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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

786–789

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Collins, Matthew H., and Paul Middleton [Eds.]

Titel/Untertitel:

Matthew Henry: The Bible, Prayer, and Piety. A Tercentenary Celebration.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2019. XII, 287 S. m. 6 Abb. Geb. US$ 130,00. ISBN 978-0-567-67021-2.

Rezensent:

Martin Ohst

Matthew Henry, geb. 1662, diente seit 1687 der presbyterianischen Gemeinde in Chester als Prediger, 1712 nahm er dann einen ehrenvollen Ruf nach London an. Durch das viele Sitzen am Schreibtisch war er fettleibig (44) geworden, und so verstarb er 1714 an den Folgen eines Reitunfalls. Sein Kommentarwerk über die gesamte Bibel erfreut sich, wie ein Blick ins Internet zeigt, bis heute in der angelsächsischen Welt bemerkenswerter Beliebtheit. Der hier anzuzeigende Sammelband präsentiert neben einer umfangreichen Bibliographie seiner Schriften, ihrer Drucke und der Sekundärliteratur (245–273) die Beiträge eines Symposiums, das 2014 in Chester zu seinen Ehren stattfand.
Die vier ersten Aufsätze präsentieren die Biographie und ihre Kontexte. Jeremy Gregory stellt »The Church and Nonconformity: The wider World of Matthew Henry« (15–30) dar. Nach der Restauration von 1662 wurde der Versuch aufgegeben, die gesamte Gesellschaft in der bischöflich verfassten, von Krone und Parlament geleiteten etablierten Kirche zu integrieren. Aus den bepfründeten Pfarren, den »livings«, wurden solche Amtsinhaber entfernt, die sich der bischöflichen Ordination oder der Befolgung der liturgischen Ordnung (Book of Common Prayer) widersetzten. Ihnen samt denen, die mit ihnen die sich strikter denn je zuvor konfessionalisierende Kirche verließen, wurde im Gegenzug repressive Toleranz gewährt: Miteinander entstanden die sich profilierende Anglikanische Kirche und der sich ebenfalls institutionalisierende, vielge staltige Dissent, also entschieden Reformierte (Presbyterianer, Kongregationalisten, Independente) sowie Baptisten und Quäker. Die Universitäten blieben den Dissentern ebenso verschlossen wie der Heeresdienst und Ämter in der kommunalen oder regionalen Regierung – ins Unterhaus allerdings konnten sie einziehen, denn hier war nicht Teilnahme am bischofskirchlichen Gottesdienst (conformity) das Ausschlusskriterium, sondern der Besitz (63). Matthew Henrys Vater gehörte zu jenen »expelled ministers«, und der Sohn wuchs in das Milieu des sich verfestigenden Dissent hinein (David L. Wykes, Matthew Henry, Minister and Preacher, 31–46). Seine allgemeine und theologische Bildung erhielt er im Gemeindeleben und im seminaristischen Betrieb von Dissenter-Geistlichen; zwischendurch eignete er sich juristische Grundkenntnisse in London an; die Bedeutung dieser Episode für sein Denken und für seine praktische Tätigkeit wird immer wieder hervorgehoben (35.62.137). Seine Amtstätigkeit war zentriert um die predigende Auslegung der Bibel (41: Abfolge und Ablauf der sonntäglichen Gottesdienste) – in Chester selbst und in einem weiten Umkreis. Die Gemeinde gedieh: Als die Kongregationalisten der Stadt sich nach dem Ableben ihres Predigers ihr anschlossen, musste der Versammlungsraum mit einer Empore versehen werden (38–40). Seit dem Regierungsantritt Jakobs II. 1685 und zumal seit 1688, als seine Tochter Maria und sein Schwiegersohn Wilhelm von Oranien ihn vom Thron verdrängten, verbesserte sich die Situation der Dissenter. Das änderte allerdings nichts daran, dass die Institutionen der etablierten Kirche weiterhin in bestimmten Bereichen die Jurisdiktion über die gesamte Bevölkerung ausübten ( Peter Bamford, ›For the Church or the Stable‹. A Chester Consistory Court Case, 69–80). Nichtsdestotrotz: Toleranz beförderte Integration, und Integration (ver)führte zur Diffusion der Dissenter in der Mehrheitsgesellschaft – das lässt sich nicht erst an den Lebensgeschichten von Henrys Nachfahren ablesen (Clyde Binfield, From Educated Underworld to the Queen’s First Knight: The Henrys in Context, 47–68), sondern auch schon an seiner eigenen Bibelauslegung. Von Henrys Auslegung von Neh 13,13 ff. aus unternimmt Matthew A. Collins (Professors of Religion and their Strange Wives: Diluvian Discord in the Eyes of Matthew Henry, 97–113) einen Streifzug durch das Kommentarwerk: Beginnend mit Gen 6,14 verwendet Henry die biblischen Berichte über desaströse »Mischehen« als Mahnungen an seine Hörer bzw. Leser: Junge Leute sollen keineswegs ihren momentanen Gelüsten folgen, sondern arrangierte Ehen mit religiös gleichgesinnten und -gestimmten Partnern schließen; es ist deutlich: Das Programm der Endogamie der »godly people« soll die Diffusionsgefahr abwehren.
