tiefgreifende Transformation der Menschen gedacht: Got tes gnädige Annahme wird in ihnen die Einsicht in die eigene Schuld hervorrufen (16,61; 20,43; 36,31); zudem werden Gottes Heilstaten, verbunden mit der Gabe des göttlichen Geistes, die Menschen erst zum Leben nach der göttlichen Weisung befähigen (36,24–28).
Markus Saur argumentiert in seinem Beitrag »Vom Untergang Ägyptens – Ez 29–32 im Kontext des Ezechielbuches« gegen die alte These von W. Zimmerli, Ez 29,1–16 und 30,20–32,32 bildeten eine selbständige Spruchsammlung gegen Ägypten und den Pharao. Nach Saur sind diese Texte stufenweise gewachsen, wie er anhand exegetischer Skizzen der Kapitel 29 und 31 zeigt. Saur zeichnet nach, wie sich aus Gerichtsworten gegen den Pharao im 6. Jh. v. Chr. über Jahrhunderte hinweg universale Perspektiven entwickelten, die nicht nur Abgrenzung, sondern auch Gemeinsamkeiten zwischen Israel und der Völkerwelt in den Blick nahmen. Er weist hierbei auf die besondere Empathie hin, die sich in Teilen der Ägyptenworte erkennen lässt, und deutet sie als Zeichen dafür, dass die Autoren ihre Nachbarn nicht nur als Gegner wahrnahmen, sondern dass sie die Fremde auch als einen Ort des Bleibens verstanden.
Walter Bührer, »Ezechiel und die Priesterschrift«, vergleicht zu­nächst Texte, die den ältesten Teilen der Priesterschrift einerseits und der sogenannten golafavorisierenden Schicht des Ezechielbuches andererseits zugerechnet werden; Bührer datiert diese Texte in die beginnende persische Epoche. Dabei plädiert er für eine traditionsgeschichtliche Verwandtschaft: So wurden beispielsweise in Gen 1,1–2,3 wie in Ez 1,1–28 mesopotamische kosmogonisch-kosmologische Vorstellungen rezipiert und ein vertikal übereinander geschichtetes Weltbild vorausgesetzt. Den Nachweis von literarischen Bezügen hält Bührer im Fall von Ex 6,2–8 (Grundbestand von P) und Ez 20 (den sogenannten diasporatheologischen Bearbeitungen des Ezechielbuches zugehörig) aufgrund exklusiver gemeinsamer Wendungen für möglich. Dabei sprechen mehr Indizien für eine Bezugnahme der Verfasser des Kapitels Ez 20 auf Ex 6,2–8 als umgekehrt. Bührer macht abschließend anhand mehrerer Beispiele deutlich, dass die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Ezechieltexten und Priesterschrift über die Epochen hinweg wechselseitig waren.
Christoph Koch konzentriert sich in seinem Beitrag »Vorstellungen von Gottes Wohnort im Ezechielbuch« auf die drei buchstrukturierenden Visionen (Ez 1–3; 8–11; 40–48). Er zeigt auf, dass in den Visionen die in der vorexilischen Jerusalemer Tempeltheologie bezeugte Vorstellung vom Wohnen JHWHs auf dem Zion bzw. im Tempel nicht getilgt, sondern mit Hilfe babylonischer Vorstellungen verändert wurde, und zwar in der Weise, dass neben JHWHs irdisch-kultischer Wohnstatt seine himmlische Wohnstatt expliziert wurde. Dieses Nebeneinander ermöglichte es, die Nähe JHWHs zu den Menschen in der Fremde anzunehmen, ohne seine besondere Beziehung zu dem Jerusalemer Tempel zu bestreiten. Im Hinblick auf die Beschreibung der göttlichen דובכ als strahlendes Lichtphänomen in allen drei Visionen und der Rückkehr JHWHs in Gestalt des Sonnengottes in den Tempel (43,2*) unter Anknüpfung an die solare Charakterisierung in der Himmelsvision (1,27 f.*), spricht sich Koch überzeugend für einen ursprünglichen Zusammenhang der drei Visionen aus. Im Hinblick auf den babylonischen Traditionshintergrund plädiert er (u. a. gegen Pohlmann) für eine Datierung des Grundbestandes der Visionen noch in das 6. Jh. v. Chr.
