Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2020

Spalte:

793–795

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Agbagnon, Jean Prosper

Titel/Untertitel:

»Und die Nacht wird leuchten wie der Tag«. Weltbild, Gottesbeziehung und Bewusstsein des Beters in Psalm 139.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 376 S. = Herders biblische Studien, 92. Geb. EUR 65,00. ISBN 978-3-451-34987-4.

Rezensent:

Elisabeth Krause-Vilmar

Jean Prosper Agbagnon SVD wurde 1973 in Togo geboren. Er war an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bo­chum tätig. Dort wurde die Monographie 2015 als Doktorarbeit angenommen (Doktorvater: Christian Frevel).
Das Werk ist die erste monographische Auslegung zu Psalm 139, der in der christlichen Frömmigkeit beliebt ist und eine lange Auslegungsgeschichte erfahren hat. A. beabsichtigt, Ps 139 genauer zu datieren und im Kontext des fünften Davidpsalters zu interpretieren, wobei er sich von Gattungsfragen lösen und die Analyse zur Struktur und zum Gebetsprozess in die Interpretation einbeziehen möchte. Er verfolgt das Ziel, die Ergebnisse der Exegese in pasto-rale Diskurse der Gegenwart einzubringen. Nach A. ist »die Frage nach der Ambivalenz und der Ambiguität zum größten Teil ein r ezeptionskritisches Problem« (29) und die vielfach dargestellte am­bivalente Gottesbeziehung des Psalms »korrekturbedürftig« (30). Ein weiteres Ziel A.s ist daher, die im Psalm dargestellte Gottesnähe verstärkt als Geborgenheit plausibel zu machen: »Nur unter den Voraussetzungen der unlösbaren Gott-Mensch-Relation und der vorausgesetzten Güte und Gnade, Vor- und Fürsorge des Schöpfergottes ist die Gottesnähe als Geborgenheit und die Handlungsoption nicht als gewalttätig zu deuten.« Damit wendet sich A. gegen eine negative oder auch ambivalente Beschreibung der Gottesbeziehung in Ps 139, was jedoch im Kontext der Forschungsgeschichte des Psalms eine einlinige Perspektive darstellt.
A.s Werk ist in dreizehn Kapitel gegliedert. In der Einführung begründet er die Einzigartigkeit von Ps 139 im Vergleich zu anderen anthropologischen Grundtexten mit der »reflexiven Form der existenziellen Auseinandersetzung mit Gott und der Welt« (17) und gibt einen fundierten Forschungsüberblick. Er möchte die seiner Meinung nach vorherrschende Orientierung der Forschung an der Semantik aufbrechen – was genau damit gemeint ist, bleibt offen – und die semantische Untersuchung lediglich »als Wegweiser für die Strukturanalyse« (29) verstehen. Dieses Ziel wird jedoch da­durch konterkariert, dass die semantische Untersuchung (Kapitel 5) der Strukturuntersuchung (Kapitel 4) nachgestellt ist.
Im Anschluss an eine sorgfältige Übersetzung mit textkritischen und sprachlichen Beobachtungen (Kapitel 2) begründet A. plausibel die literarische Integrität des Psalms, wobei er V. 19–22 als integralen Bestandteil des Psalms versteht (Kapitel 3). Die Feindthematik dieser Verse unterstreicht A. zufolge die Bindung zwischen Gott und der betenden Person und verdeutlicht deren sozialen Kontext.
In einer ausführlichen Strukturanalyse (Kapitel 4) stellt A. überzeugend dar, dass es Ps 139 in seiner Ganzheit zu betrachten gilt und dass die vier Strophen (V. 2–5; 7–12; 13–16; 19–22) aufeinander bezogen und durch V. 1b sowie V. 23–24 gerahmt sind. Zentral sei in Ps 139 die Beziehung, die durch eine körperliche Fürsorge und eine »totale Ausrichtung Gottes« (103) auf die betende Person entstehe, was in V. 2–5 als ganzheitliches Erkennen des Menschen durch Gott zum Ausdruck gebracht werde. V. 6 und V. 17–18 haben aus der Sicht A.s »Erkenntnis- und Bekenntnischarakter, sie betonen die Überlegenheit Gottes in Wissen und Handeln dem Beter gegenüber« (72), während V. 7–12 die universale Gegenwart Gottes und Gottes Zuwendung der betenden Person gegenüber darstellen. Insgesamt versteht A. die Nähe Gottes als uneingeschränkt positiv: »Für eine positive Deutung der [sic!] V. 10 sprechen nicht nur die Zugewandtheit Gottes in V. 7 und die vorhersehenden Augen in V. 16, sondern auch die im existenziellen Dasein erfahrene Fürsorge in V. 5. So wird auch die Bitte um weitere Führung in V. 24 nachvollziehbar.