Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2020

Spalte:

782–784

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Scheliha, Arnulf von

Titel/Untertitel:

Religionspolitik. Beiträge zur politischen Ethik und zur politischen Dimension des religiösen Pluralismus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. VII, 403 S. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-156528-1.

Rezensent:

Hendrik Munsonius

Arnulf von Scheliha legt mit diesem Band eine Sammlung von 20 Aufsätzen vor, von denen 17 bereits zwischen 2005 und 2018 an verschiedener Stelle erschienen sind. Sie stehen im thematischen Zusammenhang mit seiner 2013 publizierten »Protestantischen Ethik des Politischen« (vgl. ThLZ 139 [2014], 252–254). Der Band ist in vier Abteilungen zu je vier bis sechs Beiträgen gegliedert.
»Zu den Grundlagen der protestantischen Ethik des Politischen« werden in je zwei Beiträgen die Menschenwürde als »Theoriemagnet« für unterschiedliche ideengeschichtliche Zugänge sowie die Unterscheidung der zwei Regierweisen Gottes als klassischer Topos lutherischer Theologie in jeweils historischer und systematischer Perspektive entfaltet. In zwei weiteren Beiträgen werden die politische Bedeutung konfessioneller Denkmuster im Rekurs auf Schleiermacher, Troeltsch und Tillich sowie die gegenwärtige Rolle der evangelischen Kirche in Auseinandersetzung mit den Konzepten der Öffentlichen Theologie und des Öffentlichen Protestantismus behandelt.
»Zu den christentumstheoretischen Grundlagen des religiösen Pluralismus der Gegenwart« zeigt der Vf., wie grundlegende Konzepte des säkularen modernen Staates sich einerseits auf Impulse des (reformatorischen) Christentums zurückführen lassen oder andererseits von diesem angeeignet werden konnten. Es ist so möglich, die Säkularität des Staates, Menschenwürde und Menschenrechte, Pluralität der Religionen und Toleranz aus christlicher Perspektive als nicht fremd, sondern eigen zu erkennen, wenn dies auch zuweilen erst spät nachvollzogen worden ist. Paradigmatisch nennt der Vf. verschiedentlich die Demokratie-Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1985. Dass geschichtlich auch erhebliche Wandlungen stattgefunden haben und zuweilen ein erhebliches Maß an Responsivität besteht, wird an der Anverwandlung des Nationalismus im 19. Jh. als Legitimationstopos staatlicher Ordnung deutlich. Im Hinblick auf den Islam zeigt der Vf., wie gegenwärtig eine entsprechende Aneignung der Menschenwürde von muslimischen Gelehrten unternommen wird.
»Zur Religionspolitik der Gegenwart« erörtert der Vf. vor allem die religionsbezogenen Wissenschaften und die Etablierung des Faches Islamische Theologie an ausgewählten Universitäten und lotet das Spannungsfeld zwischen gesamtgesellschaftlichem Interesse, staatlicher Lenkung, religionsgemeinschaftlicher Selbst- und Mitbestimmung sowie der Freiheit von Forschung und Lehre aus. Eine tour d’horizon gegenwärtiger Religionspolitik und eine Analyse der religionspolitischen Programmaussagen der im Bundestag vertretenen Parteien schließen sich an.
»Zur Bewährung der protestantischen Ethik in der kirchlichen und politischen Arbeit« werden exemplarisch die Stellungnahme der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Klimawandel, die Herausforderungen der Migration, Entwicklungen des Religionsunterrichts im europäischen Horizont und der Rechtspopulismus behandelt.
