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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

791–793

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

[Leutzsch, Martin]

Titel/Untertitel:

Jesus-Transformationen. Hrsg. v. R. Janus, S. Niepert-Rumel, I. Nord, J. Schmidt u. H. Schroeter-Wittke.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 248 S. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-04805-2.

Rezensent:

Antje Roggenkamp

Der Sammelband dokumentiert eine Ringvorlesung, die im Wintersemester 2015/2016 an der Universität Paderborn stattfand. Sie wurde um einige weitere Aufsätze ergänzt. Das Thema der Ringvorlesung greift auf Forschung und Lehre des Neutestamentlers Martin Leutzsch zurück: Die Bibel ist nicht nur die eigene, sondern immer auch die Bibel Anderer. Konkret stehen die konstruierten Bilder Jesu im Zentrum, die in mannigfachen Transformationsprozessen ausgebildet sind.
Jürgen Ebach unternimmt den Versuch, Informationen gegen sogenannte Fake News einzusetzen, die als gezielte, über journa-listische Organe verbreitete Desinformationen den Versuch unternehmen, Jesus aus Altem Testament und Judentum zu lösen. Das Alte Testament ist keine Vorstufe des Neuen, wie es etwa die Erfüllungszitate nahelegen, sondern das Neue Testament versteht sich für Menschen, die nicht dem Volk Israel zugehören, als ein Zugang zu »Israel[s] Gott« (17–33). Sophia Niepert-Rumel befasst sich mit den verschiedenen Bezeichnungen Jesu als Metaphern: Lamm Gottes, Bräutigam, A und O etc. Sie unterscheidet zwischen eigentlichen Metaphern als »Tenor«, d. h. Bildempfänger, und störenden Metaphern als »vehicle«, die allererst zu Bildspendern werden. Im Umgang mit diesen (jesuanischen) Metaphermetamorphosen transformieren sich die komplementären Metaphernzugänge, so dass Jesus als eine Art Gesamtmetapher betrachtet werden kann (34–48).
Elsa Klappheck befasst sich mit Jesustransformationen im Ju­dentum. Sie profiliert auf der Basis religiöser und politischer Zu­gänge zum Talmud eine Transformation innerhalb der jüdischen Jesusforschung. Sie macht auf Diskrepanzen zwischen Jesu Überlegungen und den Lehren der Kirche aufmerksam und überlegt vom Talmud her, eine jüdische Perspektive auf das Christentum zu entwickeln (49–76). Klaus von Stosch thematisiert Transformationsprozesse des Jesusbildes im Rahmen des Koran. Er analysiert drei Suren des Koran, in denen Jesus erwähnt wird. Sie stellen markante Etappen in der Auseinandersetzung mit dem Christentum dar. Von Stosch verweist auf Ansätze einer Prophetologie, das Selbstverständnis der muslimischen Gemeinde, aber auch auf den Bruch mit dem Christentum (77–95).
Richard Janus avisiert Jesustransformationen in der Kunst. Exemplarisch befasst er sich mit Berthel Thorvaldsens »Christus mit den 12 Aposteln«. Christus wird hier als der Auferstandene gezeigt, der die Menschen zu sich einlädt. Die Statue ist in vielen protestantischen Kirchen aufgestellt und schmückt auch Gräber. Im Unterschied zu hegemonialen Männlichkeitskonstruktionen zeigt sie ein weiches, fast feminines Jesusbild (96–108). Maria Japs befasst sich mit Nahida Ruth Lazarus-Remy, einer Künstlerin, die vom Christentum zum Judentum konvertierte. Sie setzte sich noch als evangelische Christin mit den im 19. Jh. aufkommenden antisemitischen Strömungen auseinander. Wenn sie Jesus als charismatischen Menschen aus Palästina und reformatorischen Rabbi interpretiert, so vollzieht sie eine Art Heimholung Jesu in das Judentum (109–118). Gisela Maria Sander befasst sich mit der Analyse des Jesusbildes in der Literatur. Sie fokussiert sich auf Rainer Maria Rilke, der dem Christentum distanziert gegenüberstand. Sander befasst sich mit der Frage, warum der Dichter, der jeden Glauben an Christus als Gottes Sohn und Vermittler ablehnte, sich dennoch immer wieder mit Jesus von Nazareth auseinandersetzte. Seine subjektive Christusdarstellung wird zum künstlerischen Impuls und Anreiz zur Reflexion des eigenen (Lebens-) Glaubens (119–129).