Die von Casey A. Strine, »Theological Anthropology and Anthropological Theology in the Book of Ezekiel«, vertretene zentrale These lautet, dass die Anthropologie des Ezechielbuches fundamental von der Erfahrung der gewaltsamen Migration geprägt wurde. Aus dieser Erfahrung resultierte für die Migranten, so Strine, der Wunsch nach eigenständigem Handeln und nach der Möglichkeit, über die eigenen Angelegenheiten entscheiden zu können (z. B. Ez 20,32). Von einem pessimistischen Menschenbild in Ezechiel geht Strine (u. a. gegen P. Joyce und J. Lapsley) nicht aus: So zeigen beispielsweise Ez 18 und 20, dass den nach Babylon deportierten Judäern durchaus zugetraut wurde, umzukehren oder über die Akzeptanz bzw. Ablehnung von Götzen zu entscheiden. Zu den Besonderheiten des Ezechiel gehört nach Strine zudem, dass die Anthropologie facettenreich auf JHWH projiziert wurde (»Ezekiel en­visions YHWH like an involuntary migrant in an isolated context«, 250). Zugespitzt formuliert vertritt das Ezechielbuch eine theologische Anthropologie und eine anthropologische Theologie.
In einem materialreichen Beitrag entfaltet Martin Karrer das Thema »Ezechiel im ersten Christentum«. In den neutestament-lichen Schriften wird der Prophet namentlich nicht erwähnt. Eine christologische Rezeption des Ezechielbuches begann, wie Karrer ausführt, im ausgehenden 1. Jh.: In Joh 10,1–18 wurde aus der Hirtenrede (Ez 34) das Bild des guten Hirten abgeleitet; in Apk 4–5 wurde unter Bezugnahme auf die Thronvision (Ez 1) auf die Bedeutung Christi geschaut. Dabei weist Karrer ausdrücklich darauf hin, dass die Christologie in die Strukturen der alten Verkündigung eingeschrieben wurde, ohne diese zu usurpieren (291). Besondere Würdigung erfuhr Ezechiel in der Apk (breite Bezugnahmen auf das Buch, dabei wohl Kenntnis verschiedener Textfassungen) und im 1Clem (in 17,1 wird Ezechiel namentlich als Vorbild genannt). Diese vergleichsweise späte Rezeption erklärt Karrer plausibel mit dem Dias-poraprofil des Ezechielbuches: Erst ab ca. dem Ende des 1. Jh.s (und nicht schon in der jesuanischen Zeit mit judäisch-galiläischer Pers-pektive) gewann Ezechiel besondere Bedeutung als Prophet für ein Gottesvolk, das unter die Völker zerstreut und dort gesammelt wird.
Wie Karin Schöpflin in ihrem Beitrag »Prophet, Gottesthron, steinernes Menschenherz, Totenfeld und Quelle des Lebens – Aspekte der Rezeption des Ezechielbuches« aufweist, spielte das Ezechielbuch in Literatur und Kunst durchaus eine Rolle. So inspirierte das Motiv des steinernen Herzens etwa E. T. A. Hoffmann und Wilhelm Hauff. Thomas Mann ließ im zweiten Band seiner Trilogie Joseph und seine Brüder den jungen Joseph einen Himmelstraum träumen, den Mann mit Motiven aus Ez 1 ausstattete. Eine besonders intensive Rezeption erfuhr die Vision der Wiederbelebung der Totengebeine (Ez 37). Sie wurde mehrfach in Bildern umgesetzt; eine Darstellung der Vision findet sich auch auf dem mittleren Arm der Menora, die seit 1966 vor der Knesset in Jerusalem steht.
Der Sammelband gibt einen sehr guten Einblick in den aktuellen Stand der Ezechielforschung, die in den letzten Jahren zu Recht an Bedeutung gewonnen hat. Die Beiträge zeigen eindrücklich, dass das Ezechielbuch theologisch bedeutsam ist und dass seine Textgeschichte, die durch die erhaltenen unterschiedlichen Textfassungen greifbar wird, äußerst interessant ist.