Bei aller Vielfalt und Vielschichtigkeit der behandelten Themen zeichnen sich in diesem Band bestimmte Grundgedanken ab, die auch weiterhin fruchtbar gemacht werden können. Im Hintergrund aller Religionspolitik steht die Frage, wie Integration angesichts zunehmender religiös-weltanschaulicher Pluralität möglich ist. Der Vf. misst dabei Scharnierbegriffen wie der Menschenwürde und der Toleranz sowie dem Recht wesentliche Bedeutung zu. Er beschreibt dies als Zivilreligion und versteht sie als »ideelle Schnittmenge zwischen Religionssystem und politischem System, und zwar so, dass im zivilreligiösen Diskurs über die von allen Staatsbürgern geteilten Werteannahmen zugleich die Unterscheidung beider Teilsysteme durch diese selbst vorgenommen wird« (169). Hieran kann mit dem vom Vf. mehrfach angesprochenen Böckenförde-Paradox angeschlossen werden, wonach der freiheitlich-sä­kulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Daraus lässt sich folgern, dass der Staat weder die Pflege der Voraussetzungen in die eigene Hand nehmen noch sie ganz sich selbst überlassen kann. Hiermit ist ein Grunddilemma aller Religionspolitik bezeichnet.
Für die Religionsgemeinschaften ergibt sich daraus die Anforderung, sich die zivilreligiösen Scharnierbegriffe auf der Grundlage der eigenen Tradition anzueignen. Der Vf. zeigt, wie dies für das (reformatorische) Christentum auf der Basis der Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf, von geistlich und weltlich sowie dem Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen möglich ist, und konstatiert eine weitgehende Affinität zum freiheitlichen Verfassungsstaat. Im Hinblick auf den Islam zeigt er Entwicklungen auf, die auf eine vergleichbare Adaption abzielen.
Religionspolitik, wie sie in Deutschland gepflegt wird, setzt das Vorhandensein identifizierbarer Akteure voraus. Der Vf. beschreibt dies als Konfessionalisierung und versteht darunter »die bis auf den Westfälischen Frieden zurückgehenden Maßnahmen in den deutschen Ländern, das Miteinander von Staat und Religionsgemeinschaften und der Religionsparteien untereinander mit den Mitteln des Öffentlichen Rechts zu ordnen und zu pazifizieren. Dabei werden die Religionsgemeinschaften staatsnah und staatsanalog organisiert« (210). Gegenwärtig sei das Bestreben, nach Christentum und Judentum auch den Islam zu konfessionalisieren. So offensichtlich diese Entwicklungen auch sind, will ich dennoch fragen, inwieweit hier ein für das Verhältnis von Staat und Religion spezifisches Problem beschrieben wird oder sich dahinter vor allem der a llgemein zu beobachtende Umstand verbirgt, dass individuelle Interessen besonders dann wirksam werden können, wenn sie in Gemeinschaften gepoolt und organisationsförmig vertreten werden. Dann ist möglicherweise auch statt von Staatsanalogie schlicht von Organisationserfordernissen zu sprechen, wie sie in ähnlicher Weise auch in anderen gesellschaftlichen Feldern zu be­obachten sind.
Ein Problem dieser Konfessionalisierung besteht jedenfalls darin, dass so die innerkonfessionelle Pluralität und Diversität leicht verdeckt werden kann. Die Religionsgemeinschaften stehen vor der doppelten Herausforderung internen wie externen Pluralitätsmanagements. Hinzu kommt, dass im Konfessionalisierungsparadigma die Religiosität außerhalb organisierter Religionsgemeinschaften nicht oder nur unzureichend erfasst wird. Ein weiteres Desiderat, das beim Vf. nur sporadisch angesprochen wird, wäre darum die Frage nach dem Umgang mit der wachsenden Zahl derjenigen, die sich in religiös-weltanschaulicher Hinsicht nicht erkennbar po­sitionieren und sich desinteressiert zeigen.
Insgesamt zeigt der Vf. eindrücklich, wie durch theologiegeschichtlich informierte systematische Analysen differenzierte Antworten auf Gegenwartsfragen entwickelt werden können, und bietet so auch Ansatzpunkte für künftige Fragestellungen. Dabei wird stets das Bewusstsein für bestehende Ambivalenzen und Kontingenzen wachgehalten – meines Erachtens gerade in der Religionspolitik ein ganz wesentlicher Aspekt.