Gabriele Jancke greift auf Kinderliteratur zurück. An Johanna Spyris »Heidi« und Astrid Lindgrens »Pippi Langstrumpf« gewinnt sie Rahmungen, von denen aus sie die Perikope des zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41–52) liest. Bei den Rahmungen handelt es sich um spezifische Lesebrillen, die man aufsetzen kann, wenn man sich Jesusvorstellungen nähert. Das Verfahren wird dekonstruierend eingesetzt (130–169). Jonathan Fromann-Breckner thematisiert Jesustransformationen im Rahmen entwicklungspsychologischer Fragestellungen. Er aspektiert Transformationen zur religiösen Entwicklung Jesu in seiner Kindheit und Jugend, indem er apokryphe Passagen aus dem Thomasevangelium, aber auch die Bibel nach Biff heranzieht. Die Texte transferieren Vorstellungen, die zwar in den Evangelien nicht bezeugt sind, wohl aber die Wahrheitssuche und das Verlangen des Menschen spiegeln, sich in die Persönlichkeitsentwicklung Jesu hineinzuversetzen. In theore-tischer Hinsicht geht es Fromann-Breckner um das Einspielen von konzeptionellen Ansätzen George H. Meads. Eine Spieltheorie wird entwickelt (170–191).
Harald Schroeter-Wittke geht es um das ästhetische Potential der Erkundung von Jesustransformationen, die er im musikalisch-ästhetischen Bereich verordnet. Er setzt sich mit dem Leben Jesu in 28 Klavierstücken des jüdischen Komponisten Mario Castelnuovo-Tedesco auseinander. Als Perspektiven gibt er jüdische, pianistische und religionspädagogische Ansätze vor (192–210). Marion Keuchen beschäftigt sich mit Jesustransformationen im und für den Religionsunterricht. Sie unterscheidet mit Hanna Roose und Friedhelm Kraft zwischen einer ethischen Jesuologie und einer begründenden Christologie. Insgesamt geht es ihr um die Frage, wie sich Jesus als Mensch und Sohn Gottes für Lernprozesse im Religionsunterricht eignet. Die Botschaft Jesu spricht bis heute viele Menschen verschiedener Glaubensrichtungen, Weltanschauungen und Haltungen an. Keuchen geht dem Phänomen auf der Grundlage von An­forderungssituationen eines Schulbuchs nach (211–231).
Helga Kuhlmann interessiert sich für die Einordnung von Person und Bedeutung Jesu Christi in zentralen christlichen Ansätzen. »Kommunikation über Jesus« ist immer auch »Kommunikation des Evangeliums« als Freudenbotschaft. Sie ordnet diese Transformationen nicht nur systematisch-theologischen Aspektierungen zu, sondern denkt sie auch in interreligiöse sowie feministisch-theologische Diskurse ein. Sie macht deutlich, inwiefern Jesustransformationen längerfristig gewachsenen Überzeugungen entsprechen (232–244).
Den Herausgebern und Herausgeberinnen geht es um die mehrdeutigen Wirkungen der Jesustransformationen. Dem entspricht eine Orientierung jenseits traditioneller Wissensbestände sowie verwandter methodologischer Ansätze. Die Aufsätze erweitern im Dienst der nachhaltigen Beschäftigung mit der Person Jesus von Nazareth den traditionellen Kanon, fordern aber auch ein erhebliches Maß an Ambiguitätstoleranz ein. Die Transformationen er­weisen sich grundsätzlich als ein spannender Versuch, neue Wege zu beschreiten. Gelegentlich hätte man sich eine etwas größere Offenheit für multiple und mehrperspektivische Zugänge ge­wünscht, die entgegen den Überlegungen des Vorworts, das verspricht, Perspektivwechsel und Horizonterweiterungen zu fördern (16), nicht in jedem Aufsatz erkennbar eingelöst sind.