« (79 f.) In V. 17–18 stellt A. eine Entwicklung »von der Transzendenz zur Kon-deszendenz/Immanenz, von der Ferne zur engen Nähe bis zum ›Mit-Sein‹ des Beters mit dem göttlichen Du« (97) fest. Er fasst V. 19–22 folgendermaßen zusammen: »Schließlich wird dem Beter bewusst, dass nicht ihm, sondern Gott allein die Prärogative und Kompetenz zustehen, gegen das Böse in der Welt vorzugehen. So entscheidet er sich in den Vv. 23 f. für eine totale Hingabe an Gott.« (101) In diesem Kapitel stellt A. schlüssig ein ganzheitliches Grundverständnis des alttestamentlichen Menschenbildes heraus.
In seiner semantischen Untersuchung (Kapitel 5) möchte A. vermeiden, »sich aus argumentativer Unbeholfenheit der ›Ambiguität/Ambivalenz preiszugeben‹« (120), und wendet sich so gegen die in der jüngeren Forschung vorherrschende ambivalente Deutung des Psalms. Er kann keine »semantisch-syntaktische[n] Anhaltspunkte für eine im Text angelegte vermeintlich ambivalente oder negative Gefühlswelt« finden und hält eine solche Bewertung für eine »an den Psalm herangetragene Fehlinterpretation« (134).
Thematisiert Kapitel 6 die Kategorien von Raum und Zeit in Ps 139, so Kapitel 7 die verwendeten Motive, die A. zufolge die positive Zuwendung Gottes unterstreichen. Am Beispiel der Hand (V. 5) bezieht A. erneut deutlich Position gegen die jüngere Forschung: »Diese indifferenten Positionen greifen nicht nur bei der Gottes-erfahrung des Beters zu kurz, sie umgehen lediglich ihre unterschwellige Neigung zur negativen Deutung des Handelns Gottes. Solch eine Uneindeutigkeit verrät die in der Forschung ziemlich verbreitete Unbeholfenheit gegenüber fehlenden textinternen/-externen Anhaltspunkten für eine negative Deutung.« (186) Stattdessen »be-geistert, be-fähigt und be-flügelt« (190) die Handauflegung in V. 5 den Beter.
In Kapitel 8 thematisiert A. die anthropologische Dimension in Ps 139 und hebt mit Bezug zu den schöpfungstheologischen Aussagen in Ps 139,13–18 überzeugend die Würde des Menschen hervor. Diese Verknüpfung von Ps 139 mit der Würdethematik ist für seelsorgerliche Diskurse wertvoll.
In Kapitel 9 plädiert A. für eine späte Entstehung des Psalms und erkennt in der Betonung der Individualität, der Auseinandersetzung mit den Feinden und der Souveränität Gottes sogar eschatologische und apokalyptische Züge.
In Kapitel 10 erläutert A. die Funktion von Ps 139 im fünften Davidpsalter als reflexive Versicherung des Vertrauens und erkennt folgende Entwicklung: »Was das betende Ich in Ps 139 existentiell durchmacht, führt also die Davidfigur am Schluss der letzten Sammlung durch den Verzicht auf irdische Gewalt/Institution durch und übergibt Gott die endgültige Herrschaft mit allen Wissens- und Handlungsprärogativen: Solo Dios basta! Gott allein genügt!« (304)
Es schließen sich Anmerkungen zur Mystik in Ps 139 (Kapitel 11), zur Gewaltproblematik (Kapitel 12) sowie Schlussthesen an (Kapitel 13). In diesen letzten Kapiteln wendet sich A. erneut gegen ein negatives Gottesbild, das er als »feindlich« und »gewalttätig« (321) beschreibt. Als Hinweis für ein positives Verständnis der in Ps 139 geschilderten Gottesbeziehung versteht er auch die Positionierung des Beters in den V. 19–22, »die seine selbstgewählte Entschlossenheit voraussetzt.« (356)
Im Verlauf der Lektüre erhärtet sich der Eindruck, dass mit dieser eindimensionalen Deutung von Ps 139 und der – exegetisch kaum überzeugenden – Ablehnung jahrzehntelanger Forschung die biblisch bezeugte und menschlich erfahrene Dynamik einer Gottesbeziehung außen vor bleibt.
Das Buch wird mit einem Literaturverzeichnis und Indizes zu Bibelstellen, Begriffen, hebräischen Termini und modernen Autoren abgeschlossen.