Henrys Bibelauslegung ist organisch aus seiner Predigttätigkeit herausgewachsen – »more than once« (41) hat er die gesamte Bibel in Predigten traktiert. Bei seinem Tode war sein Gesamtkommentar einschließlich der Apg fertig; die Auslegungen von Röm bis Apc wurden aus seinem Nachlass ergänzt (hierzu konzentriert 97, Anm. 1). Als Motto könnte über dieser ganzen Auslegung 2Tim 3,16 stehen: Die Bibel in toto ist das Wort Gottes an seine Gemeinde hier und heute. Predigt und Exegese tun dasselbe: Sie richten ihr dieses Wort aus. Folgerichtig hält sich diese Exegese mit dem hermeneutischen Arbeitsschritt der Fremdsetzung nicht auf. Henry scheint mit den biblischen Grundsprachen vertraut gewesen zu sein, aber seine und seiner Gemeinde Bibel war ganz ungebrochen die King James’ Bible. Die Bibel, die er auslegte, war also von vornherein integraler Bestandteil seiner Sprach-, Vorstellungs- und Gedankenwelt, und das verstehende Einverständnis mit dem Text war immer schon Grundlage der Auslegung. Eigentlich exegetische Be­mühungen, für die Henry die in seinen Bildungskreisen rezipierten gelehrten Kommentare, Kompilationen älterer Auslegungen (88–93; s. auch 158), im Bedarfsfalle eklektisch heranzog, setzten erst dann ein, wenn sich der Textbefund diesem Vorverständnis störend in den Weg stellte, und sie dienten dazu, solche Hindernisse aus dem Wege zu räumen und das harmonische Vertrauensverhältnis des Auslegers zu seiner Bibel zu festigen. Gleich die erste der Fallstudien zu Henrys Exegese ( Stewart Weeks, Matthew Henry’s Commentary in Context. Reading Ecclesiastes, 83–97) zeigt das alles konzentriert. Das Lächeln angesichts der advokatorischen Kunststücke, mit denen er dem weisen Skeptiker das implizite Bekenntnis zur Auferstehung der Toten, zum ewigen Lohn und zu den ewigen Strafen abzwingt (95), gefriert einem allerdings sofort, wenn man daran denkt, wie gegenwärtig Programme der Geschlechtergerechtigkeit und der Gleichwertigkeit sexueller Orientierungen in die Bibel hineingedeutet oder gar -»übersetzt« werden. Zurück zu Henry. Am Schluss gibt Weeks eine schöne Gesamtwürdigung: »Henry’s prose is often compelling, and he is arguably more gifted as a writer than as an exegete, but it is such personal touches that seem in the end to give the work a special quality, as one is drawn into the worldview of a man whose piety becomes unobjectionable, even to the least pious of us, because it is a facet of his reasonable and generous humanity.« (96) Eine weitere Fallstudie geht Henrys Deutung der Zerstörung des 2. Tempels und Jerusalems nach: Die Juden hatten die Zeichen der Zeit ignoriert und halsstarrig am Zerermonialgesetz festgehalten – trotz dessen Abrogation durch das Evangelium (123). Sie dienen damit Henry und seinen Lesern als Verständnisschlüssel für das der Papstkirche wegen ihres Festhaltens am Zeremoniendienst drohende Verhängnis ( Paul Middleton, ›Filling up the Measure of their Sins‹: Matthew Henry on the De­struction of the Jerusalem Temple, 115–131, besonders 128).
Weitere Einsichten in sein Bibelverständnis, aber auch in sein Verständnis von Recht und staatlicher Ordnung eröffnet eine Untersuchung seiner Auslegung von Jos 7 (David J. Chalcraft, 133–151), und über sein Verständnis seines geistlichen Amtes gibt seine Auslegung von Mt 24,45 ff. reichen Aufschluss (Loveday Alexander, 165–186). – Den Übergang zur vierten Sektion des Bandes, der Frömmigkeit und Gebet gewidmet ist, bildet ein Beitrag über Henrys Auslegung von Ps 1: Der Zusammenhang von Gesetzesmeditation, Gesetzestreue und zeitlichem wie ewigem Wohlergehen werde entfaltet im Kontext einer blühenden frühneuzeitlichen Hafenstadt und ihrer vielfältigen Bevölkerung – Exegese und Predigt haben ihren Bezugspunkt in der »everyday person« ( George J. Brooke, 153–164, hier: 163). Mit diesem Stichwort stehen wir bei dem weit ausgreifenden, außergewöhnlich erhellenden Beitrag von Christine Helmer zu Henrys ebenfalls bis in die Gegenwart verwendeter »Method for Prayer« (Prayer and Providence: Matthew Henry and the Theology of the Everyday, 189–202). Sie bestimmt Henrys Ort in der Geschichte des schriftlich formulierten christlichen Gebets in der lateineuropäischen Christenheit: Die durch das mit dem Namen des Hieronymus verbundene Übersetzung zum sprachlich einheitlichen Gesamtkunstwerk ge­formte Bibel, insbesondere der Psalter, formte die Gebetspraxis und die Gebetsliteratur des Mönchtums. Mönchische Gebetskultur strömte mit dem Beginn der Reformation in die Alltagswelt der Laien hinein. Die als Priester ermächtigten und beanspruchten Getauften wurden zum eigenen Beten ermutigt, und es wurden ihnen Sprachformen an die Hand gegeben, die nun nicht mehr den Klosteralltag, sondern das weltlich-alltägliche Leben in der bunten Vielfalt seiner Pflichten und Freuden religiös thematisierten. Indem so auf neue Weise alltägliches Laienleben zum Gegenstand religiöser Deutungen wurde, entstand zugleich ein in solchen Gebeten ausformuliertes Norm- und Idealbild der christlichen Persönlichkeit.
Den Herausgebern und den Autoren, auch denen, die ich nicht namentlich habe nennen können, ist zu gratulieren zu einer Komposition von vorzüglichen Einzelstudien, einem Ganzen, das weitaus mehr ist als eine bloße Summe seiner Teile.